Behandlung von Pädophilen:Der Feind in seinem Kopf

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Ein Team der Berliner Charité will verhindern, dass aus Phantasien von Pädophilen Verbrechen werden. Hierher kommen Männer, die Angst vor sich selbst haben. Sie bergen das Risiko, Kinder zu vergewaltigen. Auf Heilung können sie nicht hoffen.

Constanze von Bullion

Der Mann, dem Michael Brandt nicht traut, meldet sich meistens, wenn er sich allein fühlt. Kaum ist er da, verbreitet er Unruhe, will raus und setzt sich in Linienbus Nummer 9. Am liebsten mittags so gegen eins, wenn die Kinder aus der Schule kommen.

"Pädophilie ist nicht heilbar": Mit dieser Diagnose schockiert der Berliner Sexualmediziner Klaus Beier viele seiner Patienten. (Foto: Foto: Regina Schmeken)

Dann wartet er, bis ein Mädchen kommt, das ihm gefällt, und wenn es aussteigt, steigt auch er aus. Er folgt dem Kind unauffällig bis nach Hause, überwältigt es und zerrt es ins Dunkle. Der Mann vergewaltigt Mädchen im Alter von sieben Jahren an, er tut das drei-, viermal in der Woche.

Michael Brandt hat sich oft gefürchtet vor diesen Mann, und wenn er sich wieder verzieht, ist er erleichtert. Dann kehrt er zurück zu sich und in diese Wohnung, die ein bisschen wie eine Zelle wirkt.

Michael Brandt, der eigentlich anders heißt, teilt sich ein paar Quadratmeter mit einem Glas Nutella, dem Computer und einem Bett, das so schmal ist, als sei es nicht für zwei gedacht.

An den Wänden rund um das Bett hängen große Porträtfotos, alles Mädchen mit roten Haaren, Mädchen mit Sommersprossen und sehr heller Haut. Der Platz an der Wand reicht nicht für sie, deshalb lagern noch ein paar auf dem Boden, gerahmt und hinter Glas gepresst wie eine Sammlung Schmetterlinge.

Der weggesperrte Teil

"Irischer Typ", sagt Michael Brandt und lächelt ein bisschen verlegen. Er ahnt wohl, dass seine Kollektion auf Fremde beunruhigend wirkt. Aber erstens kommen hier nicht viele Fremde vorbei, und zweitens darf man sich ja vorstellen, was man will.

Brandt stellt sich vor, rothaarige Mädchen zu vergewaltigen, das erregt ihn. Er vergewaltigt sie nicht wirklich, das macht der andere, der in seinem Kopf unterwegs ist. Früher hat er ihn gehasst, und jetzt lebt er irgendwie mit ihm, denn er wird ihn nie mehr los.

Michael Brandt ist pädophil, und er hat gelernt, dass das, womit er kämpft, keine Persönlichkeitsspaltung ist und nicht nur ein moralisches Problem. Pädophilie ist eine Störung der sexuellen Präferenz, sie gehört zu den "Paraphilien", den Neigungen zu Abseitigem.

Kaum einer gibt so eine Neigung zu, aber nicht wenige pflegen Kontakt zu ihr wie zu einer heimlichen Geliebten. Einer von hundert Männern hat pädophile Phantasien, schätzen Experten der Berliner Charité, und jeder dritte dieser Männer - Frauen sind kaum betroffen - holt sich heimlich, was er begehrt. Die übrigen lassen es. Oder sie versuchen, es zu lassen. Nur wenigen gelingt es, sich helfen zu lassen.

Michael Brandt hat Hilfe gesucht bei der Charité in Berlin. Er ist 36 Jahre alt, klein und lebhaft und ein Mensch, der fröhlich wirkt, ein wenig unsicher, aber nicht, als sei sein ganzes Leben ein Kampf.

Er lebt in der Behaglichkeit einer schwäbischen Stadt und in einer aufgeräumten Siedlung, in der viele kleine Fahrräder stehen. Wenn abends die Lichter angehen, kann man den Familien durch die Scheiben auf den Abendbrottisch gucken. Michael Brandt guckt nicht, sagt er, nicht hier. "Die Siedlung ist tabu. Das ist mein Sicherheitsfaktor."

Wenn einer Sicherheit vor sich selbst sucht, dann ist das, als müsste er einen Teil von sich wegsperren. Um den anderen Teil zu retten, den richtigen.

Aus "sehr gutem Elternhaus"

Michael Brandt mag es nicht, wenn jemand glaubt, dass er sein Leben nicht im Griff hat. Er hat seine Wohnung aufgeräumt, die Kleider in die Ecke und den Papierkram aufs Sofa. "Ganz normal", das ist ein Wort, das er oft gebraucht, wenn er erzählt, wie es angefangen hat.

