Forschung:Gottes Arm aus dem Frontalhirn

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Für manche Menschen mit Hirndefekten verlieren Kategorien wie richtig oder falsch, gut oder schlecht ihre Bedeutung. Wissenschaftler bestimmen mit ihrer Hilfe, wo sittliches Handeln neurobiologisch verankert ist.

Von David Höhn

Herr X. versteht die Welt nicht mehr. Und seine Umgebung ihn nicht. Seit einigen Jahren stiehlt der 66-Jährige. Nicht etwa, weil er das nötig hätte: Die meisten Gegenstände, die Herr X. entwendet, sind relativ wertlos.

Michelangelos Bild in der Sixtinischen Kapelle: Gott erweckt Adam. (Foto: Foto: AP)

Herr X. leidet an einer so genannten frontotemporalen Demenz. Er selbst kann nicht verstehen, wieso sich andere Menschen über sein Verhalten ärgern.

"Die Interessen, Wünsche oder Absichten der sie umgebenden Menschen nehmen solche Patienten im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr wahr. Sie haben die Fähigkeit dazu verloren", sagte Janine Diehl, Psychiaterin am Klinikum der Technischen Universität München, auf einem Symposium in München über die neurobiologischen Grundlagen sittlichen Handelns.

Patienten wie Herrn X. ist etwas abhanden gekommen, was für gesunde Menschen im Alltag so selbstverständlich ist, dass sie keinen Gedanken daran verschwenden: das Verständnis dafür, dass andere Menschen eigene Überzeugungen, Vorstellungen, Wünsche, eben ein eigenes geistiges Innenleben, besitzen.

Theory of Mind (Theorie des Geistes) nennen Psychologen dieses für das menschliche Zusammenleben so grundlegende Vermögen. "Kinder entwickeln diese Fähigkeit im Alter zwischen drei und fünf Jahren", sagte die Psychologin Beate Sodian von der Universität München.

Untersuchen können Forscher dies beispielsweise, indem sie Kindern eine Abfolge von Comicbildern zeigen - zum Beispiel die Schokoladengeschichte:

Max und die Schokolade

Darin ist zunächst der kleine Max zu sehen, der eine Tafel Schokolade in eine Kommode legt. Im nächsten Bild hat Max das Zimmer verlassen. Seine Mutter kommt herein, nimmt die Schokolade aus der Kommode und legt sie in einen Schrank. Dann verlässt sie den Raum und Max kommt zurück.

Nun wird die entscheidende Frage gestellt: Wo wird Max nach der Schokolade suchen? "Im Schrank", antworten die meisten Kinder im Alter von unter vier Jahren und orientieren sich damit ausschließlich an der Realität.

Es ist ihnen noch nicht möglich, Max' "falsche" Überzeugung, dass sich die Schokolade in der Kommode befinden muss, in ihre Entscheidung miteinzubeziehen.

"Inzwischen weiß man, dass auch bei einigen psychiatrischen Erkrankungen Defizite in der Theory of Mind bestehen", sagte Hans Förstl, Direktor der Psychiatrischen Klinik der TU München und Ausrichter des Symposiums.

Evolutionär erworbene Pufferzone

Schon seit längerem bekannt sind solche Defizite beim Autismus, jener Erkrankung mit eingeschränkter sozialer Kontaktfähigkeit. "Aber auch schizophrene oder depressive Patienten haben Defizite in der Theory of Mind", erklärt Förstl.

"Solche Defizite betreffen nicht nur die Wahrnehmung der Gedanken anderer Menschen, sondern auch die der eigenen Gedanken", ergänzt Harald Gündel, Psychosomatiker an der TU München. "Wir gehen davon aus, dass die Fähigkeit, über eigene geistige Zustände nachzudenken, eine Art evolutionär erworbene Pufferzone gegen psychischen Stress darstellt."

Wird seelischer Stress nicht richtig abgefedert, indem die Person in der Lage ist, ihren eigenen Geisteszustand zu reflektieren, so die noch spekulative Theorie, bahnt er sich den Weg über den Körper: Krankheitssymptome wie Schmerzen, Tinnitus oder Asthma sind die Folge. "In einer Psychotherapie kann man lernen, eine solche Pufferzone wiederherzustellen", sagt Gündel.

Eine Art Gottes-Beweis

Herrn X., dem Patienten, der plötzlich mit dem Stehlen begonnen hat, würde eine Psychotherapie jedoch kaum helfen: Bei der frontotemporalen Demenz kommt es ähnlich wie bei der Alzheimer-Krankheit zu einem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen im Gehirn.

Dieser findet besonders in zwei Bereichen statt: im Schläfenlappen und im Stirnhirn, dem frontalen Kortex. Eben hier liegt ein Areal, das für die Theory of Mind eine entscheidende Rolle spielt, der so genannte ventromediale präfrontale Kortex.

"Patienten mit Störungen im Bereich des frontalen Gehirns können es ihrer Umwelt ziemlich schwer machen", sagt die Psychiaterin Diehl. "Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, geht verloren. Und somit eine wichtige Grundlage für moralisches Handeln. Kategorien wie richtig oder falsch, gut oder schlecht verlieren ihre Bedeutung."

Sitzt also die Moral im ventromedialen präfrontalen Kortex? Als Antwort zeigte Förstl ein Bild - die "Erschaffung Adams", das berühmte Fresko Michelangelos aus der Sixtinischen Kapelle in Rom, auf dem Gott Adam durch Berührung mit seinem Arm zum Leben erweckt.

"Wenn Sie sich den Hintergrund der Gottesfigur genau anschauen, werden Sie feststellen, dass Gott hier auf einem großen Gehirn ruht. Und dreimal dürfen sie raten, aus welcher Gehirnregion sein Arm entspringt."

© SZ vom 3.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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