US-Justiz:Redefreiheit

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Nicholas Merrill darf endlich über alle Punkte der FBI-Anfrage sprechen. Mehr als ein Jahrzehnt hat er dafür gekämpft. Im Gericht durfte er nur im Publikum sitzen.

Von Hakan Tanriverdi, New York

Mehr als elf Jahre hat Nicholas Merrill dafür gekämpft, sich vom FBI nicht den Mund verbieten zu lassen. Jetzt hat er Erfolg. Merrill betrieb die Webhosting-Firma Calyx Internet Access, Kunden zahlten für Speicherplatz. Das FBI wollte Informationen über einen Kunden - und zwang Merrill, die Anfrage zu verschweigen. Nach US-Recht darf das FBI diese Verschwiegenheit, gag order genannt, verlangen.

Doch Merrill klagte. Ein Richter urteilte im August, dass Menschen nicht auf unbestimmte Zeit zum Schweigen verdonnert werden können. Der Richter räumte der Regierung 90 Tage ein, um Einspruch zu erheben. Diese Frist ist nun verstrichen, der Maulkorb ist weg. Es ist das erste Mal, dass eine gag order komplett annulliert wird. Nun darf Merrill reden, und wichtiger, er darf die Anfrage veröffentlichen.

Die Weitergabe von Funkzellen verwandelt Smartphones in Wanzen

Bis zu diesem Montag war lediglich bekannt, dass das FBI Kunden- und Nutzerdaten abfragen darf. Unklar waren die Ausmaße. Das FBI verlangte Auskunft zu 17 Punkten, darunter sämtliche URL-Adressen, die einem von Merrills Firma gehosteten Nutzerkonto zugewiesen waren, alle von seinem Kunden getätigten Online-Käufe der vergangenen 180 Tage und sämtliche Funkzellen, in denen der Kunde eingeloggt war.

Merrill und seine Verteidiger von der Yale University interpretieren die Anfrage nach den URL-Adressen als den Wunsch des FBI, den gesamten Suchverlauf einsehen zu können. Google verarbeitet eine Anfrage, zum Beispiel nach Süddeutsche Zeitung, mit einer spezifischen URL. Das Wort Suchverlauf verwendet die Behörde allerdings nicht. Nach Überzeugung der Anwälte aber enthält das Dokument auch die Aufforderung, sämtliche IP-Adressen von Menschen preiszugeben, mit denen ein Nutzer in Kontakt stand.

"Diese Daten geben die intimsten Details über unser Leben preis", sagt Merrill: "Unsere politischen Aktivitäten, religiösen Überzeugungen, unsere Kontakte und auch unsere Gedanken." Die Weitergabe von Funkzellen verwandle Smartphones in eine Wanze. Das FBI teilte in der Vergangenheit mit, solche Daten inzwischen nicht mehr anzufordern. Nach elf Jahren Rechtsstreit ist Merrill erleichtert. "Ich habe ein Viertel meines Lebens damit verbracht, um mein Recht zu kämpfen, über diesen Fall zu reden", so Merrill. Durch das Urteil sieht er sich bestätigt.

Merrill erhielt die FBI-Anfrage in Form eines National Security Letter (NSL). Nach den Anschlägen im September 2001 bekamen US-Behörden mit dem Patriot Act weitreichende Befugnisse, um potenzielle Terroristen aufzuspüren. Sie änderten die Vorgaben, wann und wie NSLs eingesetzt werden dürfen. Eine der Neuerungen: Ein konkreter Tatverdacht ist nicht mehr von Nöten. Es reicht, wenn eine Ermittlung "relevant" ist, um Terroranschläge zu verhindern. Die Behörde verschickt einer von Präsident Barack Obama eingesetzten Expertenkommission zufolge 60 NSL pro Tag.

Merrill hatte über die Jahre bereits Teilsiege errungen. Unter anderem darf er seit 2010 öffentlich sagen, eine FBI-Anfrage erhalten zu haben. Die Anklage selbst reichte er als "John Doe" ein, das entspricht dem deutschen "Max Mustermann". Bei seinen eigenen Gerichtsterminen durfte er nur im Publikum sitzen. Seiner Freundin durfte er nicht erzählen, dass er sich mit Anwälten traf. Die Anwälte selbst wussten nicht, ob sie Merrill unterstützen dürfen: "Wir hatten keine Antwort, da wir bis dato keinen NSL zu Gesicht bekommen hatten", schreibt Jameel Jaffer von der Bürgerrechtsgruppe ACLU.

"Es war eine furchtbare Zeit", sagte Merrill im Oktober sz.de. Er wohnt mittlerweile in Bay Ridge, eine ruhige Gegend im Süden des New Yorker Stadtteils Brooklyn. Er betreibt schon lange keine Firma für Webhosting mehr. Stattdessen will er Menschen dazu bringen, ihre Online-Kommunikation vor Angreifern abzusichern. Dazu wollte er einen Telekommunikationsanbieter gründen, der die Daten seiner Kunden gar nicht kennt und somit gar nicht in der Lage wäre, eine Anfrage des FBI zu verarbeiten.

© SZ vom 02.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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