Er kommt aus einem "sehr guten Elternhaus", die Eltern sind Ärzte, und als er noch klein ist und sich schwer tut mit dem Lernen, geht er auf die Waldorfschule, hat Freunde, ist kein Außenseiter, "ganz normal" eben.

Es gibt in dieser Biographie keine sichtbaren Brüche, keine Gewalt, keinen Missbrauch, höchstens so eine Sehnsucht, öfter wahrgenommen werden zu wollen. Als Kind fehlte ihm nichts, sagt Michael Brandt, nur eben ein bisschen Zeit mit den Eltern. "Sie waren, sagen wir mal, mehr für ihre Patienten da." Als er in die Pubertät kommt, ist er ein schüchterner, etwas verwöhnter Junge, der sich in Mädchen seines Alters verliebt.

"Du Schwein. Was machst du da?"

Es dauert bis er bemerkt, dass die Mädchen klein geblieben sind, während er zum Mann herangewachsen ist. Als er 25 ist, hat er noch nie mit einer Frau geschlafen, er will gerne, aber irgendwie passiert es nicht. Dabei hat er jetzt eine Freundin, und sie erzieht ihre achtjährige Tochter allein. "Da habe ich nach wenigen Wochen bemerkt, dass ich das", er stockt jetzt, als säße da irgendwo ein Knoten, "das Mädchen mehr begehre als die Mutter."

Was dann kommt, habe er wie einen Film erlebt, der sich in seinen Kopf schleicht wie ein Eindringling und ihm vorspielt, mit dem Mädchen zu schlafen. Mit einer Achtjährigen? Naja, sagt er, "eher so 'ne Vergewaltigung." Als ihm klar wird, was er sich da vorstellt, erschrickt er und denkt: "Du Schwein. Was machst du da? Das darfst du doch gar nicht.'' Er nennt sich beim Erzählen jetzt oft "du" oder "man", und manche Wörter scheinen sich zu wehren, ausgesprochen zu werden.

Die Tochter seiner Freundin macht ihm zu schaffen, trotzdem geht er mit ihr die Hunde ausführen, einkaufen, Eis essen, mal was trinken. Er nennt das ,,eine Vaterrolle aufbauen''. In seinem Kopf aber ist kein Vater unterwegs.

Michael Brandt ist im echten Leben Gärtner, und der, den er damals in sich kennenlernt, ist Sammler. Er sucht kleine Mädchen, möglichst rothaarig, und wenn er sie findet, beobachtet er sie, brennt sich ihr Bild "im Kopf ein", stellt sich vor, wie er sie mit heimnimmt und kaputt macht. Das verschafft ihm Erleichterung. Und Elend, hinterher.

Irgendwann reicht das für den "Kick" nicht mehr, also werden Phantasien detaillierter. "Wie könntest du vorgehen?", fragt er sich und fasst einen Plan. "Man sieht eine im Bus, die attraktiv wirkt. Sie geht jetzt allein nach Hause, schließt die Tür auf im Hochhaus. Irgendwo gehen Treppen runter. Wie würdest du weitermachen? Nimmst du Chloroform und schleifst sie runter?"

Je klarer das Bild wird, desto drängender der Wunsch, es zum Leben zu erwecken, sagt Brandt.

Der Jäger erwacht

Er muss sich jetzt beim Erzählen öfter unterbrechen, um zu erklären, was Wirklichkeit ist und was Fiktion. Zur Wirklichkeit gehört, dass er damals beginnt, Kindern zu folgen. Manche gefallen ihm besonders, und er merkt sich, wo sie wohnen.

Andere berührt er so ganz nebenbei. Einem Mädchen fällt sein Blick auf, es rennt weg, das tut ihm leid. Kein Kind aber spricht laut aus, was Brandt nicht hören will. Also wagt er sich weiter vor.

In ihm ist jetzt ein Jäger erwacht, der die Gedanken an Strafe von sich abstreift und sich gleichzeitig gehetzt fühlt von sich selbst. Er hat Angst jetzt, manchmal Panik, weil ihm die Kontrolle entgleitet, und wenn er zurückkehrt von seinen Streifzügen, ist er oft total am Boden. Hätte er eine Waffe gehabt, ein Betäubungsmittel, sagt er, "ich hätte für nichts mehr garantieren können". Er meint nicht sein Leben, sondern das eines Kindes.

