Geschichte:Gift oder Gicht

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Knochen lügen nicht: Italienische Forscher entlocken mit moderner Technik den sterblichen Überresten der Medici ihre letzten Geheimnisse - und schreiben die Geschichte der mächtigsten Familie der Renaissance neu.

Alexander Galdy

Wenn Gino Fornaciari bei seinen Patienten Krankheiten feststellt, ist es zu spät. Sie sind alle tot, die meisten schon seit vielen Jahrhunderten. Woran sie gelitten haben und woran sie gestorben sind, ist oft ein Geheimnis geblieben, das mit ihnen in den Gräbern ruht. So lange, bis Fornaciari zu ermitteln beginnt.

Die Medici faszinieren seit Jahrhunderten - zuletzt zeigte Arte eine Serienreihe "Die Medici - Aufstieg einer Dynastie" (Foto: Foto: dpa)

"Ispettore del passato" nennen seine Kollegen den 61-jährigen Mediziner, Kommissar der Vergangenheit. Diesen Spitznamen mag der Professor aus Pisa nicht: "Als Paläopathologe interessiere ich mich mehr für Krankheiten als für Kriminalfälle. Das Ziel ist die umfangreiche Rekonstruktion von Leben, Krankheit und Tod", erklärt Fornaciari, ein Pionier der noch jungen Wissenschaftsdisziplin der Paläopathologie.

Nur wenige Meter entfernt von der Piazza dei Miracoli mit dem berühmten Schiefen Turm befindet sich in der Via Roma das Paläopathologische Institut von Pisa. Fornaciaris Reich ist umgeben von Geschichte. Dabei wirkt der Ispettore in seinem weißen Kittel wie ein moderner Arzt, der sich zur Visite aufmacht. Vorbei an riesigen Kühlschränken führt der Weg in sein Labor - eine kleine Kammer, zugestellt mit Kartons voller Knochen, die sich in Regalen stapeln.

Knochen sind meist die einzigen Beweisstücke, die einem Paläopathologen zur Verfügung stehen. Dafür aber sind sie besonders aufschlussreich, denn sie speichern das gesamte Leben eines Menschen. Und sie haben einen weiteren, entscheidenden Vorteil gegenüber Zeugen einer möglichen, unentdeckten Mordtat: Knochen lügen nicht.

Fornaciari hat schon etliche Prominente aus dem Grab geholt und untersucht. Der erste war der Heilige Antonius von Padua, der 1231 gestorben war. Niemand wusste, ob es sich beim Bestatteten wirklich um Antonius handelte. Fornaciari ermittelte aus den sterblichen Überresten Alter und Körpergröße des Toten, und sie stimmten mit Beschreibungen des Heiligen überein. Nun will der Paläopathologe die Krankheitsgeschichte der Medici rekonstruieren: jener mächtigen Florentiner Familie, der zur Zeit der Renaissance Päpste, Kardinäle und Königinnen angehörten.

Geschichte von Intrigen und Morden

Die Arbeit an diesem Mammutprojekt kann noch einige Jahre dauern. Die 300-jährige Geschichte der Medici ist eine Geschichte von Intrigen und Morden. Sie ist reich an mysteriösen Vorfällen. Möglicherweise starben nicht alle Angehörigen dieses Clans eines natürlichen Todes.

Paläopathologen wie Gino Fornaciari können das heute klären. Sie weisen nicht nur nach, welche Krankheiten eine Person hatte. Sie decken auch Morde auf, selbst nach Jahrtausenden noch. "Wir können feststellen, was in den letzten Tagen vor dem Tod eines Menschen passiert ist, ob jemand beispielsweise vergiftet wurde oder nicht", sagt Fornaciari.

Und die Geschichte Norditaliens biete genügend ungeklärte Todesfälle. Um den Toten ihre Geheimnisse zu entlocken, schauen sich die Paläopathologen die sterblichen Überreste an, röntgen sie und verschaffen sich Durchblick mit Computertomografen.

Durch diese nicht-invasiven Methoden bleiben die Funde unbeschädigt. Für die invasiven Methoden hingegen wie Dünnschliffe, die sie unter Mikroskope legen, oder für molekularbiologische und chemisch-analytische Untersuchungen nehmen die Forscher Proben aus Knochen oder Haaren.

Legende entkräftet

Eine erste Legende um zwei Medici-Morde im 16. Jahrhundert konnte Gino Fornaciari bereits nicht-invasiv entkräften: jene um den Tod von Garzia de Medici und seinem Bruder Giovanni. Garzia soll seinen älteren Bruder, den damals erst neunzehnjährigen Kardinal Giovanni, während eines Jagdausflugs im Jahr 1562 erstochen haben. Anschließend soll er aus Rache von seinem Vater Cosimo I., dem Großherzog der Toskana, ermordet worden sein.

