Alzheimer:"Wie heißt Ihr Mann?" - "Ich glaube Auguste."

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Das Leiden der Patientin Auguste Deter machte den Arzt Alois Alzheimer weltberühmt - am Samstag vor 100 Jahren starb die Frau in einer Frankfurter Klinik.

Anke Fossgreen

"Wie heißen Sie?" "Auguste." - "Familienname?" "Auguste." - "Wie heißt Ihr Mann?" "Ich glaube Auguste." Da hakte der Arzt noch einmal nach. "Ihr Mann?", fragte Alois Alzheimer seine Patientin mit aller Ruhe.

Auguste Deter, die berühmte Alzheimer-Patientin, aufgenommen im Februar 1902. (Foto: Foto: AFP)

Doch die konnte auch nun nicht mehr dazu sagen als "Ach so, mein Mann..." Die Frau war erst am Tag zuvor, am 25. November 1901, in die "Anstalt für Irre und Epileptische" in Frankfurt am Main gebracht worden.

Von ihrem verzweifelten Ehemann. Der hieß Karl Deter und war Eisenbahnkanzlist. Zu Hause gehe es nicht mehr mit seiner Frau, hatte er gesagt. Er erinnerte sich noch genau an den Tag im März, als ihm aufgefallen war, dass sich seine Frau plötzlich zu verändern begann.

Sie behauptete, er sei mit einer Nachbarin spazierengegangen, aber das stimmte gar nicht.

Auguste, mit der er seit 28 Jahren "glücklich verheiratet" war, war zunächst misstrauisch geworden, dann ließ ihr Gedächtnis zusehends nach. Zwei Monate später konnte Deters zuvor "ordentliche und fleißige Frau" das Essen nicht mehr zubereiten.

Sie lief unruhig und planlos umher, vernachlässigte die Hausarbeit und fürchtete sich vor einem Fuhrmann, den sie eigentlich gut kannte. Schließlich versteckte sie alle möglichen Gegenstände. Da war Auguste Deter 51 Jahre alt.

"Die Anstalt beherbergte nur die schwersten Geisteskranken"

Der Arzt Alois Alzheimer, der die verwirrte Frau behandelte, verordnete ihr unter anderem warme Bäder. Diese Therapie hatte sich bei unruhigen Patienten "als ein ungemein segensreicher Fortschritt erwiesen, womit sich die Verhältnisse schlagartig wandelten", berichtete Alzheimer auf einer Tagung. Die Verhältnisse in der Anstalt waren katastrophal gewesen, als Alzheimer 13 Jahre zuvor direkt nach seinem Studium in Frankfurt angefangen hatte.

Damals war der Klinikleiter Emil Sioli der einzige Arzt für 254 Kranke gewesen. "Die Anstalt beherbergte nur die schwersten Geisteskranken", erinnerte sich Alzheimer später. Bei seiner ersten Visite sah er in der Abteilung für unruhige Patienten entkleidete und ausgekühlte Menschen. Sie lagen auf zerrissenen Strohsäcken und Matratzen in Zellen, die mit Essensresten und Kot verschmiert waren.

Dem Direktor Sioli und seinem Oberarzt Alzheimer kam ein dritter Arzt zu Hilfe, Franz Nissl, der bald zum guten Freund Alzheimers wurde. Den drei Männern gelang es, die Anstalt in ein "fortschrittliches psychiatrisches Krankenhaus mit Sanatoriumscharakter umzuwandeln", schreiben die Eheleute Ulrike und Konrad Maurer in ihrer ausführlichen Alzheimer-Biographie.

Konrad Maurer ist der jetzige Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität in Frankfurt, der Nachfolgeklinik jener Anstalt, in der Alzheimers Karriere begann.

Die Einrichtung der Dauerbäder half dabei, dass sich erregte Patienten beruhigten. Sie mussten nun kaum noch Zwangsanwendungen erhalten oder in Isolierzimmer gesperrt werden. Zudem wurde die Klinik umgebaut und zum Beispiel durch ein Mikroskopierzimmer erweitert, in dem Alzheimer zusammen mit Nissl viele Stunden verbrachte. Alzheimer untersuchte dort Gehirnschnitte von Verstorbenen, die an der progressiven Paralyse litten, im Volksmund "Gehirnerweichung" genannt.

Mit dieser Arbeit habilitierte er sich später. Damals war noch unbekannt, dass diese Geisteskrankheit eine Spätfolge der Syphilis ist. Zum Anstaltsareal gehörten auch ein Park, Äcker und eine Gärtnerei, wo sich fast jeder dritte Kranke betätigte.

Von Spezialfällen besessen

Auguste Deter nicht. Schon im Dezember, kaum einen Monat nach ihrer Einlieferung, wusste sie nicht einmal mehr ihren Vornamen. Alzheimer notierte folgende Besuchsszene: "Wie heißen Sie?" "Mai." - "Schreiben Sie Ihren Namen auf." Sie schrieb "Mai".

Ein Vierteljahr später konnte sich Alzheimer nicht mehr mit seiner Patientin unterhalten, die er fast täglich besuchte. Die Frau jammerte oder schrie oft anfallsartig mehrere Stunden lang.

