Altruismus:König der Wespen

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Raghavendra Gadagkar ist von den sozialen Fähigkeiten mancher Insekten fasziniert. An ihnen studiert der Inder, wieso es überhaupt Lebewesen gibt, die andere auf selbstlose Weise unterstützen.

Von Kai Kupferschmidt

Als er noch studierte, waren die lehrreichsten Momente für Raghavendra Gadagkar jene, in denen er nicht zuhörte. An den Fensterrahmen der Universität in Bangalore in Indien schwirrten kleine, leuchtend rote Wespen herum und bauten ihre Nester. "Ich habe viel Zeit damit verbracht, diesen Tieren zuzuschauen", sagt Gadagkar. "Ich hatte keine Ahnung, was sie waren. Aber sie haben mich total fasziniert."

Heute weiß Gadagkar wohl mehr über diese Tiere als jeder andere Mensch. Er erforscht sie seit fast 40 Jahren. Ropalidia marginata heißt die Art: Eine Papierwespe, die Pflanzen zerkaut und aus der Zellulose sowie Speichel eine klebrige Masse bildet. Daraus formen die Wespen ihre Nester. "Ist es nicht eine wunderschöne Wespe?", hat Gadagkar einmal geschrieben. "Ich bin Dutzende Male gestochen worden, aber ich habe mich nie beschwert. Ich glaube, das macht die Liebe mit einem."

Die Wespen haben Gadagkars Liebe mit einer beispiellosen Karriere belohnt

An einem Mittwochmittag sitzt Gadagkar - stattliche Statur, lilafarbenes Hemd, imposanter, grauer Bart - im Speisesaal der Villa Linde in Berlin-Grunewald. Hier ist das Wissenschaftskolleg untergebracht, ein Ort, an dem Forscher aus allen Disziplinen Ruhe finden. Um an einem Projekt zu arbeiten, ein Buch zu schreiben. Seit 2002 ist Gadagkar Permanent Fellow und verbringt jedes Jahr einige Wochen in Berlin. Er ist Mitglied in der Leopoldina, der nationalen Akademie der Wissenschaften und hat gerade das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. In seinem Heimatland unterrichtet er am Indian Institute of Science in Bangalore und ist Vorsitzender der Indischen Akademie der Wissenschaften. Gadagkar ist in einem der größten Länder der Welt einer der führenden Forscher seiner Generation. Die Wespen haben seine Liebe mit einer ungewöhnlichen Forscherkarriere belohnt.

Das ist umso beachtlicher, weil er sich diese Position nicht mit aufwendiger Hightech-Forschung erarbeitet hat. "Das muss man ihm wirklich hoch anrechnen", sagt Bert Hölldobler. Der weltbekannte Ameisenforscher kennt Gadagkar seit vielen Jahren. "Als er anfing, waren die Möglichkeiten in Indien sehr beschränkt, und er hat es verstanden, mit einem ganz einfachen Mittel - der sorgfältigen Beobachtung - gute Wissenschaft zu machen."

Was aber lässt sich an Insekten beobachten? Wer Ropalidia marginata zuschaut, der erkennt zunächst keine sozialen Strukturen. Die Wespen bauen ihre Nester in kleinen Gruppen, aber die Tiere sehen alle gleich aus. Gadagkar begann, sie mit Modellbaufarbe zu markieren. Tatsächlich entdeckte er nun das Muster einer Arbeitsteilung: Die "Sammler" verlassen die Kolonie, um Nahrung zu holen. Die "Soldaten" sind aggressiv, kämpfen mit anderen und kontrollieren sie. Die "Sitzer" machen kaum etwas, sie sind eine Art stille Reserve. Und dann gibt es noch die Königin, das einzige Tier, das Nachfahren zeugt. Dank seiner Beobachtungen kann Gadagkar sogar Dramen von shakespearschen Ausmaßen beschreiben, mit Königinnen, die abgesetzt oder verjagt werden. Und jungen Tiere, die ausziehen, um alleine ihr Glück zu versuchen. Das soziale Leben der Ropalida marginata ist also kompliziert. Und genau das macht die Wespe für die Forschung interessant. Ihre kleinen Kolonien bilden nämlich die primitive Vorstufe des wohl faszinierensten Phänomens im Tierreich - des Insektenstaats.