"Als wir die Überreste der beiden Brüder untersuchten, haben wir jedoch keine Spuren von äußerer Gewalt gefunden", berichtet Fornaciari. Ein Dolch hätte solche Spuren hinterlassen. Freispruch also. Wahrscheinlicher ist, dass die damals im Sumpfgebiet um Florenz verbreitete Malaria die beiden Brüder dahingerafft hat.

Und auch einen anderen Mythos konnte der Forscher durch seine Untersuchung der Skelette jetzt entlarven: "Die Familienkrankheit der Medici war nicht die Gicht." Einem der Regenten hatte man den Beinamen "der Gichtige" verpasst. Doch das Leiden entpuppte sich als eine erbliche Form der Arthritis, die starke Gliederschmerzen verursacht. Gicht hingegen hätte die Zehen- und Fingerknochen zerstört. Diese lösen sich bei Gicht durch die Einlagerung von Harnsäure auf.

Über welche Zeiträume hinweg Knochen solche historischen Wahrheiten speichern, können sich Besucher auch in deutschen paläopathologischen Labors vor Augen führen. Im Untergeschoss eines Krankenhauses im Münchner Stadtteil Bogenhausen etwa, bei Andreas Nerlich.

Eine Kapelle in Florenz, die die Medici im 16. Jahrhundert bauen ließen (Foto: Foto: dpa)

Der Chef des Instituts für Pathologie beschäftigt sich wie Fornaciari mit uralten Skeletten. Was in einem Karton auf seinem Labortisch wild durcheinander liegt, stammt von einem Menschen, der vor 5000 Jahren im heutigen Deutschland gelebt hat. Viele Jahrtausende haben diese Knochen überdauert. Das liegt an den schwer löslichen Mineralstoffen und den stabilen Kollagenen, die sie zusammenhalten. Schneller lösen sich Knochen nur auf, wenn sie in stark säurehaltigen Böden vergraben liegen.

"Zuerst sehen wir uns die Knochen an, ohne etwas zu zerstören", erklärt Nerlich. "Sehen Sie zum Beispiel hier die Schädelnähte. Die sind noch nicht komplett zusammengewachsen. Unser Toter war wohl zwischen 20 und 30 Jahre alt, als er starb." Auf diese Weise lässt sich das Alter aber nur bis zum 50. Lebensjahr bestimmen. Danach sind die Nähte am Kopf ganz zugewachsen. Ob jemand 50, 60 oder 70 Jahre war, ist so nicht mehr zu unterscheiden.

Um dann das Alter bestimmen zu können, müssen die Paläopathologen einen Zahn ziehen. Diesen schneiden sie auseinander und analysieren den Querschnitt. "Ähnlich wie bei einem Baum wächst der Zahn mit den Jahren, wird immer dicker und bildet Ringe. Diese zählen wir und kommen so auf das Alter", sagt Nerlich.

Durch bloßes Vermessen können die Forscher hingegen das Geschlecht mithilfe des Skeletts feststellen. Bei Frauen ist eine Einkerbung an der Beckenschaufel größer und somit muss, falls es nicht mehr vollständig erhalten ist, das ganze Becken ausladender gewesen sein als bei gleich großen Männern. Schließlich müssen Frauen Kinder auf die Welt bringen.

Falsche Person im Grab

"Mit Daten wie Alter, Größe und Geschlecht lässt sich schon einmal bestimmen, ob wirklich der in der Gruft liegt, den man dort erwartet", sagt Nerlich, denn nicht immer befindet sich die Person im Grab, deren Name darauf steht.

So war es auch in der Basilika San Lorenzo in Florenz, in der fast alle Medici bestattet sind. Als die Forscher um Gino Fornaciari im Herbst 2004 das angebliche Grab von Filippo, dem Sohn Francescos I., des zweiten Großherzogs der Toskana, öffneten, lag darin das Skelett eines einjährigen Kindes. "Filippo war aber fünf, als er starb", berichtet Fornaciari.

In einer bisher unbekannten Gruft, zu der eine Tür von der Ruhestätte des letzten Medici-Herrschers Gian Gastone führte, stießen die Wissenschaftler schließlich auf neun Skelette. Eines stammt von einem Fünfjährigen. Für Fornaciari war klar: Das musste Filippo sein. Dafür sprach auch die erhaltene Kleidung, die er bei der Kinderleiche gefunden hat. "Sie stimmt mit jener überein, in der ein Bild den kleinen Medici mit seiner Mutter Giovanna zeigt, das in den Uffizien zu sehen ist", sagt Fornaciari. Ein endgültiger Beweis ist das noch nicht. Deshalb will der Forscher nun auch einen Erbgutvergleich machen.

