Ceausescus Kinder:Ein neues Leben

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Rumänische Kinder, die unter Ceausescu verwahrlost in Waisenhäusern aufwuchsen, profitieren von der Aufnahme in Familien.

Christopher Schrader

Nicolae Ceausescu hatte seine eigenen Vorstellungen davon, was einem Land und seinen Kindern gut tut. Zu Zeiten des rumänischen Diktators überwachte eine Art Menstruationspolizei das Abtreibungsverbot.

Die Frauen sollten möglichst viele Kinder bekommen und sie dann dem Staat überlassen; der wollte die Kleinen zu nützlichen - und gefügigen - Mitgliedern der Gesellschaft machen. Die Folge dieser Politik war eine menschliche Katastrophe. Als Ceausescu 1989 gestürzt und erschossen wurde, erfuhr die Welt von den mehr als 100.000 verwahrlosten und oft in ihrer Entwicklung zurückgebliebenen Kindern in den rumänischen Waisenhäusern.

"Den Kindern hat die emotionale und soziale Zuwendung gefehlt", sagt Nathan Fox von der University of Maryland, "das hat zu massiven Störungen geführt."

Viele Familien in westlichen Ländern nahmen Kinder aus rumänischen Waisenhäusern auf und mussten feststellen, dass sie nicht mit ihnen zurecht kamen: Sie waren in sich gekehrt, verstört, aggressiv. Nur wenige Monate in den Waisenhäusern hatten gereicht, um die Kinder fürs Leben zu schädigen.

Vor diesem Hintergrund haben vier amerikanische Professoren vor einiger Zeit eine exemplarische Studie begonnen. Fox ist einer von ihnen. Die Wissenschaftler haben Kinder aus Waisenhäusern in Bukarest in rumänische Pflegefamilien gegeben und ihr Schicksal dort verfolgt.

Die Kleinen machten erstaunliche Fortschritte, wie die Forscher jetzt auf der Jahrestagung der amerikanischen Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaften in St. Louis berichtet haben. Die Kinder wuchsen kräftig, holten Defizite in der Entwicklung nach und legten auffälliges Verhalten ab. "Allerdings half die Unterbringung in Pflegefamilien vor allem den jüngeren Kindern und den Mädchen", sagt Fox.

Der Faktor, der der Studie besondere Aussagekraft verleiht, weckt zugleich besondere ethische Bedenken. Die Forscher hatten bei 136 Kindern im Alter von sechs bis 31 Monaten das Los entscheiden lassen, wer in eine Pflegefamilie kam und wer im Heim bleiben musste.

Dieses harte Verfahren wurde nur durch zwei Bedingungen abgefedert: Kein Kind sollte nach der Studie zurück ins Heim müssen, und niemand würde es im Interesse der Datensammlung verhindern, wenn eines der Zurückgelassenen die Chance bekäme, das Waisenhaus zu verlassen.

Für das Auslosen gab es sowohl pragmatische wie inhaltliche Gründe: "Wir hatten einfach nicht genügend Familien", sagt Charles Zeanah von der Tulane University in New Orleans. "Außerdem hat es noch nie eine kontrollierte Studie über Pflegefamilien gegeben. Wir wussten also zwar, dass das Leben im Heim nicht gut für die Kinder ist, aber nicht, ob die Pflegefamilie wirklich besser ist."

Allerdings haben die Forscher dann viel für die Qualität der Pflege getan. Alle Familien wurden geschult und regelmäßig von Sozialarbeitern besucht, die sich ihrerseits einmal pro Woche per Videokonferenz mit dem Expertenteam in den USA berieten.

Für die 67 Kinder, die im Heim bleiben mussten, änderte sich nichts: Die meist schlecht ausgebildeten Pflegerinnen kümmerten sich im Schichtbetrieb um jeweils 12 bis 15 Zöglinge. Beide Gruppen wurden zudem mit Kindern aus Bukarest verglichen, die bei ihren Eltern aufwuchsen.

