Verdi-Chef Bsirske im Gespräch:"Menschenwürde ist wichtiger als Wirtschaft"

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Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske über den Nutzen der Tariftreue-Gesetze, den europäischen Wettbewerb und seinen Brief an die Bundeskanzlerin.

Detlef Esslinger

Anfang April erklärte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Gesetze mehrerer Bundesländer zur Tariftreue zu Makulatur. Die Gesetze schreiben vor, dass nur solche Firmen Aufträge der Öffentlichen Hand bekommen dürfen, die sich an Tarifverträge halten. Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, hält den Wegfall der Regelung für gefährlich.

"Der Menschenwürde und den sozialen Grundrechten muss ausdrücklich Vorrang vor den wirtschaftlichen Freiheiten gegeben werden", sagt Verdi-Chef Bsirske. (Foto: Foto: AP)

SZ: Herr Bsirske, hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs schon Schaden angerichtet?

Bsirske: Das hat es in der Tat. Immerhin ist nachträglich ein polnischer Subunternehmer legitimiert worden, der beim Bau eines Gefängnisses in Niedersachsen den Arbeitern nicht einmal die Hälfte des deutschen Bau-Mindestlohns gezahlt hat - obwohl er sich beim Land vertraglich zur Zahlung des Tariflohns verpflichtet hatte.

SZ: Sie können aber nicht verhindern, dass dieses Urteil nun auf Dauer die Entlohnung in der EU prägen wird.

Bsirske: Wir werden vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen, ob sich dieses Urteil mit der Verfassung vereinbaren lässt. Der Europäische Gerichtshof hat ja im vergangenen halben Jahr drei Urteile dieser Art gefällt. In dem niedersächsischen Fall haben die Richter entschieden: Deutsche Gesetze zur Tariftreue dürfen nicht dazu führen, dass ausländische Unternehmen bei uns ihren Wettbewerbsvorteil verlieren, den sie durch ihre niedrigeren Lohnkosten haben. Durch die EU-Entsenderichtlinie, die die Entsendung von Arbeitnehmern in ein anderes EU-Land regelt, ist das aber überhaupt nicht gedeckt. Dort steht, dass Tarifverträge und Gesetze auch dann für Beschäftigte aus dem anderen EU-Land gelten können, wenn sie nur vorübergehend bei uns arbeiten.

SZ: Dann gab es noch einen Fall aus Schweden.

Bsirske: Da erklärte der Gerichtshof einen Arbeitskampf für rechtswidrig, bei dem die Gewerkschaft in einer aus Lettland stammenden Baufirma einen Mindestlohn erkämpfen wollte. Begründung: In den schwedischen Gesetzen stehe über die Höhe eines Mindestlohns nichts, und einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag der Baubranche gebe es auch nicht. Mit anderen Worten: Gewerkschaften sollen für vorübergehend entsandte Arbeitnehmer bei Arbeitgebern aus dem EU-Ausland keine Lohnforderung mehr stellen können...

SZ:... denn um einen Lohn zu bekommen, der ohnehin gesetzlich vorgeschrieben ist, braucht niemand in einen Arbeitskampf zu ziehen.

Bsirske: Richtig. Da Streiks für bereits bestehende gesetzliche Mindeststandards keinen Sinn machen, kommt dies einem Arbeitskampfverbot gleich. Und dabei sagt das EU-Recht hier das Gegenteil: Dass das Streikrecht den Mitgliedstaaten überlassen bleibt.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie Länder und Kommunen nach Frank Bsirskes Meinung kleine Unternehmen fördern können.

SZ: Und der dritte Fall?

Bsirske: Da fanden die Richter, eine finnische Gewerkschaft bedrohe die Niederlassungsfreiheit einer Reederei, wenn sie bei ihr einen Tarifvertrag nach finnischem Recht fordere, weil dieser Tarif für eine Fähre gedacht war, die die Reederei soeben nach Estland ausgeflaggt hatte. Die Menschenwürde müsse in Einklang mit der Niederlassungsfreiheit gebracht werden - das steht in dem Urteil wirklich drin! Ich habe daher Briefe an Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Parteivorsitzenden geschrieben, damit sie auf eine Ergänzung des EU-Vertrags hinwirken. Der Menschenwürde und den sozialen Grundrechten muss ausdrücklich Vorrang vor den wirtschaftlichen Freiheiten gegeben werden.

SZ: Die Kanzlerin dürfte derzeit andere Sorgen haben, als ihrerseits Nachbesserungen zum EU-Vertrag zu verlangen.

Bsirske: Nun, die Arbeitsbedingungen von Millionen Menschen in unserem Land sollten ihr wichtig genug sein. Umso unverständlicher, dass sie mir vergangene Woche, übrigens vor dem Nein Irlands, geantwortet hat, eine Ergänzung des Vertrags wäre in der EU nicht durchsetzbar. Ob der Versuch Chancen hätte, würde sich zeigen. Aber es gar nicht erst zu versuchen, heißt, das verfassungsrechtliche Problem nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Die Bundesregierung nimmt es hin, dass die Richter des Europäischen Gerichtshofs den Lebensnerv eines sozialen Europas durchtrennen und die Menschenwürde, die Kernnorm unserer Verfassung, sowie die Tarifautonomie bedrohen, also die Grundfesten des deutschen Tarifsystems. Und das steht der EU nach dem Grundgesetz nicht zu. Deshalb unsere Verfassungsklage.

SZ: Im niedersächsischen Fall war es so, dass sich die Landesregierung über ihre Niederlage vor Gericht sogar gefreut hat.

Bsirske: Na ja, warum wohl. Das dortige Tariftreuegesetz stammt noch aus der SPD-Zeit, seit sechs Jahren regieren dort aber CDU und FDP.

SZ: Und in Nordrhein-Westfalen hat die CDU/FDP-Regierung das Gesetz abgeschafft, weil fast keine Gemeinde vor der Vergabe von Aufträgen prüfte, ob sich eine Firma an Tarifverträge hält.

Bsirske: Das ist doch wohl eine Ohrfeige für diejenigen, die für den Vollzug von Gesetzen zuständig sind. Im Land Nordrhein-Westfalen sind die Vergabestellen also nicht gesetzestreu gewesen. Ein denkbar schlechtes Zeugnis, das man sich da ausstellt.

SZ: Warum sollen Arbeitnehmer, deren Firmen Aufträge des Staates wollen, eigentlich einen Schutz bekommen, den es bei privaten Bauherren nicht gibt?

Bsirske: Es ist richtig, dass die Marktmacht der Öffentlichen Hand genutzt wird, um Arbeitnehmer, ihre Tarifverträge und unsere sozialen Sicherungssysteme vor ausländischer Dumpingkonkurrenz zu schützen. Das hilft zugleich dem heimischen Handwerk und Mittelstand und bewahrt uns vor zusätzlicher Arbeitslosigkeit, die anschließend noch über Hartz IV abgedeckt werden muss.

© SZ vom 17.06.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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