Bilingualität:Polyglott Plaudern

Die Vorurteile über Mehrsprachigkeit halten sich hartnäckig. Dabei sind sich Forscher einig, dass Kinder von klein auf bilingual aufwachsen können. Wichtig ist, wie angesehen die Sprachen sind.

Von Astrid Viciano

Andréa Menescal Heath hätte am liebsten die ganze Welt zu Besuch, in ihrer Vierzimmerwohnung im Münchner Westen. Die Freunde aus Venezuela, die Bekannten ihres Mannes aus Japan, den Patenonkel ihrer Kinder aus Italien. Um Menschen und Kulturen zusammen zu bringen. Um immer neue Sprachen in das Leben ihrer Familie zu tragen. Wie ein Jongleur, der mit der Zeit stets mehr Bälle in die Luft wirft. Und dem kein einziger entgleitet.

Die Brasilianerin hat das Zimmer ihrer beiden Kinder in den Landesfarben ihrer Heimat gefärbt, in der Küche steht italienisches Olivenöl, vor der Wand in toskanischem Gelb. "Wir verbringen viel Zeit in Florenz", berichtet Menescal Heath. Damit die Kinder gut Italienisch lernen. Zusätzlich zum Portugiesischen, das sie ohnehin mit ihrer Mutter sprechen. Und dem Deutschen, das ihnen der badische Vater beibringt. Zum Muttertag hat die Tochter Lydia ihrer Mama eine Grußkarte auf Englisch geschrieben, seit vier Jahren kommt jeden Mittwoch die britische Lehrerin Alison zu ihr nach Hause. "Unsere Kinder sind sehr offen für neue Wörter und Klänge", sagt Menescal Heath. Die Kleinen sind acht und neun Jahre alt.

Längst pflegt Andréa Menescal Heath einen Umgang mit Sprache, den es für andere noch zu entdecken gilt. Als würden andere noch schlummern und ihre Familie sei längst aufgewacht: "Mehrsprachigkeit ist in unserer Gesellschaft schon Normalität", sagt Claudia Maria Riehl, Leiterin des Instituts für Deutsch als Fremdsprache in München.

In Deutschland leben mehr als neun Millionen Ausländer, weitere sieben Millionen Menschen haben einen Migrationshintergrund, so die aktuellsten Zahlen aus dem vergangenen Jahr. "Und die Flüchtlinge bringen derzeit noch einen neuen Reichtum an Sprachen mit", sagt Albrecht Plewnia, Leiter des Programmbereichs "Sprache im öffentlichen Raum" des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Allein in München sind etwa die Hälfte der Kinder unter sechs Jahren mehrsprachig, so die Zahlen aus dem interkulturellen Integrationsbericht.

Kurz nach der Jahrtausendwende hatten die Regierungschefs der EU bereits zum Ziel erklärt, dass künftig alle Europäer von Kindesbeinen an drei Sprachen beherrschen sollen. Doch fürchten manche Eltern noch immer, ihren Nachwuchs mit mehreren Sprachen zu überfordern. Hartnäckig hält sich das Vorurteil, dass die Kleinen dann womöglich keine Sprache richtig lernen, dass die zweite Sprache sie daran hindert, richtig Deutsch zu lernen.

So riet zum Beispiel die Erzieherin eines Münchner Kindergartens einer anderen Brasilianerin, mit der zweijährigen Tochter lieber Deutsch als Portugiesisch zu sprechen, so berichtet Menescal Heath. "Eltern sollten besser in ihrer Muttersprache mit ihren Kindern reden anstatt in einer fremden Sprache, in der sie selbst Fehler machen", sagt Menescal Heath, die als Referentin an der internationalen Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit der Ludwig-Maximilians-Universität München andere mehrsprachige Familien begleitet.

Begeistert sieht Andréa Menescal Heath seit Jahren zu, wie Tochter und Sohn die verschiedenen Sprachen gleichzeitig lernen. "Kinder sind mit nur einer Sprache eigentlich unterfordert", sagt der Sprachwissenschaftler Jürgen Meisel von der University of Calgary. In weiten Teilen Asiens und Afrikas wie Südamerikas beherrschen die Menschen viele verschiedene Sprachen, allein in Nigeria werden mehr als 400 im Alltag verwendet; im Amazonasbecken sollen es gar 600 sein.