Das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Humboldt-Universität ist ein Ort, der seine Geheimnisse nicht gleich preisgibt. Wer hier ankommt, sieht einen engen Hof, steht dann in kargen Praxisräumen, aber wer aus dem Fenster schaut, guckt ins Herz der Berliner Charité.

Zwischen alten Bäumen liegt da das Anatomische Theater, ein wunderschöner Kuppelbau, in dem Preußens Studenten vor 200 Jahren das Sezieren gelernt haben.

Klaus Beier schaut nicht raus in die Idylle, sondern rein in die Augen seiner Besucher. Er ist ein ruhiger und analytischer Mensch, der darauf spezialisiert ist, verborgene Dinge aufzuspüren. Beier ist Professor der Sexualmedizin und hat das Forschungsprojekt "Kein Täter werden" gegründet. Es ist der erste wissenschaftliche Versuch in Deutschland, potentiellen Sexualstraftätern Hilfe anzubieten, möglichst, bevor es zum Übergriff kommt. Mehr als 500 Betroffene haben sich gemeldet, 100 wurden aufgenommen, einige haben erstmal einen Schock gekriegt.

Abwenden hilft nicht

Pädophilie ist nicht heilbar, sagt Klaus Beier, der hier oft vor verzweifelten Patienten sitzt, die sich hassen für ihre Wünsche und jeden Tag mit der Angst kämpfen, ein Kind zu missbrauchen.

In Einzelgesprächen und Gruppentherapien, die strenger Schweigepflicht unterliegen, versucht sein Team ihnen dann beizubringen, dass sie gegen die Angst etwas tun können, nicht aber gegen die pädophilen Impulse selbst. Die sind nicht wegzutherapieren. "Das zu akzeptieren, ist für manche wie eine Krebsdiagnose."

Wer dennoch bleibt, reist in der Regel einmal die Woche nach Berlin, meist heimlich, denn wer zugibt, auf Kinder zu stehen, darf fürchten, als Ungeheuer zu gelten. "Die Angst vor sozialer Vernichtung ist extrem", sagt Beier, der nicht nur seine Patienten ermutigt, mit dem Leugnen aufzuhören. Auch die Öffentlichkeit müsse lernen, sich mit dem Problem zu befassen, sagt er, denn das empörte Abwenden von dem, was sich da abspielt, hilft nur den Pädophilen, die sich nicht helfen lassen möchten. Die anderen aber, die raus wollen, können hier behandelt werden.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Dieses Programm will keine Sexualtäter vor Strafe schützen, sondern Kinder vor sexuellen Übergriffen. Wer ein Verfahren laufen hat, kriegt hier keinen Platz, und wer sich nicht an die Regeln hält, kann rausfliegen.

Nun ist es aber nicht so, dass jeder Therapieteilnehmer das, was er sich so vorstellt, Missbrauch nennt. "Es ist erstaunlich, wie breitgefächert Wunschdenken und Selbstbetrug sein können", sagt Klaus Beier und erzählt vom Typus des hilfsbereiten Pädophilen, der das Kind einer Nachbarin hütet.

Vom tollen, aber pädophilen Lehrer, der es so gut versteht mit halbstarken Jungs. Von einem, der wie ein Einsiedler lebt, Kontakt zu einem Kind knüpft und sich einredet, es brauche doch auch ein bisschen Liebe.

Wunsch und Wirklichkeit

Wenn eine Gruppe Pädophiler hier zusammensitzt, werden solche Lebenslügen schnell enttarnt. Mit dem Zugeben aber ist es nicht getan. Danach sollte das Aufgeben kommen. Wer verantwortlich mit seiner Pädophilie umgeht, versagt sich erregende Handlungen, Kinderpornos und unkontrollierte Momente mit Kindern.

Viele lernen dann, Wunsch und Wirklichkeit zu trennen - und zu unterscheiden zwischen dem, was sie sich vorstellen dürfen, nämlich alles, und dem, was sie umsetzen dürfen, nämlich gar nichts.

Was passiert, wenn bei einem Therapieteilnehmer zu Hause die Selbstkontrolle versagt? Klaus Beier verzieht keine Miene, aber er antwortet etwas ausweichend. Wer sich hier behandeln lässt, ist freiwillig da und motiviert, sagt er. Und wer sich nicht in den Griff kriegt, kann Medikamente gegen die Phantasien nehmen. Aber es gibt doch sicher auch Konflikte. "Das ist richtig."

Die "unerfreulichen Momente" für Beiers Team sind die, in denen entschieden wird, ob einer weggeschickt werden muss. Es gibt da gefährliche Leute, die dringend Therapie brauchen, aber erklären, dass sie nur mitmachen, wenn keiner erfährt, wer sie sind und wo sie wohnen. "Da stößt", sagt Beier, "ein Forschungsprojekt an seine Grenzen."

