Übernahme:Wundervoll

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Raummiete zahlen? Für viele Start-ups in der Berliner "Factory" ist das kein Problem. (Foto: Krisztian Bocsi/Bloomberg)

Microsoft hat für mehr als 100 Millionen Dollar das deutsche Start-up 6 Wunderkinder gekauft. Ein Signal.

Von Varinia Bernau, München

Die einen halten Berlin für dreckig und abgewrackt. Die anderen für authentisch und inspirierend. London, Tel Aviv und San Francisco locken Gründer mit schnellen Internetleitungen, renommierten Hochschulen und üppigen Steuervorteilen. Berlin tat lange Zeit nichts - und trotzdem tummeln sich dort die Kreativen. Selbst Amerikaner, die als die Taktgeber in der digitalen Wirtschaft gelten, beobachten aufmerksam, was da in Berliner Hinterhöfen gesponnen wird.

Ein amerikanischer Konzern, dem diese Experimentierfreude verloren gegangen ist, hat sich nun eine dieser spinnerten Truppen geschnappt: Der Softwarekonzern Microsoft kauft das Berliner Start-up 6 Wunderkinder. Für wie viel? Das ist offiziell nicht bekannt. Das Wall Street Journal bezifferte den Kaufpreis auf 100 bis 200 Millionen US-Dollar.

Rein rechnerisch entstehen in Berlin täglich zwei Start-ups. Aber viele scheitern auch

Das Start-up wurde vor fünf Jahren gegründet - und ist vor allem für die App Wunderlist bekannt, mit der man sich Notizen machen und an wichtige Dinge erinnern lassen kann. 6 Wunderkinder gilt als eines der erfolgreichsten Start-ups aus Berlin. Bereits ein knappes Jahr nach der Gründung sammelten die Wunderkinder 4,2 Millionen US-Dollar bei einer Londoner Investorengruppen um Niklas Zennström ein. Der Mann hat einst den Telefondienst Skype gegründet und diesen später ebenfalls an Microsoft verkauft. Mit dem so erlösten Geld hilft er nun der nächsten Gründergeneration auf die Beine. Vor eineinhalb Jahren stieg dann auch noch der renommierte kalifornische Risikokapitalgeber Sequoia Capital mit 19 Millionen Dollar bei den Berliner Wunderkindern ein.

Solche Finanzierungsrunden bringen nicht nur Geld. Die Investoren reichen auch wertvolle Erfahrung weiter. Sie zeigen, wie man aus einer guten Idee ein gutes Geschäft macht. Und sie helfen mit wertvollen Kontakten.

Für die Apps der Wunderkinder hatten sich zuletzt etwa 13 Millionen Menschen angemeldet. Das Ziel, das Firmengründer Christian Reber ausgegeben hat, sind allerdings 100 Millionen Anmeldungen. Mit Microsoft als Eigentümer dürfte diese Marke schneller zu knacken sein - vor allem wenn es darum geht, Kunden aus Unternehmen zu gewinnen, die für ein paar Extras in den Apps eine Gebühr zahlen. Damit machen die Wunderkinder ihr Geld. Als Anbieter von Computerprogrammen für den Büroalltag hat Microsoft einen guten Draht zu solchen Geschäftskunden. Sie schließen Verträge über einen längeren Zeitraum ab, sind nicht so sprunghaft und auch nicht so knauserig wie der Privatmann.

Die einfache Ausführung der Wunderlist soll zunächst kostenlos, auch der Preis für die Profi-Variante unverändert bleiben, versicherte Microsoft.

Für den Konzern ist die Übernahme eine Art Frischzellenkur: Einen großen Teil seines Jahresumsatzes von 86 Milliarden Dollar macht der Konzern noch immer mit seiner PC-Software - und viele Versuche, auf neuen Feldern, mit Internetdiensten oder Smartphones, Fuß zu fassen, sind gescheitert. Deshalb umgarnt der alte Riese die jungen Gründer. Der Konzern braucht sie, um sein Geschäft in jene Zeit zu retten, in der sich die Leute nicht mehr vor den Computer setzen, sondern viel unterwegs erledigen - und zwar auf dem Smartphone. Mit den digitalen To-do-Listen der Wunderkinder könnte Microsoft also aufrüsten. Erst kürzlich übernahm der Konzern mit Acompli bereits einen auf Smartphones spezialisierten E-Mail-Dienst und mit Sunrise Atelier einen für Smartphones optimierten Kalender.

Und es gibt noch einen, der von dem Deal profitiert: Berlin. Rein rechnerisch entstehen in der Stadt an einem Tag zwei neue Start-ups. Aber in Berlin scheitern Gründer auch häufiger als in Hamburg oder in München. In keiner anderen deutschen Stadt gibt es so viele Start-ups, die eine Menge Geld verdienen, aber auch so viele, die wenig Geld verdienen: Jedes zehnte Berliner Start-up macht einen Jahresumsatz von zehn Millionen Euro, aber eben so viele machen auch gar keinen Umsatz. Häufiger als anderswo finanzieren sich die Berliner Gründer über Risikokapital. Das aber fließt nur so lange, wie sich die Investoren auch etwas davon versprechen. Berlin ist ein Labor. Ein Ort zum Herumspinnen. Gemessen aber wird der Erfolg einer Gründerszene letztlich an den großen Deals. Nur wenn es die gibt, kommt auch die nächste Generation von Ideengebern nach Berlin - und mit ihr die nächste Generation von Investoren.

© SZ vom 03.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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