Knochen dienen aber nicht allein zu einer solchen Identifikation. Das Skelett gibt auch Aufschluss über die Krankheitsakte des Verstorbenen: Es ist wie ein Schnappschuss des Menschen im Moment vor seinem Tod. Andreas Nerlich zeigt in seinem Münchner Labor auf die Augenhöhlen des 5000 Jahre alten Schädels: "Hier ist der Knochen ganz aufgeraut. Der Mann litt an Anämie. Die Blutarmut bewirkte einen Abbau der Knochenschicht im Dach der Augenhöhle."

Ähnlich einfach nachzuweisen ist zum Beispiel auch eine Überfunktion der Nebenschilddrüsen. Sie verursacht Löcher im Knochen, weil das Hormon dieser Drüsen Kalzium aus den Knochen herauslöst. Und auch Rachitis, eine Knochenerweichung aufgrund von Vitamin-D-Mangel, hinterlässt charakteristische Spuren. Typisch etwa sind verbogene Oberschenkelknochen, weil das Gewicht des Körpers auf die weichen Knochen drückt. Diese Symptome hat Fornaciari auch bei Eleonora von Toledo, der Frau von Cosimo I., festgestellt: Sie hatte O-Beine.

Doch der italienische Professor hat noch eine weitere, weniger bekannte Krankheit bei den Medici entdeckt: die diffuse idiopathische Skeletthyperostose (DISH). "Einige der männlichen Familienangehörigen wie Großherzog Cosimo I. hatten diese erbliche Stoffwechselkrankheit - vor allem die mit Übergewicht."

Fornaciari zeigt ein Foto der Wirbelsäule von Cosimo I.: "Bei ihm bewirkte DISH, dass die Wirbelsäule verknöcherte. Der Großherzog hatte einen steifen Rücken." Außerdem sei der DISH-Befund ein Hinweis, dass Cosimo Diabetes gehabt haben könnte.

Exzessives Leben hinterlässt Spuren

Ganz besonders aber interessiert sich Fornaciari für einen anderen Medici: für Gian Gastone, den letzten Großherzog aus der Familie, der 1737 gestorben war. "Gian Gastone ist in der Geschichte sehr schlecht behandelt worden", sagt Fornaciari. Der Großherzog soll ungezügelt, homosexuell und immer betrunken gewesen sein. Doch der Forscher hat seine Zweifel daran: "Wenn er tatsächlich immer nur Party gemacht hat, müsste ich Spuren von Krankheiten bei ihm finden."

Wäre der Großherzog beispielsweise an Syphilis erkrankt gewesen, hätte die Infektionskrankheit ein typisches Symptombild am Knochen hinterlassen. Gefunden hat Gino Fornaciari aber bisher keine Anzeichen. Dafür litt Garzia, der Sohn von Cosimo I., an Wachstumsstörungen. Das fand Fornaciari heraus, nachdem er den Medici geröntgt hatte. Er hält eine Röntgenaufnahme gegen das Licht: "Am Unterschenkelknochen von Garzia de Medici sieht man deutlich Querlinien. Sie zeigen, dass er im Alter von drei, sechs und 15 Jahren an einer schweren Krankheit gelitten haben muss."

Die Wachstumszonen im Knochen machen Pause, weil der Körper die Energie zur Abwehr der Krankheiten braucht. Wachstumsstillstand oder Verlangsamungen schlagen sich dann wie bei Garzia in Fehlbildungen des Knochens nieder. Sie sind als waagrechte Rillen oder Linien im Röntgenbild sichtbar. Interessant ist für Fornaciari vor allem die letzte Wachstumsstörung bei Garzia de Medici kurz vor dessen Tod. Sie ist ein Indiz dafür, dass der junge Medici an Malaria gestorben sein könnte.

Weil Fornaciari wissen will, ob es bei Garzia und seinem Bruder Giovanni tatsächlich die Malaria war, lässt er die Überreste der beiden Toten molekularbiologisch untersuchen. Mit etwas Glück kann er so einen Beleg für diese oder eine andere Infektionskrankheit liefern, denn jeder Erreger hat einen eigenen Gensatz. Falls vorhanden, ist er wie die menschliche DNS in den sterblichen Überresten gespeichert, nach vielen Jahren oft nur noch im Knochenmark. Dort kann der Malariaerreger überdauern, der durch den Stich der Anophelesmücke in die Blutbahn des Menschen gelangt war, wo er sich vermehrt und sich im ganzen Körper verteilt hatte.

Das Blut durchspült auch die Knochen. Lange nachdem sich Adern und andere Weichteile des Körpers aufgelöst haben, können sich Blutreste im Skelett erhalten - und in diesen Resten unter Umständen auch Erregerzellen. Um sie zu finden und die Erreger-DNS nachzuweisen, ist ein aufwändiges Verfahren notwendig. Die Wissenschaftler entfernen dazu mit einem Bohrer ein Stück aus einem Knochen oder einem Zahn, das womöglich noch intakte Bruchstücke des gesuchten Erbguts enthält.

