Verbraucher wehren sich:Sammelklagen durch die Hintertür

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Erstmals vertritt eine US-Kanzlei in Deutschland eine Vielzahl von Verbrauchern vor Gericht. Hat das Manöver Erfolg, verändert es das Rechtssystem grundlegend.

Von Klaus Ott, München

Der Paragraf 260 ZPO hat in Deutschland bislang keine besondere Rolle gespielt, aber das dürfte sich jetzt ändern. Die wenig beachtete Vorschrift könnte rasch Karriere machen. Wegen der Abgasaffäre. Sollte ein Musterverfahren gegen Volkswagen beim Landgericht Braunschweig für die mehr als 15 000 Kläger, alles VW-Kunden, erfolgreich enden, dann hätte das weitreichende Folgen für das deutsche Justizsystem. Sammelklagen und horrende Schadenersatzzahlungen, wie sie in den USA längst gang und gäbe sind, wären plötzlich auch hierzulande möglich. Und zwar obwohl die Bundesregierung untätig war, obwohl sie neue Regeln für den Verbraucherschutz seit Jahren verschleppt. Denn damit überlässt sie jenen Anwaltskanzleien und Firmen das Feld, die für eine ganz andere Rechtskultur stehen. Für eine Klageindustrie, für eine "Amerikanisierung" des deutschen Rechtssystems, wie manche Politiker befürchten.

ZPO bedeutet Zivilprozessordnung. In der ist geregelt, wie Bürger und Unternehmen gegeneinander vor Gericht gehen können. Der Paragraf 260 besagt, mehrere Ansprüche gegen denselben Beklagten könnten zu einem Verfahren verbunden werden. Diesen Umstand wiederum will sich die aus den USA stammende Kanzlei Hausfeld zunutze machen, um zusammen mit einem internationalen Prozessfinanzierer über die Vorschrift 260 ZPO Massenklagen von Verbrauchern in Deutschland einzuführen. Durch die Hintertüre gewissermaßen. Haben Kanzleigründer Michael Hausfeld und sein Berliner Statthalter Christopher Rother Erfolg, dann dürfen sich Banken, Energiekonzerne, Handelsketten und viele andere Großunternehmen auf viele Klagen dieser Art gefasst machen. Wie in den USA, wo Schadenersatz in Milliardenhöhe längst üblich ist. Nicht nur im Fall VW.

Die Kunden haben ihre Ansprüche an eine Kanzlei abgetreten

Hausfeld verlangt beim Landgericht Braunschweig im Namen von 15 372 deutschen VW-Kunden 358 Millionen Euro von dem Autokonzern. Der Vorwurf lautet, die von Volkswagen als weitgehend sauber verkauften Dieselfahrzeuge seien in Wahrheit Dreckschleudern gewesen; die Abgasmessungen seien manipuliert worden. Der Clou an der Klage: Die Kunden haben ihre vermeintlichen Schadenersatzansprüche an eine Hamburger Firma namens My Right abgetreten. My Right hat also viele Ansprüche gesammelt, und macht diese nun über Paragraf 260 in einem einzigen Verfahren geltend. Eine trickreiche, allerdings auch teure Konstruktion für eine Musterklage. Diese Prozessvariante kostet mehrere Millionen Euro.

Hausfeld und My Right haben das Geld. Von der in den USA und Großbritannien ansässigen Prozessfirma Burford, deren Aktien an der Londoner Börse gehandelt werden. Die angloamerikanische Firma verdient an Prozessen, auf eine in Deutschland bisher noch nicht sehr weit verbreitete Art und Weise. Burford stellt Kapital bereit, mit dem Verfahren bezahlt werden, die sonst nicht möglich wären. Weil finanzstarke Gegner wie Volkswagen ohne das Burford-Kapital viel länger durchhalten könnten. Die Prozessfirma geht also in Vorleistung, und kassiert hinterher im Erfolgsfalle einen Großteil der erstrittenen Gelder. In der Sache VW wären das unter Umständen mehr als 100 Millionen Euro, bei zehn Millionen eingesetztem Kapital. Eine Riesen-Rendite. Oder ein großes Minus, sollte Hausfeld verlieren. Burford und ähnliche Firmen finanzieren viele Prozesse und spekulieren darauf, genügend Verfahren zu gewinnen, dass unter dem Strich ein schönes Plus herauskommt.