Wenn Menschen mehrere Sprachen von Geburt an hören, fällt ihnen das Lernen besonders leicht. Forscher gehen nämlich von bestimmten Zeitfenstern aus, zu denen sich Kinder Aussprache und auch Aspekte der Grammatik besonders gut aneignen. So können zum Beispiel einsprachige japanische Säuglinge schon am Ende des ersten Lebensjahrs zwischen den Konsonanten L und R keinen Unterschied mehr hören - weil es für das Erlernen ihrer einzigen Muttersprache unnötig ist. Und wenn Kinder erst mit drei oder vier Jahren eine zweite Sprache lernen, tun sie sich mit manchen Aspekten der Grammatik etwas schwerer als von Geburt an bilinguale. "Im Alter von acht bis zehn Jahren gehen Kinder dann wie Erwachsene an eine Fremdsprache heran", sagt Meisel.

Daher sollten Kinder frühzeitig viele Sprachen hören, in sie eingetaucht werden wie ein Schwamm in verschiedene Farbtöpfe. "Das stellt den erfolgreichsten Weg dar", sagt Meisel. Andréa Menescal Heath zum Beispiel spricht zu Hause nur in ihrer Muttersprache mit den Kindern, der Vater stets in der seinen. "Da sind wir sehr konsequent", sagt Menescal Heath. Und verbringen so den gesamten Alltag, auf natürliche Weise eingehüllt in die verschiedenen Sprachen.

Mehrsprachigkeit ist kein Spiel, das Eltern nach zwei Jahren wieder abbrechen können, weil es zu anstrengend wird

Allerdings berät der Romanist Meisel zunehmend auch rein deutsche Ehepaare. Die eine Fremdsprache besonders gut beherrschen, die sich wünschen, ihrem Nachwuchs das Idiom weiterzugeben. "Aus sprachwissenschaftlicher Sicht spricht da nichts dagegen", sagt Meisel. Doch sollten Eltern sich ihrer Sache sicher sein. Sollten sich zutrauen, Kosenamen und Kinderreime, Ermutigungen und Ermahnungen künftig in der fremden Sprache auszudrücken. "Das Ganze ist kein Spiel", warnt Meisel. Denn die Sprache werde zu einem Teil der Persönlichkeit. Daher sollten Eltern ihr Vorhaben nicht nach zwei Jahren wieder aufgeben, weil es ihnen zu anstrengend wird. Und sie sollten darauf achten, dass die Kinder mit Muttersprachlern in Kontakt kommen und die Kultur des Landes kennen lernen.

Ihren Nachwuchs stattdessen nur einmal pro Woche zu einem Sprachkurs zu fahren, bringt dagegen wenig. "Kinder müssen eine Sprache häufig genug hören, um sie zu lernen", sagt Natascha Müller, Sprachwissenschaftlerin an der Bergischen Universität Wuppertal.

Um ganz sicher zu gehen, geben manche Eltern ihren Nachwuchs in bilinguale Kindergärten wie zum Beispiel die Einrichtung Infanterix am Münchner Westpark. Im hellen Gruppenraum liegt ein Weltatlas so groß wie ein Vorschulkind, die Flaggen Argentiniens, Schwedens und Frankreichs hängen an den Wänden, mit Buntstiften von Kinderhänden gezeichnet. Der Vater der vierjährigen Adele erzählt heute über die Schweiz, schneidet ein Stück Käse in Würfel, verteilt Schokolade. Spricht er von den Alpen, redet die Erzieherin Marion Bouquet von "les alpes", schwärmt davon wie "délicieux" die Schokoladenstückchen sind. Und fragt die Kinder auf Französisch, wie denn die Hauptstadt ihres Heimatlandes heißt. Seit vier Wochen machen Erzieherinnen und Kinder eine Reise um die Welt, in der vergangenen Woche hat eine iranische Mutter den Kleinen vom persischen Neujahrsfest erzählt. "Die Kinder lernen bei uns andere Kulturen kennen, werden zu weltoffenen Menschen", erklärt Bouquet.

Die multilinguale Erziehung bringt Vorteile mit sich, die deutlich über den rein sprachlichen Nutzen hinausgehen

In neun Einrichtungen bietet Infanterix in München 530 Betreuungsplätze an, am Westpark für 870 Euro pro Monat, für einen Krippenplatz von fünf Stunden. "Bei manchen Plätzen passen wir die Gebühr auch an, je nach Einkommen der Eltern", sagt Benjamin Tajedini, Geschäftsführer der Einrichtungen. Damit auch weniger wohlhabende Familien davon profitieren können.