Reinheit der Proben sehr wichtig

Dabei ist es wichtig, dass die entnommenen Proben nicht verunreinigt sind - ein großes Problem beim Umgang mit alter DNS: Oft haften an den alten Knochen noch Bodenbakterien, Pilze oder andere Verunreinigungen. Selbst der untersuchende Wissenschaftler kann das Ergebnis verfälschen, wenn beispielsweise aus seinen Hautschuppen oder Haaren DNS-Reste in die Probe gelangen.

Falls Fornaciari und Kollegen in den Gebeinen Garzias und Giovannis de Medici tatsächlich Malaria-Erbgut finden, hätten sie nachgewiesen, dass die beiden Brüder an Malaria erkrankt waren und wahrscheinlich auch daran gestorben sind. Finden sie nichts, beweist das jedoch nichts gegen die Krankheitstheorie: Dann könnte es auch sein, dass einst vorhandenes Malaria-Erbgut zerfallen und heute nicht mehr nachweisbar ist.

Auch bei Francesco I. überprüft Fornaciari, ob dieser Malaria hatte. In Francescos Fall geht er aber noch weiter und macht außer den molekularbiologischen auch chemisch-analytische Untersuchungen. Wieder sind es Gerüchte, diesmal um einen Giftmord, die den Professor dazu veranlassen. Der Großherzog war 1587 plötzlich mit nur 36 Jahren gestorben. Bis heute erzählt man sich in Italien, dass ihn seine zweite Frau Bianca Cappello vergiftet habe.

Fornaciari zweifelt diese Geschichte an: "Wenn früher jemand so schnell gestorben ist, haben alle gleich geglaubt, dass Gift im Spiel war." Haare und Fingernägel, in denen sich Gift normalerweise ablagert, sind bei Francesco I. längst zerfallen. Und auch die Organe existieren nicht mehr. Der Großherzog musste deshalb einen Zahn lassen. "Im Inneren der Zahnwurzel, der Pulpa, können Gifte wie Arsen oder Blei gespeichert sein", erklärt Fornaciari.

Alle Substanzen besitzen ein spezielles chemisches Spektrum, das sich mit einem Massenspektrometer bestimmen lässt. Vielleicht erzählt der Zahn von Francesco de Medici, was damals vor mehr als 400 Jahren tatsächlich geschah. Eines aber ist für Fornaciari jetzt schon sicher: Wenn es doch Malaria und nicht Gift war, werden wahrscheinlich sehr viele enttäuscht sein. "Weil gerade die Italiener tragische Geschichten lieben", sagt der Wissenschaftler.

Doch die Paläopathologen wollen bei ihren Studien nicht nur mögliche Morde aufklären. Wichtiger, so der Münchner Pathologe Andreas Nerlich, sei etwas anderes: "Mit den erforschten Krankheitsbildern von Menschen der vergangenen Jahrhunderte können wir überprüfen, wie sich Krankheiten ausbreiten, die heute noch aktuell sind."

Die Entwicklungs- und Ausbreitungsgeschichte einzelner Erreger ist ein wichtiger Forschungsbereich der Paläopathologie. So konnte etwa die Tuberkulose bis in die Frühzeit Ägyptens nachgewiesen werden. Dabei wurde als Erreger die menschliche Variante des Tuberkulosebakteriums identifiziert und nicht, wie man zuvor noch erwartet hatte, die Erregervariante des Rinds.

"Heute wissen wir, dass sich die Rindervariante wohl aus der menschlichen entwickelt hat und nicht anders herum, denn wir haben in ägyptischen Mumien ausschließlich den Menschentyp des Tuberkulosebakteriums gefunden", berichtet Nerlich. Seitdem können die Wissenschaftler erstmals detailliert die Entwicklung eines solchen Krankheitserregers nachvollziehen. Dies sei von immenser Wichtigkeit, betont Nerlich: "Nur so können Strategien gegen neu auftretende Erreger entwickelt werden wie beispielsweise gegen den der Vogelgrippe."

Nerlichs Kollege Gino Fornaciari dagegen wird sich weiter hauptsächlich mit prominenten Toten beschäftigen. Und auch einen neuen Wunschkandidaten hat er bereits: den Stauferkaiser Friedrich II., dessen Mumie sich in Palermo befindet. Sollte dieser eindeutig von seinem Sohn ermordet worden sein, dürften sich in seinen Knochen keine Spuren schwerer Krankheiten finden lassen, die auf mögliche andere Todesursachen hinweisen. Oder ist das mit der Ermordung wieder nur so ein Gerücht?

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