Verärgerung über London:Es kann Jahre dauern

Lesezeit: 3 min

Die Wirtschaft in Großbritannien wartet ab. Auch der Siemens-Konzern hält sich vorerst mit Investitonen zurück.

Von K.-H. Büschemann, B. Finke, London

Die britische Wirtschaft ist nach dem Brexit-Referendum verunsichert wie selten zuvor, und Jürgen Maier, der Chef der Siemens-Tochtergesellschaft in Großbritannien, glaubt nicht, dass dieser Zustand schnell zu Ende sein wird. "Es kann Jahre dauern", sagt Maier im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, bis die Unternehmen genau wüssten, wie das künftige Verhältnis der Insel zu Europa sein werde. "Das wird nicht in sechs Monaten gehen", sagt der Mann mit dem österreichischen Pass. Er ist seit zwei Jahren an der Spitze von Siemens in Großbritannien. Sein Urteil: "Die Regierung hat keinen Plan."

Maier, Jahrgang 1964, ist mit den Verhältnissen auf der Insel vertraut. Er lebt seit seinem zehnten Lebensjahr in Großbritannien und arbeitet seit 30 Jahren bei Siemens. Sein Fazit gut eine Woche nach dem Austritts-Referendum ist ernüchternd. "Keiner weiß, wie es weitergeht."

Fachleute erwarten, dass es jetzt zu einer längeren Phase des Abwartens kommt und Investitionen erst einmal unterbleiben. Im Land wächst die Sorge vor Arbeitsplatzverlusten und einer Rezession. Das Land werde leiden, erwartet Maier, weil es stark auf Importe angewiesen ist. "Das bringt Inflationsdruck."

Jürgen Maier leitet seit zwei Jahren die Siemens-Tochtergesellschaft in Großbritannien. Der Österreicher ist seit 30 Jahren für den Konzern tätig. (Foto: imago/ZUMA Press)

Seit der Abstimmung geht es scheinbar nur noch um Politik. Die EU ringt mit London über das künftige Verhältnis zu Großbritannien. Doch zuvor müssen die Briten den Nachfolger für den scheidenden Premierminister David Cameron finden. In London geht die Meinung um, das Land sei nicht handlungsfähig. Ein Albtraum für Investoren.

Die britischen Unternehmer sind verärgert: "Unsere Mitglieder verzweifeln an der Politik", sagt Adam Marshall, Chef des britischen Handelskammer-Verbands BCC. Auch der britische Arbeitgeberverband klagt: "Die Wirtschaft braucht eine Regierung, die politische Spiele unterlässt und Führung übernimmt", erklärt die Verbandsvertreterin Carolyn Fairbairn. "Seit einer Woche ist die Welt verändert. In der Wirtschaft gibt es große Sorgen."

Wird es zwischen der Insel und dem Kontinent künftig Zölle geben, die Produkte verteuern? Wird es bei der Freizügigkeit für die Menschen bleiben? Großbritannien will den freien Zugang von Personen aus der EU auf die Insel nicht mehr akzeptieren, will aber den Zugang zum Binnenmarkt behalten. Doch für die EU geht nur beides zusammen. Eine Hängepartie droht, in der Unternehmen nicht entscheiden können.

Die britische Regierung selbst verschob bereits den Beschluss, den chronisch verstopften Flughafen London-Heathrow auszubauen. Zudem gibt es Zweifel, ob die geplante Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke zwischen London und Birmingham wirklich kommt. Sie ist teuer, und Geld wird knapp sein, wenn die Ungewissheit nach dem Referendum die Wirtschaft in einen Abschwung stößt. Auch ausländische Investoren zögern. Siemens hat bereits bekannt gegeben, den geplanten Ausbau der Produktion von Windenenergieanlagen im Lande zu stoppen. Das sorgte für erhebliche Aufmerksamkeit im Land, weil der Konzern von Großbritannien aus den gesamten, stark wachsenden europäischen Markt für Windenergietechnik versorgen wollte. Das ist einstweilen gestoppt. Maier: "Bei weiteren größeren Investitionsentscheidungen werden wir abwarten." Der französische Stromkonzern EDF, so wird befürchtet, könnte den Bau eines geplanten Atomkraftwerks in England abblasen. Das Projekt ist riskant, die Finanzierung schwierig. Der Brexit erhöht die Unsicherheit

Siemens-Manager Maier hat aber die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es am Ende gute Beziehungen geben wird zwischen Großbritannien und der EU. "Aber wir wissen nicht genau, ob wir später ohne Zölle liefern können."

Großbritannien ist der viertgrößte Auslandsmarkt des deutschen Konzerns. Dort macht Siemens mit 14 000 Beschäftigten etwa sechs Milliarden Euro Umsatz. Das sind etwa acht Prozent des Konzernumsatzes. Dieses Geschäft wird betroffen sein, wenn es zu Einschränkunken im Personenverkehr zwischen Großbritannien und dem Kontinent kommen wird. Das sei die unausweichliche Folge des Referendums. "Das wird uns in den kommenden Monaten sehr beschäftigten." Es könnte sogar zu einem Visumzwang kommen, fürchtet Maier. "Alle Unternehmen brauchen jetzt einen Plan B."

Es werde in jedem Falle im Verhältnis zum Kontinent "mehr Bürokratie geben und nicht weniger". Das wäre das Gegenteil von dem, was die Brexit-Befürworter in ihrer Kampagne den Wählern versprochen haben.

Maier bietet der Regierung in London wie den EU-Politikern Hilfe an. "Wir als Unternehmen können gemeinsam mit den Politikern an Lösungen arbeiten." Der Konzern sei in Brüssel mit Experten vertreten "Wir können als europäisches Unternehmen unterstützen."

Auch wenn Maier die Schwächung der Konjunktur erwartet, hat er sich einen Restoptimismus bewahrt: "Die ersten Anzeichen", so sagt er, deuten darauf hin, "dass es nicht so schlimm wird". Siemens stehe zum britischen Markt. "Wir werden bleiben."

© SZ vom 04.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: