Bildung:Was passiert mit einem Schokokuss im Weltall?

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Kinder sind geborene Ingenieure - aber für einen guten naturwissenschaftlichen Unterricht fehlen oft die elementarsten Voraussetzugen. Mit neuen Methoden wollen Pädagogen den starren Frontalunterricht aufbrechen und die Schüler zu Eigeninitiative ermutigen.

Karin Michaelis und Annett Wieking

Kinder fragen und forschen, bauen und basteln mit größter Begeisterung und Ausdauer. Doch irgendwann in ihrer Schulzeit geht dieses Können, ja sogar das Interesse verloren. Mit den Auswirkungen hat die Wirtschaft zu kämpfen.

"Schon heute können 15.000 Ingenieurstellen nicht besetzt werden," warnt Michael Kussmann vom Verein deutscher Ingenieure (VDI). Eine Besserung ist nicht in Sicht: 2004 haben etwa 2000 junge Leute weniger als ein Jahr zuvor ein Studium der Ingenieurwissenschaften begonnen.

2005 setzte sich dieser Trend fort. Der Mangel besteht nicht nur bei den Ingenieuren, auch für andere technische Berufe wie Elektroniker, Industriemechaniker und Mechatroniker gibt es zu wenig Interessenten. "Wir finden nicht genügend Jugendliche", klagt Volker Grotensohn, Leiter der Ausbildung bei ThyssenKrupp Steel.

Zwar gibt es jährlich 20mal mehr Bewerber als Ausbildungsplätze, doch die meisten drängen in kaufmännische und IT-Berufe. Die Jugendlichen, die sich für andere Ausbildungen bewerben, schneiden häufig bei den Tests - Rechnen, physikalisch-technische Aufgaben, logisches Denken, Konzentrationsfähigkeit - so schlecht ab, dass sie nicht geeignet seien, fügt Grotensohn hinzu.

Die gleiche Sprache sprechen TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Student Assesment). In den internationalen Vergleichsstudien landete Deutschlands Nachwuchs in den Naturwissenschaften glanzlos im Mittelfeld. Noch erschreckender:

Deutsche Schüler können zwar leidlich Gleichungen lösen, ihnen fehlt aber das Verständnis für ihr Tun. Sie haben Probleme, ihr Wissen in Alltagssituationen anzuwenden. Fast ein Viertel der in PISA 2003 getesteten 15-Jährigen bringt sehr ungünstige Voraussetzungen mit, um sich weiter mit den Naturwissenschaften auseinander zu setzen - sei es in Schule, Beruf oder Alltag. Mathematik und Naturwissenschaften werden zudem als uninteressant oder gar abschreckend empfunden.

Vieles läuft in den Jahren, die die Kinder in der Schule verbringen, schief. An den Kindern liegt es nicht. Gerade die Grundschüler stellen Fragen: Wieso springt ein Ball? Warum ist der Schatten einmal groß und einmal klein? Was passiert mit einem Schokokuss im Weltall? Sowohl Mädchen als auch Jungen in diesem Alter interessieren sich für die unbelebte Natur und wollen einzelne Dinge, aber auch komplexe Zusammenhänge, verstehen.

Und sind dazu bereits in der Lage.

"Grundschüler können bei angemessener Unterstützung ein Verständnis aufbauen, das im Vergleich zu ihrem intuitiven Wissen eine Weiterentwicklung in Richtung wissenschaftlicher Konzepte darstellt", sagt Professorin Kornelia Möller vom Seminar für Didaktik des Sachunterrichts der Universität Münster. In verschiedenen Untersuchungen hat sie herausgefunden: Schon Grundschüler können sich mit naturwissenschaftlichen Phänomenen beschäftigen und gehaltvolle Theorien entwickeln.

Das setzt allerdings voraus, dass die Neugier der Kinder geweckt wird. Wieso rutscht der Nagel auf der Pappe hin und her, obwohl ich ihn nicht (sondern ein Magnet) bewege? Warum schwimmt ein großes, schweres Schiff aus Eisen, während ein Stück Eisen untergeht? "Kinder sollten unerwartete Erfahrungen im Umgang mit der belebten und der unbelebten Umwelt machen, die ihren Intuitionen widersprechen", rät Professorin Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Mit gezielter Hilfe können Grundschüler selbst Erklärungen für diese Ereignisse erarbeiten. Wenn sie das Gelernte anwenden und weitere Phänomene verstehen, erleben sie Kompetenz und Lernzuversicht.