Die Studie begann im Jahr 2001 mit einer erschreckenden Bestandsaufnahme. Als die Entwicklung der Kinder in sechs Heimen erfasst wurde, erreichten sie im Durchschnitt Werte um 60 Prozent - normale Kinder liegen zwischen 85 und 115. Der IQ, der bei Kindern auch die altersgerechte geistige Reife misst, lag ebenfalls bei 60, normal sind 100. Während von den Kindern, die im Elternhaus aufwachsen, in Bukarest wie in den USA knapp jedes fünfte Verhaltensauffälligkeiten zeigen, war es in den Heimen fast jedes zweite.

Alle Kinder waren zu Beginn der Studie zu klein und zu leicht - die normalen Skalen der Kinderärzte reichten nicht, um ihren Zustand zu beschreiben. "Wenn Kindern der emotionale Kontakt fehlt, dann wachsen sie einfach nicht", sagt Dana Johnson, ein Kinderarzt von der Universität von Minnesota. "Anfangs bekommen sie nicht genug zu essen oder die Nahrung wird lieblos in den Mund gestopft. Später funktioniert dann das System der Wachstumshormone nicht mehr."

So sind die Kinder bisweilen nur halb so groß, wie es dem Alter entspräche: Johnson zeigte das Bild eines Mädchens, das wie eine mangelernährte Neunjährige wirkt, aber in Wirklichkeit 17 Jahre alt ist. Dieses Minderwachstum, sei so charakteristisch für gravierende Mängel in der Betreuung, dass man die Qualität der Pflege mit dem Metermaß bestimmen könne.

In den Familien hingegen blühten viele der Kinder auf. Sie erreichten nach 18Monaten eine fast normale Körpergröße. Und als die Forscher bei den Kindern im Alter von jeweils 42 Monaten die Entwicklung maßen, hatten die Mädchen einen Wert von 90 und die Jungen einen von 82 Prozent erreicht.

Auch die Kinder, die im Heim geblieben waren, machten allerdings Fortschritte: Weil ihre Gruppen zunächst etwas kleiner geworden waren, hatte sich wohl die Betreuung etwas verbessert. Außerdem wurden einige adoptiert, andere von ihren biologischen Eltern wieder aus dem Heim geholt. Der Unterschied zwischen den beiden ausgelosten Gruppen unterschätzt also den Effekt der Pflegefamilien eher.

Auch die Intelligenz nahm zu, im Alter von 54 Monaten war der IQ bei Mädchen auf 76 und bei Jungen auf 70 gestiegen, die Heimkinder hatten dagegen kaum zugelegt. In anderen Aspekten profitierten allerdings nur manche der Kinder, zum Beispiel in ihrem sozialen Umgang. Etliche Heimkinder waren in sich gekehrt, suchten weder Trost noch nahmen sie ihn an. Andere waren übermäßig freundlich und zeigten keinerlei Scheu vor Fremden.

Für Kinderpsychiater sind das zwei Formen der gleichen Störung: Die Kinder finden nicht die richtige Mitte. Das änderte sich bei den Kindern in den Pflegefamilien nur dann deutlich, wenn sie 22 Monate alt oder jünger waren, als sie das Heim verließen. "Die Älteren profitierten kaum, offenbar gibt es da so etwas wie eine sensitive Phase, die dann endet", sagt Charles Zeanah. Bei Verhaltensproblemen profitierten vor allem die Mädchen. Die Aggressivität der Jungen hingegen nahm kaum ab.

Für Dana Johnson ist klar: "Stecken Sie niemals ein Kind ins Heim", sagt er, "das ist Kindesmissbrauch. Länger als ein paar Tage im Notfall sollte man das keinem Kind zumuten." Alle vier Forscher haben offenbar ein schlechtes Gewissen, dass sie zunächst 67 Kinder im Heim zurückließen; sie betonen immer wieder, dass im Dezember 2005 nur noch 17 von ihnen im Heim waren. Die Situation in Rumänien sei inzwischen deutlich besser.

Allerdings lebten in ganz Europa unerwartet viele Kinder in solchen Institutionen. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2003 waren es damals 23000. Davon 1500 in Deutschland, also sieben von jeweils 10000 Kindern. An der Spitze lag Tschechien, wo 60 von 10000 Kindern in Waisenhäusern aufwuchsen. Zweiter war Belgien - 56 von jeweils 10000 Kindern wurden dort in Heimen verwahrt.

© SZ vom 21.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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