Staatenbildende Insekten verbinden die Bevölkerungsstärke menschlicher Megacities mit der straffen Organisation des Militärs. In einer Kolonie leben bis zu 20 Millionen meist weibliche Tiere. Manche Arten, wie die Blattschneider- oder die Weberameisen, haben sich zu regelrechten Superorganismen entwickelt. Jedes Tier erfüllt eine Funktion, wie jede Zelle im menschlichen Körper. Das Prinzip ist extrem erfolgreich. Zwar bilden nur zwei Prozent der 900 000 bekannten Insektenarten Staaten. Sie machen jedoch die Hälfte der Biomasse aller Insekten aus. Und wie die Forscher E. O. Wilson und Bert Hölldobler vorgerechnet haben, bringen alle Ameisen auf der Welt zusammen so viel Gewicht auf die Waage, wie die gesamte Menschheit. Dabei sah selbst Darwin in den sozialen Insekten einen Stolperstein für seine Evolutionstheorie: In einer Welt, in der es darum geht, sich fortzupflanzen, verzichten Millionen Lebewesen zugunsten einer Königin auf Nachwuchs. Warum?

Aus Pappe ist die Papierwespe Ropalidia offenkundig nicht. 22 Spezies kennt die Gattung, viele sind auffallend gefärbt. R. marginata ist hellrot. (Foto: Rundstedt Rovillos)

Ein Vortrag, den Gadagkar gelegentlich hält, heißt "Krieg und Frieden". Er beschreibt darin die Fähigkeit der Wespen, Konflikte innerhalb der eigenen Kolonie zu vermeiden und mit anderen Kolonien auszutragen. Er beendet den Vortrag mit einem Zitat von Voltaire: "Es ist schade, dass man, um Patriot zu sein, dem Rest der Menschheit ein Feind werden muss." Natürlich könne man das Verhalten von Insekten nicht direkt auf den Menschen übertragen, sagt Gadagkar. Aber die Wespen hielten unserer Gesellschaft einen Spiegel vor. Der Mensch kämpfe und führe Kriege, aber er habe auch eine ungeheure Kapazität zu kooperieren - und auf eigene Vorteile zu verzichten.

Woher kommt dieser Altruismus? Wie wurde der Gemeinsinn geboren? "Ich habe erst gegen Ende meines Studiums erfahren, dass die Wespen der Schlüssel zur Antwort auf diese Frage sein könnten", sagt Gadagkar. Eine der ältesten Theorien zur Entstehung von Altruismus geht ungefähr so: Im Wettstreit von Kolonien oder Stämmen überleben häufiger jene, deren Mitglieder eher bereit sind für das Gemeinwohl zu sterben. Auch Darwin vertritt in einigen Passagen seines Werks diese Sicht. Doch hat diese These Grenzen: Eine reine Gemeinschaft von Altruisten wäre jenen schutzlos ausgeliefert, die sie ausnutzen. Erbanlagen fürs Schummeln würden sich schnell durchsetzen, das Gemeinwohl würde ausgehebelt.

Ende der 1960er-Jahre formulierte der britische Biologe William Hamilton in seiner Doktorarbeit deshalb eine andere These: Altruismus kann sich dann ausbreiten, wenn die Kosten (Nachteile) für den Altruisten niedriger sind als der Nutzen für seine Verwandten - multipliziert mit ihrem Verwandtschaftsgrad. Der Biologe John Burdon Sanderson Haldane hatte die Idee bereits 1955 gehabt. Haldane brachte die These auf den Punkt, als er auf die Frage, ob er sein Leben opfern würde, um einen ertrinkenden Bruder zu retten, augenzwinkernd antwortete: "Nein, aber ich würde es tun, um zwei Brüder zu retten oder acht Cousins."

Was wie Selbstlosigkeit aussieht, sind Hamilton und Haldane zufolge egoistische Gene, die den Erhalt der Familie einfordern. Auch für viele Insektenforscher erschien das Rätsel damit gelöst. Denn auf Grund einer genetischen Besonderheit teilen Bienen, Wespen und Ameisen drei Viertel ihrer Gene mit ihren Schwestern - und nur die Hälfte mit ihren Kindern. Rechnerisch ergibt es also Sinn, sich um die Kinder der Königin zu kümmern, statt eigene Kinder großzuziehen.