Der Mangel an Zeit und Raum

Ein solcher Unterricht braucht indes Zeit, Materialien für Experimente und vor allem kompetente Pädagogen. Und daran hapert es in deutschen Grundschulen. Es gibt zwar das Fach Sachunterricht, in dem naturwissenschaftliche Bildung "grundgelegt" werden soll, allerdings bleibt dafür nicht viel Raum.

Denn neben Aspekten der Physik, Chemie, Biologie und Technik sollen die Lehrer auch Wissen aus Geographie, Geschichte und Sozialwissenschaften vermitteln. Untersuchungen zu Lehrplänen zeigen, dass Ende der 90er Jahre Physik und Technik zusammen nicht einmal zehn Prozent des Lehrstoffs ausmachten.

In einigen Klassen haben die Pädagogen den Lehrplan schlicht ignoriert und Physik, Chemie sowie Technik überhaupt nicht unterrichtet. Der Grund: Die Sachunterricht-Lehrer scheuen vor den "harten" Naturwissenschaften zurück, oft weil ihnen selbst dafür das professionelle Wissen fehlt.

An vielen Studienorten haben sie die Wahl zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem gesellschaftlichen Lernbereich - und entscheiden sich häufig für den letzteren. Wer die Naturwissenschaften wählt, bevorzugt meist Biologie.

"Der Anteil der Lehrkräfte, der in der Aus- und Fortbildung keine oder kaum Kontakte mit Physik gehabt hat, ist erschreckend hoch. Ein großer Teil der Befragten gibt an, physikbezogene Veranstaltungen explizit gemieden zu haben", berichtet Kornelia Möller von einer Lehrer-Befragung in Nordrhein-Westfalen.

Um technische Themen steht es noch schlimmer: 90 Prozent der Befragten sind während der eigenen Ausbildung und im Beruf wenig bis überhaupt nicht damit in Berührung gekommen.

Das muss sich ändern, meint die Didaktikerin Möller. Sie fordert Einführungskurse in Naturwissenschaften und Technik für alle künftigen Sachunterricht-Lehrer. "Entsprechende Angebote sollten mindestens als Wahlpflichtelement in die Lehrerausbildung aufgenommen werden."

Wenn die Grundschüler Glück hatten und kompetente Lehrer sie an naturwissenschaftliches Denken und Technik herangeführt haben, folgt gleich das nächste Problem: Sie haben mitunter Jahre lang nichts mehr damit zu tun. Der Sachunterricht endet in der vierten Klasse, Physik setzt - je nach Schultyp und Bundesland - erst in der sechsten oder siebenten, Chemie manchmal sogar erst in der neunten Klasse ein.

"Damit wird wichtige Zeit vertan, in der die Schüler den Naturwissenschaften gegenüber noch aufgeschlossen sind", erklärt Professor Manfred Prenzel vom Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) an der Universität Kiel, der auch den Bereich Naturwissenschaften des deutschen PISA-Konsortiums leitet.

Problem erkannt

Inzwischen haben viele Bundesländer das Problem erkannt und bemühen sich die naturwissenschaftliche Bildung zu verbessern, informiert die Kultusministerkonferenz. Eine Reihe von Ländern hat für die Klassenstufen 5 und 6 ein entsprechendes Fach eingeführt. Das kann einfach "Naturwissenschaften" heißen wie in Berlin und Hamburg oder "Natur und Technik" wie an den bayerischen Gymnasien.

Der Technik-Unterricht komme an den Schulen zu kurz, in den Gymnasien einiger Länder fehle er völlig, beklagt der VDI. In einem solchen Fach gehe es eher um die praktische Gestaltung als um Theorie, meint Michael Kussmann, zuständig für den Bereich "Technik und Bildung" beim VDI.

Wenn zum Beispiel Schüler eine Solaranlage installieren und betreiben sollen, dann müssen sie natürlich wissen, wie Lichtenergie in elektrische Energie umgewandelt wird. Aber dazu gehört noch viel mehr: Da müssen Konstruktionen geplant, Solarzellen ausgewählt, Genehmigungen eingeholt, die Anlage montiert, Messwerte der Anlage erfasst und sich um die Finanzierung gekümmert werden.