Auch die deutsche Verbraucherzentrale mit Sitz in Berlin und deren Chef Klaus Müller würden Volkswagen gerne verklagen. Dann ließe sich grundsätzlich klären, ob neben den 500 000 von der Abgasaffäre betroffenen US-Kunden bei Volkswagen auch die deutschen Verbraucher Anspruch auf Schadenersatz haben. Hierzulande geht es um 2,4 Millionen Autokäufer. Doch die Verbraucherzentrale hat kein Geld für eine teure Klage nach 260 ZPO. Wer diesen Weg wählt, muss dem Gericht nachweisen, dass er bei einer Niederlage die hohen Prozesskosten bezahlen kann. Ein anderer Weg wäre eine kostengünstige Verbandsklage für eine Vielzahl betroffener Kunden. Doch die gibt es bislang nicht, obwohl das Bundesjustizministerium längst einen Entwurf erarbeitet hat.

Verbraucherschützer haben Angst vor der Kommerzialisierung des Rechtssystems

Vor allem das von Alexander Dobrindt (CSU) geleitete Verkehrsministerium blockiert dieses Vorhaben. Dobrindt will VW und andere Autokonzerne offenbar schützen. Erreichen könnte der Verkehrsminister das Gegenteil, sollte Hausfeld mit der Sammelklage über den Umweg 260 ZPO Erfolg haben. "Klagen wie die der Kanzlei Hausfeld stehen für eine Kommerzialisierung des Rechtssystems", sagt Verbraucherschützer Müller. Hausfelds deutscher Statthalter Rother entgegnet, anders sei es nicht möglich, VW-Kunden zu ihrem Recht zu verhelfen. Die große Mehrzahl der Verbraucher scheut teure Klagen gegen finanzstarke Konzerne. Erst recht, wenn ein Gegner wie Volkswagen kategorisch erklärt, man stelle bei den Fahrzeugen in Europa die Mängel ab. Ohne Schaden kein Schadenersatz. Zum 260 ZPO äußert sich VW nicht.

Dafür aber Verbraucherschutz-Vorstand Müller. Er ist gespannt, ob das Braunschweiger Landgericht "die gebündelte Geltendmachung einer Vielzahl von Ansprüchen akzeptieren" werde. Bei einer ganz anderen Klage, wegen eines Zementkartells, hat die deutsche Justiz nach Angaben der Verbraucherzentrale eine solche Klage aus "abgetretenen Ansprüchen" abgewiesen. Allerdings nur, weil die Kläger nicht genug Geld vorstreckten, um bei einem Scheitern die Prozesskosten zu zahlen. Bei Hausfeld, My Right und Burford ist das jetzt anders. In Deutschland stellt Burford 30 Millionen Euro für Prozesse bereit. Außer für den Streit mit VW auch für Klagen gegen Lkw-Hersteller wie Daimler, die ein von der Europäischen Union schließlich aufgedecktes Kartell gebildet hatten. Und von denen Lkw-Abnehmer nun Schadenersatz fordern.

Die Schattenseiten dieses Systems sind in den USA zu beobachten. Die dort entstandene Klageindustrie führt zu immer höheren und immer absurderen Forderungen. Anwaltskanzleien suchen von sich aus nach möglichen Rechtsverstößen und Klägern. Eine hohe Beteiligung dieser Industrie an Schadenersatzsummen schaffe "natürlich ganz andere Anreize für die Prozessführung", sagt Verbraucherschützer Müller. Er plädiert, als "Alternative zu solchen kommerziell getriebenen Klagen", für eine Stärkung der Verbraucherverbände. Damit diese etwa gegen überhöhte Stromrechnungen vorgehen könnten. Und in anderen Fällen, in denen viele Tausend oder gar mehrere Millionen Kunden betroffen sind. Ob Müllers Hoffnung erfüllt wird, ist fraglich. FDP und Grüne hatten die Musterklage durchsetzen wollen, doch Jamaika ist geplatzt. Union und SPD haben sich bisher schon nicht auf ein solches Klagerecht für die Verbraucherverbände einigen können.

Italienische VW-Kunden haben es da leichter, sie können sich bereits zusammentun. Der dortige Verbraucherverband Altroconsumo verklagt den deutschen Autohersteller im Namen von rund 90 000 Kunden; es geht um rund 400 Millionen Euro. Eine erste Anhörung bei Gericht ist für den 6. Dezember angesetzt.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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