Zwölf Wochen Urlaub:Frankreich überholt Deutschland

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Lange wähnten sich die Deutschen als Ferienweltmeister - doch die Nachbarn aus Frankreich legen nun nach.

Von Gerhard Bläske

(SZ vom 14.8.2003) — Viele Deutsche sind noch immer überzeugt, dass ihr Land Freizeitweltmeister ist. Die Arbeitgeber verbreiten diese Botschaft Jahr für Jahr aufs Neue. Doch Deutschland hat einen ernsthaften Konkurrenten bekommen: Die französischen Arbeitgeber behaupten, in Frankreich werde noch weniger gearbeitet.

Hat die Bundesrepublik nun auch noch diese fragwürdige Spitzenposition verloren? Es scheint so. Schon der Augenschein lässt die These plausibel erscheinen. Im August ist Frankreich traditionell im Urlaub. Doch auch sonst wird ständig über die nächsten Ferien gesprochen.

Nach dem Skiurlaub im Februar und den Osterferien im April war es im Mai ein Volkssport, auszutüfteln, wie die besten Brücken zu bauen waren nach den Feiertagen am 1., 8. und 29. Mai (jeweils Donnerstage) sowie vor oder nach dem Pfingstmontag.

Das Zauberwort: Arbeitszeitverkürzung

Erleichtert wurde vielen die Planung dadurch, dass eine große Zahl von Unternehmen die "RTT"-Tage auf die Freitage dazwischen legte: RTT steht für Réduction du Temps de Travail, das heißt Arbeitszeitverkürzung. Konkret gemeint ist damit die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden unter der Regierung Jospin.

Nach Statistiken des Arbeitsministeriums arbeiten mittlerweile 79,9 Prozent der Beschäftigten von Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern weniger als 36 Stunden pro Woche. Für Millionen von cadres - das sind führende Angestellte, wozu in der Praxis auch die mittlere Leitungsebene gehört - wird die 35-Stunden-Woche nicht auf Wochen-, sondern auf Jahresbasis in Form von zwölf bis 22 zusätzlichen Urlaubstagen umgesetzt. Viele Franzosen kommen so auf einen Jahresurlaub von neun und zwölf Wochen.

Statistiken des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) platzieren Deutschland (West) mit einer Jahresarbeitszeit von 1557 Stunden im verarbeitenden Gewerbe zwar weiter vor Frankreich (1605). Doch die französischen Arbeitgeber, die sich auf Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stützen, sehen ihr Land bei 1624 und Deutschland bei 1644 Stunden.

Die Arbeitszeit in Frankreich sank seit 1990 um 11,2 Prozent, in Deutschland um 4,2 Prozent.

Berücksichtigt man die im Durchschnitt der 90er Jahre dreimal so hohe Zahl der Streiktage in Frankreich, dann fällt die verbleibende Arbeitszeit weiter. Die Zahl der Feiertage ist in beiden Ländern praktisch gleich.

Wenn man die deutlich niedrigere Beschäftigungsquote der unter 25 und über 55jährigen berücksichtigt, dann dürfte Frankreich unangefochtene Nummer eins unter den Nicht-Arbeitenden sein. Das Baseler Institut für ökonomische Studien jedenfalls kommt - auf die Lebenszeit gerechnet - bei den Franzosen auf eine jährliche Arbeitszeit von 598,6 Stunden oder täglich 1 Stunde 39 Minuten und bei den Deutschen auf 677,9 Stunden.

Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit

Auch wenn etwa Reiseveranstalter und Baumärkte davon profitieren: Der Arbeitgeberverband Medef sieht deutlich negative Auswirkungen auf die Arbeitsmentalität und eine erhebliche Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit. Doch die Forderung an die Regierung Raffarin, das Gesetz einzukassieren, wurde nicht erhört.

Raffarin wagte es nicht, die beliebte 35-Stunden-Woche abzuschaffen. Er erhöhte nur das zulässige Überstundenkontingent. Für die Deutschen bleibt der Titel des Vizeweltmeisters.

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