Was er nicht dazusagt, kann man sich denken: dass es nicht immer leicht ist, die Spielregeln zu bestimmen. Beier kann Leute wegschicken, die nicht mitmachen, das steht in seiner Macht. Aber er weiß, dass sie allein da draußen erst recht gefährlich werden können. Manche wissen, dass er das weiß. Das ist ihre Macht.

Michael Brandt, der Gärtner aus dem Schwäbischen, hat seine Therapie in der Charité vor einigen Wochen abgeschlossen. Zwei Jahre waren das, die sein Leben verändert haben, sagt er, und manchmal wünscht er sich, sie wären nicht vorbei. Jetzt sitzt er hier, allein in seiner Wohnung und hält ein Tagebuch in der Hand. Er hat es während der Behandlung geschrieben, und wenn man so will, ist es der Erlebnisbericht des Mannes, den er immer wegsperren wollte.

"Ich kenne meine Grenzen"

Viele Seiten sind da vollgetippt mit Geschichten von Vergewaltigungen, aber auch, das gehört zur Therapie, mit Briefen an potentielle Opfer. Michael Brandt kann sich hineinversetzen in ihren Schmerz, sagt er, und er will niemandem so etwas antun. Er wirkt ehrlich, als er das sagt, aber es ist nicht so, dass er sich nicht mehr in Versuchung bringt.

Zwischen die Texte hat er ein paar Fotos gestellt. Mädchen beim FKK oder ein nacktes Kind, das am Strand posiert. Alles keine Pornographie, findet Brandt, aber die hat er auch, und in Berlin hat er sie mal in der Gruppe gezeigt. Und? Was ist passiert? Nichts, sagt er.

Michael Brandt wirkt nicht so, als sei er bei der Therapie übermäßig hart rangenommen worden. Die erste Angst war schnell überwunden, und dann wurde es ziemlich locker, erzählt er. Statt zu verbieten, versuchen die Therapeuten eher, den Leute beizubringen, wie das geht: sich selbst zu kontrollieren.

Dieser Druck ist weg

Michael Brandt hat verstanden. Er hat seinen Computer vom Netz genommen, und wenn er ins Internetcafé geht, dann um dem Betreiber zu sagen, welche Adressen er sperren sollte. Gelegentlich allerdings nimmt er ein verbotenes Foto mit. Der Sammler eben, es gibt ihn noch.

Auch der Jäger ist noch unterwegs, gestern hat er beim Frauenfußball eine Zuschauerin ins Visier genommen. Und heute nach Schulschluss steht er am Busbahnhof. "Weil's so eng war, habe ich versucht, dranzukommen. Haare sind ein besonderer Reiz für mich. Und es ist gelungen, ohne dass es ihr aufgefallen ist.''

Was bringt so eine Therapie, wenn die Nachstellungen nicht aufhören? Dieser Druck ist weg, der ihn vor sich hergetrieben hat, sagt Brandt, und dass er dem Mädchen am Busbahnhof früher weiter gefolgt wäre. Er fühlt sich bis heute nicht sicher vor sich selbst, aber sicherer, auch weil er der Familie und Freunden verraten hat, wer da in ihm wohnt. Bis auf den Vater haben alle das akzeptiert.

Der Mann, der Michael Brandt nie sein wollte, ist kein Gefangener mehr und bewegt sich jetzt freier, er spricht mit Reportern und begibt sich selbstbewusst in die Gefahrenzone, "weil ich meine Grenzen kenne und abbrechen kann''. Warum bricht er dann nicht früher ab, bevor er den Kindern so nah kommt? "Weil man diese schönen Gefühle bekommen möchte. Wenn man sagen würde, das darfst du nicht, dann gibt das Stress. Dann fehlt was.''

Er träumt jetzt manchmal davon, eine Frau zu finden, die ihn akzeptieren kann, wie er ist. Oder er stellt sich vor, was er einen "goldenen Weg'' nennt: ein Mädchen, "ich sag mal: Typ Natascha Kampusch'' zu entführen und bei sich zu verstecken.

"Bis zu 'nem gewissen Alter sagen: So isses. Liebe und Geborgenheit geben und eine Beziehung aufbauen wie zu einer erwachsenen Frau." Aber, wendet man da ein, das ist doch keine Liebe, das ist doch grausam. "Ja", sagt Michael Brandt, "das ist mir schon klar.'' Er sieht jetzt so aus, als sei er nicht mehr sicher, ob der andere in ihm zu viel verraten hat.

© SZ vom 4.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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