Die Schüler lernen, ein komplexes Problem mit technischen Mitteln gezielt zu lösen. Der VDI fordert die Aufnahme der technischen Bildung in das Pflichtprogramm der allgemeinbildenden Schulen. Anstatt ein neues Fach einzuführen, könnten aber auch ganz pragmatisch technische Fragen im naturwissenschaftlichen Unterricht eine größere Rolle spielen.

"Zum Beispiel kann im Chemie-Unterricht eine Batterie oder ein Wasserstoffauto, also eine technische Anwendung, der Ausgangspunkt zum Verstehen sein", erklärt IPN-Direktor Prenzel. Er spricht sich dafür aus, innerhalb des naturwissenschaftlichen Unterrichts zeitweise fächerübergreifend an gemeinsamen Projekten zu arbeiten.

Unter Federführung des IPN werden im Rahmen der Programme "Physik im Kontext" und "Chemie im Kontext" solche praxisorientierten Unterrichtskonzepte für Schulen entwickelt.

Innerhalb dieser Projekte plädieren die Pädagogen für eine Vielfalt von Unterrichtsmethoden: Neben dem Frontalunterricht, bislang noch die am weitesten verbreitete Methode, sollen Unterrichtsformen treten, die die Eigenaktivität der Schüler in den Mittelpunkt stellen, also Gruppenarbeit, Lernzirkel, Workshops u. a. Viele Wissenschaftler - und inzwischen nicht wenige Lehrer - setzen auf diese sogenannte konstruktivistische Vorstellung vom Lernen, die auch von der kognitionswissenschaftlichen Forschung gestützt wird.

Danach wird Wissen nicht einfach vom Lehrenden auf den Lernenden übertragen. Letzterer wählt vielmehr die Informationen subjektiv aus, verknüpft sie mit bestehendem Wissen und konstruiert so sein höchst eigenes Verständnis.

Anstatt den Schülern also eine Sache einfach nur zu erklären, sollen sie aufgrund eigener Denkprozesse vorhandene Konzepte überprüfen, neue Ideen entwickeln und diese wiederum überprüfen. So wird träges, lediglich formal gelerntes Wissen vermieden und Verstehen ermöglicht.

Erste praktische Erfahrungen mit der konstruktivistischen Methode liegen bereits vor. So hat Physiklehrer Klaus-Peter Haupt im Rahmen eines Förderprojekts für begabte und interessierte Schüler den "PhysikClub" an der Albert-Schweitzer-Schule in Kassel gegründet.

Freiwillige Projekte

Einmal wöchentlich treffen sich etwa 50 Schüler der Klassen 7 bis 13 freiwillig zu gemeinsamen Physikprojekten. "Es geht nicht um Produkte, nicht um Wettbewerbe, nicht um Forschung, sondern darum, dass Jugendliche selbstbestimmt an anspruchsvollen Themen arbeiten", sagt Haupt. Dabei dominiert der Lehrer nicht durch sein überlegenes Wissens, sondern ist gleichberechtigter Gesprächsberater oder Lernberater, der hilft, den Weg zum Wissen zu finden.

Es tut sich also einiges, um die naturwissenschaftliche und technische Bildung an deutschen Schulen zu verbessern. Ein Indiz für erste Erfolge ist die - im Vergleich zum Jahr 2000 - bessere naturwissenschaftliche Kompetenz deutscher Schüler laut PISAStudie 2003. Die 15-Jährigen erreichten im Problemlösen sogar einen Platz im oberen Mittelfeld.

"International gibt es allerdings deutlich bessere Leistungen", schränkt Manfred Prenzel vom deutschen PISA-Konsortium ein. In den kommenden Wochen wird wieder an zwei Tagen das Wissen Tausender Mädchen und Jungen getestet.

Der Schwerpunkt liegt diesmal bei den Naturwissenschaften: Mithilfe grundlegender Konzepte der Physik, Chemie, Biologie und der Geowissenschaften sind wirklichkeitsnahe naturwissenschaftliche Probleme zu lösen. Manfred Prenzel hofft auf ein besseres Abschneiden der deutschen Schüler als vor drei Jahren.

Ab Dezember 2007, wenn die ersten PISA-Ergebnisse veröffentlicht werden, wird sich erweisen, ob seine Hoffnung berechtigt ist und die Qualität des Unterrichts gestiegen ist.

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