Die ausführlichen Gespräche mit seinen Patienten und die genaue Aufzeichnung der Dialoge waren ein wichtiger Teil der Erforschung von Geisteskrankheiten. Alzheimer, ganz Wissenschaftler, hielt seine Befunde aber auch deshalb akribisch in seiner gestochenen Handschrift fest, damit sich andere Ärzte ein eigenes Bild machen konnten. Alzheimer war wie besessen von Spezialfällen.

Alzheimer stürzte sich in seine Arbeit

Wohl auch deshalb war dem damals 37-Jährigen Auguste Deters ungewöhnliche Krankheit sofort aufgefallen. Hinzu kam, dass Alzheimers Frau Cecilie einige Monate vor Deters Einweisung in der Klinik gestorben war - nach nur sechs Ehejahren. Alzheimer stürzte sich noch mehr als zuvor in seine Arbeit.

Als der renommierte Psychiater Emil Kraepelin Alzheimer im Jahr 1903 anbot, bei ihm in Heidelberg zu forschen, zögerte dieser nicht. Beim Abschied in Frankfurt nahm er dem Anstaltsleiter Sioli noch das Versprechen ab, ihn weiter über die "interessantesten Fälle" zu informieren, insbesondere über Auguste Deter. Noch im selben Jahr folgte Alzheimer Kraepelin nach München, wo dieser Leiter der Königlichen Psychiatrischen Universitätsklinik wurde.

Alzheimer bezog eine Wohnung in der Rückertstraße, nur hundert Schritte von der Klinik entfernt. Er holte seine drei Kinder und auch seine Schwester nach, die sich um die Halbwaisen kümmerte. Auch die Münchner Klinik befand sich im Umbau, und Alzheimer stand Kraepelin mit seiner Erfahrung zur Seite.

Doch sein Hauptinteresse galt der Wissenschaft. Alzheimer richtete sich ein modernes Labor ein, in dem er später internationale Forscher ausbildete, von denen einige berühmt wurden - zum Beispiel Hans-Gerhard Creutzfeldt und Alfons Jakob, nach denen die BSE-ähnliche Prionenkrankheit beim Menschen benannt ist.

Anfangs wurde Alzheimer von der Klinik nicht bezahlt, was ihn aber nicht störte. Die Hinterlassenschaft seiner Frau hatte ihn "steinreich" gemacht, wie Konrad Maurer sagt. Sein Vermögen verdankte er Cecilies erstem Ehemann, einem Frankfurter Diamantenhändler, der kurze Zeit Alzheimers Patient war, bevor er an den Folgen der progressiven Paralyse starb, der Syphilis also.

Alzheimer sah den Lehrsatz von Wilhelm Griesinger bestätigt

Im Frühjahr 1906 erhielt Alzheimer einen Anruf aus Frankfurt: Auguste Deter war am Morgen des 8. April gestorben. Sioli überließ seinem ehemaligen Mitarbeiter die Krankenakte und das Gehirn der Patientin. Auguste hatte am Ende ihres viereinhalbjährigen Siechtums meist mit angezogenen Beinen im Bett gekauert, musste gefüttert werden und schrie oft in der Nacht. Sie hatte sich wund gelegen und litt an einer Lungen- und Nierenentzündung. Schließlich starb sie an einer Blutvergiftung.

Mit großem Eifer untersuchte Alzheimer das Gehirn der Verstorbenen. Er war sich sicher, einen Fall gefunden zu haben, der den Lehrsatz des Berliner Arztes Wilhelm Griesinger bestätigte. Dieser hatte 1845 die naturwissenschaftliche Epoche der Psychiatrie eingeleitet: "Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten", postulierte Griesinger, sie haben eine organische Ursache.

"Das trifft zwar nicht auf alle psychischen Störungen zu, die wir heute kennen", sagt Konrad Maurer. "Für die von Alzheimer beschriebene Krankheit aber schon."

Merkwürdige Veränderungen

Tatsächlich wurde Alzheimer fündig: In den Gehirnschnitten entdeckte er unter dem Mikroskop "sehr merkwürdige Veränderungen der Neurofibrillen", also des Zellskeletts der Nervenzellen. Diese Veränderungen führten offenbar dazu, dass die Zellen starben. In der Hirnrinde fand Alzheimer in anderen Nervenzellen "hirsekorngroße Herdchen, welche durch Einlagerung eines eigenartigen Stoffes bedingt sind."

Anfang November 1906 trug der ambitionierte Nervenarzt seine Entdeckungen mit eindrücklichen Abbildungen auf der Versammlung der Süddeutschen Irrenärzte in Tübingen vor. Doch nach seinem Vortrag war er irritiert und enttäuscht: Keiner der anwesenden renommierten Psychiater hatte eine Frage gestellt. Es hatte keine Diskussion gegeben. Nicht einmal einen Kommentar. Hatten ihn seine Kollegen womöglich gar nicht verstanden?

Vier Jahre später sollte der Münchner Klinikleiter Kraepelin das "senile und präsenile Irresein" in seinem Lehrbuch "Allgemeine Psychiatrie" detailliert schildern. Er nannte das Leiden, das damals äußerst selten war, nach seinem "langjährigen treuen Mitarbeiter" die "Alzheimer-Krankheit".

Heute ist Kraepelins Bekanntheitsgrad hinter den von Alois Alzheimer zurückgetreten. "Hätte er geahnt, wie häufig diese Krankheit werden wird, hätte er sicher seinen eigenen Namen gewählt", glaubt Konrad Maurer über den ehrgeizigen Kraepelin.

© SZ vom 08.04.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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