Nach dem Studium entschied sich Gadagkar dennoch, die Theorie an seinen Wespen zu prüfen. Eigentlich faszinierten ihn die moderne Molekularbiologie und die altmodische Beobachtung von Tierverhalten gleichermaßen. Aber Gadagkar wollte in Indien bleiben und damals gab es dort kaum Möglichkeiten für Spitzenforschung mit teuren Maschinen. Seine Betreuer hätten ihm gesagt, Tierverhalten zu erforschen sei ein Schritt zurück, wissenschaftlicher Selbstmord. Und in Indien zu bleiben sei ebenfalls Selbstmord. "Doppelter Selbstmord?", erinnert sich Gadagkar und lacht. "Ich fand, das war einen Versuch wert."

Gadagkar erarbeitete Methoden, um die Faktoren in Hamiltons Gleichung, den Nutzen und den Schaden, zu beziffern und mit dem Verwandtschaftsgrad zu verrechnen. Sein Modell sagte klar vorher, wie sich die Wespen verhalten müssten: Etwa fünf Prozent der Wespen müssten demnach ausziehen, um ihr Glück alleine zu versuchen. Tatsächlich zeigten die Daten genau das, eine beeindruckende Bestätigung von Hamiltons Regel. "Ich bin einer der wenigen Leute, die diese Theorie wirklich getestet haben", sagt Gadagkar.

An einer Theorie festzuhalten, weil man sie einmal vertreten hat, ist nicht Wissenschaft

Doch seit einigen Jahren ist die Diskussion um Altruismus neu entflammt. Ausgerechnet E. O. Wilson, der Hamiltons Regel einst berühmt gemacht hat, hält sie inzwischen für falsch - und bringt die widerlegt geglaubte Gruppenselektion wieder ins Spiel. In einem Aufsatz, der 2010 im Fachblatt Nature erschien, vertraten er und sein Harvard-Kollege Martin Nowak die Auffassung, Altruismus im Tierreich sei zu sonderbar verteilt und in der Evolution zu selten, um von Verwandtschaftsbeziehungen angetrieben zu werden. Das Echo war verheerend. Hunderte Forscher unterschrieben eine empörte Antwort.

"Das ist ein riesiger Streit geworden", sagt Gadagkar. Er ist einer der wenigen, die Wilson dankbar für den Einwurf sind. Er beobachtet seine Kollegen mit der gleichen Geduld, mit der er seit Jahrzehnten Konflikte und Kooperation bei seinen Wespen beschreibt. "An einer Theorie festzuhalten, nur weil man sie einmal vertreten hat, ist nicht Wissenschaft", sagt er. Akzeptierte Lehrmeinungen herauszufordern sei wichtig, damit die Forschung voranschreitet. Am Berliner Wissenschaftskolleg hat der Inder deshalb all seine Daten noch einmal ausgewertet, auf der Suche nach Hinweisen, die gegen Hamiltons These sprechen. Er wurde fündig: So sind die Wespen nicht in der Lage, junge Mitglieder anderer Kolonien von der eigenen Verwandtschaft zu unterscheiden. Die Fremdlinge können also Teil der Kolonie und sogar Königin werden. Dann schuftet die ganze Kolonie für Nachfahren, die mit ihnen genetisch gar nicht verwandt sind. "Wenn Hamilton recht hat, würde man eigentlich erwarten, dass das nicht passieren kann", sagt Gadagkar. Das Rätsel, wie soziales Verhalten entstanden ist, sei vielleicht doch noch nicht ganz gelöst, sagt er.

Nach fast 40 Jahren hat Gadagkar mehr Fragen als Antworten. Eine, die ihn besonders beschäftigt, ist die der Thronfolge. Entfernt er im Experiment eine Königin, so findet sich schnell eine Nachfolgerin. Die neue Königin kommt stets aus der Gruppe der "Sitzer" und die anderen Tiere akzeptieren sie schnell. "Wir haben bisher keine Möglichkeit gefunden, vorherzusagen, welche der Wespen die neue Königin wird", sagt Gadagkar. Sein Wissen über Ropalidia marginata sei zwar stetig gewachsen, seit er sie an den Fenstern der Universität beobachtet habe. Aber sein Unwissen sei noch schneller gewachsen. "Ich glaube es gibt noch genug zu erforschen für mehrere Lebzeiten."

© SZ vom 22.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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