Denn Wissenschaftler preisen längst Vorteile der Mehrsprachigkeit an, die über den sprachlichen Nutzen hinausgehen. Dass sich zweisprachige Kinder in Gesprächen besser in die Ansichten der anderen hineinversetzen können als einsprachige, berichteten zum Beispiel Forscher der University of Chicago im vergangenen Jahr. Dass sich sogar Säuglinge im Alter von 14 bis 16 Monaten bereits darin unterscheiden, zeigte vor Kurzem eine weitere Untersuchung. Und dass bilinguale Menschen mehr graue Hirnsubstanz in jenen Bereichen vorweisen, die an der Sprachverarbeitung oder deren Kontrolle beteiligt sind. Zum Beispiel im Frontalhirn, das dem Menschen unter anderem erlaubt, seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aufgabe zu fokussieren. "Frühere Studien zeigten bereits, dass sich zweisprachige Menschen womöglich schwerer ablenken lassen als einsprachige. Ob dem wirklich so ist, können wir jedoch nicht sicher sagen", sagt der Psychologe Albert Costa von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, der selbst jahrelang daran gearbeitet hat.

Dagegen wissen die Forscher seit Langem, dass Mehrsprachige in den einzelnen Sprachen einen etwas kleineren Wortschatz besitzen als Einsprachige. Und dass sie manchmal etwas länger brauchen, um das passende Wort zu finden. "In der Praxis sind diese Unterschiede aber minimal", sagt Costa. Sie erlaubten es vor allem den Wissenschaftlern, die Sprachverarbeitung im Gehirn besser zu verstehen.

Viel größeren Einfluss auf die Sprachkompetenz hat dagegen, wie die jeweilige Sprache bewertet wird. So beschloss zum Beispiel die Deutsche Sandra Villar mit ihrem amerikanischen Mann vor Jahren, dass sich ihre älteste Tochter Elisa zusätzlich zum Deutschen und Englischen noch Hocharabisch aneignen sollte. Um diese komplexe Sprache fast mühelos von klein auf zu lernen. "Wir wurden deswegen nicht angefeindet. Doch müssen wir oft erklären, warum sie ausgerechnet Arabisch lernen muss", sagt die Mutter. Für das Englische musste sich Villar dagegen nicht rechtfertigen. "Hier werden nicht die Sprachen bewertet, sondern Vorurteile über die Sprecher transportiert", sagt Ingrid Gogolin, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hamburg.

Schon Umfragen unter deutschen Schülern ergaben, dass Sprachen wie Spanisch oder Französisch sympathischer bewertet wurden als zum Beispiel Russisch oder Türkisch. "Das ist psychologisch fatal für die Kinder, für deren Selbstbewusstsein", sagt die Münchner Linguistin Riehl.

Sie empfiehlt sogar, eher Russisch, Arabisch oder Türkisch als Zweitsprache zu lernen als Englisch. "Dann haben die Kinder von klein auf zwei sehr unterschiedliche, komplizierte Sprachsysteme verstanden", sagt sie. Zumal Studien längst gezeigt haben, dass Zweisprachige später in einer dritten Sprache ein höheres Niveau erreichen als einsprachige Menschen. Wenn sie Deutsch und Russisch gut beherrschen, ist Englisch für sie also ein Leichtes.

Wobei allerdings oft eine der beiden Muttersprachen stärker ist als die andere - je nach Umgebung und Förderung. "Es ist so, als würde ich mal den einen Baum gießen, mal den anderen. Das ist mit viel Aufwand verbunden", sagt die Brasilianerin Menescal Heath. Im letzten Urlaub in Griechenland zum Beispiel erzählte ihr Mann auf Deutsch über den Tempel des Zeus, sie hatte sich zuvor auf Portugiesisch über die ersten olympischen Spiele eingelesen. Und vor jedem Italienurlaub sucht sie für die Kinder in Florenz einen Malkurs, auf Italienisch.

Inzwischen lernen Tochter und Sohn auch, in den verschiedenen Sprachen zu lesen und zu schreiben. "Das ist enorm wichtig", sagt die Linguistin Riehl. Denn in der Literatur wird ein anderer Wortschatz als in der Alltagssprache verwendet, komplexe Nebensätze kommen zum Einsatz, die in einem normalen Gespräch unpassend wären. "Ohne diese Förderung bleiben die Kinder auf dieser Ebene einsprachig. Und sprechen im Alter von 20 Jahren mit dem Vokabular eines Achtjährigen", sagt Riehl.

Allerdings können auch monolinguale Erwachsene eine Sprache noch sehr gut lernen. "Das ist vor allem eine Frage der Motivation", sagt Riehl. Und die ist bei Andréa Menescal Heath außergewöhnlich stark ausgeprägt. Sie hat neben Deutsch auch Italienisch und Englisch als Fremdsprache gelernt, kann auf Französisch lesen und sich auf Spanisch verständigen.

Ihren Kindern will sie mit den Sprachen die Welt zu Füßen legen, auf unverkrampfte, fürsorgliche Art und Weise. Dafür hat Menescal Heath gerade ein Spiel gekauft, das ihrer Familie Russisch beibringen soll. Denn sie möchten gern demnächst gemeinsam nach Russland reisen.

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