Wall Street:Zurück zu Gott

Die Trinity Church überragte einst Manhattan. Nun, in der Krise, bietet sie mit Hilfe der Psychologin Mary Ragan wieder Orientierungshilfe.

Moritz Koch

Der Anruf aus der Trinity Church erreichte Mary Ragan am Morgen des 15. September, nur ein paar Stunden nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers. "Wir müssen reagieren", sagte Anne Mallonee, Vikarin der Kirche. "Wir müssen helfen." Noch am selben Tag bot Ragan ihr erstes Seminar an: Stressbewältigung in unsicheren Zeiten.

Wall Street: Trinity-Kirche in Manhattan. Im Hintergrund die Lichtstrahlen im Gedenken an die Twin Towers.

Trinity-Kirche in Manhattan. Im Hintergrund die Lichtstrahlen im Gedenken an die Twin Towers.

(Foto: Foto: AP)

Die Resonanz war riesig. Banker, die um ihre Jobs fürchteten, suchten den Rat der Psychologin. Seither finden die Sitzungen zweimal pro Woche statt. Zwischen die Finanzangestellten mischen sich Rentner, die mit ansehen müssen, wie sich ihre Ersparnisse auflösen, und gelegentlich ein paar Touristen, die ihre Neugier stillen wollen.

Die Trinity Church am Westende der Wall Street war einst ein Wahrzeichen der neuen Welt. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts überragte ihr Turm die Südspitze Manhattans. Und obwohl sie längst im Schatten der Hochhäuser des Finanzviertels steht, leistet sie noch heute Orientierungshilfe.

Die Kirche ist eine Zuflucht in Zeiten der Krise. Vor sieben Jahren kamen die Helfer hierher, die nach den Terrorangriffen vom 11. September in den Trümmern des World Trade Center nach Überlebenden gruben. Heute, da das amerikanische Finanzsystem in Trümmern liegt und sich Furcht vor einer wirtschaftlichen Depression in der Stadt breitmacht, ist die Fürsorge der Psychologen und Pastoren wieder gefragt. Die Messen am Sonntag sind seit Wochen voll besetzt - und auch die Andacht widmet sich der Finanzkrise.

Reich trifft arm im Seminar

Anne Mallonee steht im weißen Gewand vor ihrer Gemeinde, neben ihr breitet der Pastor seine Arme aus. Flachbildschirme an den Säulen projizieren das Bild bis in die hintersten Reihen. "Viele Mitglieder der Trinity-Familie haben ihre Jobs verloren", beginnt der Pastor seine Predigt und zählt die Unternehmen auf, die in der Krise bereits untergegangen sind. Freddie Mac und Fannie Mae, Lehman Brothers, AIG, Washington Mutual.

Die Messe erinnert an einen Volksschulkurs. Der Pastor beschreibt, wie Investmentbanken an der Wall Street im ganzen Land Hypotheken aufkauften, sie zu Wertpapieren verschnürten und weiterverkauften. Wie sich die Banker am Glauben an ewig steigende Immobilienpreise berauschten und Familien Darlehen gewährten, die sich Kredite nicht leisten konnten. "Und so begann die Krise", fährt er fort. "Mit subprime mortgages", mit minderwertigen Hypotheken. Der Begriff aus dem exotischen Vokabular der Wall Street hallt durch das Kirchenschiff.

Ragan verzichtet in ihren Seminaren auf die Erörterung der Feinmechanik der Finanzkrise: "Ich konzentriere mich lieber auf das, was ich verstehe, und das sind die individuellen Folgen. Alkoholmissbrauch und Vereinsamung etwa." Sie versucht, Besuchern zu helfen, die physischen und psychischen Symptome ihres Stresses zu erkennen.

"Das können Kopfschmerzen, Verspannungen, Übelkeit und Schlaflosigkeit sein", sagt sie, "oder Niedergeschlagenheit, Depression und Schuldgefühle." Die Psychologin ist stellvertretende Leiterin des Psychotherapy and Spirituality Institute, nur einen Straßenzug von der Trinity Church und der Wall Street entfernt. Sie rät den Bankern, Kontakt zu Familie und Freunden zu halten. Das Wichtigste sei, sich die Last von der Seele reden zu können.

Seit Jahren schon arbeitet Ragan eng mit der Trinity Church zusammen. Sie kennt den Lebenstil der Wall-Street-Angestellten und weiß, wie sehr sie an Reichtum und Macht gewöhnt waren, die ihnen ihr Beruf verlieh. "Masters of the Universe" nannten sich die Investmentbanker, bevor sie zu Hilfsbedürftigen wurden.

Aus dem alten Selbstverständnis resultiere eine vollkommene Orientierungslosigkeit, diagnostiziert Ragan. "Sie hatten das Gefühl, Kontrolle über alles und jeden zu haben. In der Krise ging diese Kontrolle verloren." Hinzu kommt, dass Wertschätzung in der Finanzwelt nur in Gehältern und Bonuszahlungen bemessen wurde. Jetzt zerrinnt das Geld zwischen den Fingern.

"Aber ich möchte das Leid der Reichen nicht zu stark betonen", sagt Ragan. "Sie fallen trotz all ihrer Probleme noch relativ weich. Viel härter trifft die Krise die Schwächsten, etwa die Rentner und Sozialhilfeempfänger." In ihren Seminaren finden die Wohlhabenden und die Habenichtse zusammen, und gerade das betrachtet Ragan als Chance.

"Wenn diese Krise die Banker dazu bringt, sich zu hinterfragen und über Werte, Gerechtigkeit und Gemeinschaft nachzudenken, könnte sie vielleicht doch etwas Gutes haben. Unsere Gesellschaft hat Reichtum, Macht, Ruhm, Schönheit und Jugend idealisiert. All das ist vergänglich und oberflächlich. Niemals war das so offensichtlich wie jetzt."

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