Türkei:Die EU und ihr ewiger Beitritts-Aspirant

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In Istanbul hat die türkische Wirtschaft längst europäisches Niveau erreicht - nun zittern die Unternehmer, denn am 17. Dezember fällen die Europäer ihre Entscheidung, ob und wie es weiter geht mit den Verhandlungen.

Von Christiane Schlötzer

Als Nejat Eczacibasi die erste moderne Pharma-Fabrik der Türkei errichtete, da jaulten rund um das Fabrikgelände nachts die Wölfe, auf einem Hügel irgendwo vor Istanbul.

Ein halbes Jahrhundert später baut Sohn Bülent Eczacibasi auf dem selben Hügel inmitten von Wohn- und Geschäftstürmen einen Wolkenkratzer. Die Hälfte der Luxus-Apartments in der halbfertigen Wohnmaschine ist schon verkauft.

Istanbul boomt, und die türkische Wirtschaft erlebt Höhenflüge, mit einem Wachstum, das bis Jahresende den OECD-Rekord von knapp zehn Prozent erreichen soll. "Der Aufschwung ist noch fragil", sagt Bülent Eczacibasi, "aber nicht so gefährdet wie früher", als auf Boom-Phasen stets Krisen folgten.

"Die Türkei erlebt Reformen, die für dieses Land undenkbar waren", sagt Eczacibasi, der größte Pharma-Produzent der Türkei. Die Unabhängigkeit der Zentralbank, Gesetze, die Barrieren für ausländische Investoren abbauen, all dies zählt für den Unternehmer, der 1949 in Istanbul geboren wurde, zu den fast revolutionären Taten der jetzigen Regierung.

Die "totale Transformation"

Eczacibasi sieht sein Land "vor einer totalen Transformation". Dies, sagt der Mann in seinem eleganten Büro mit moderner türkischer Malerei an den Wänden, sei bereits "ein Erfolg der EU-Annäherung der Türkei".

Am 17. Dezember entscheiden die EU-Regierungschefs, ob und wann die Türkei offizielle EU-Verhandlungen aufnehmen darf, wie dies die Regierung in Ankara und nach Umfragen 70 bis 75 Prozent der Türken wünschen.

Durch ein positives Votum, so ist Eczacibasi überzeugt, werde die Türkei erreichen, was sie am meisten brauche. "Das ist Stabilität und eine transparente Bürokratie." Die Ezcasibasi-Holding, eine Firmengruppe mit Milliardenumsatz, ist längst in Europa präsent.

Sanitärkeramik der Marke Vitra wird in Irland produziert und hat in Deutschland bereits 13 Prozent des Markts erobert. Vitra-Fliesen zieren den Flughafen München und das Deck des Luxusliners Queen Mary.

Gülin Bozkurt kann nicht auf fast ein Jahrhundert Firmengeschichte zurückblicken wie Eczacibasi, aber an Unternehmergeist fehlt es der 35-Jährigen ebenfalls nicht.

Als Gülin Bozkurt mit ihren Schwestern Pelin und Tülin vor zwei Jahren ihre Textilfirma schuf, hatte sich das Land noch nicht von der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten erholt. "Wir haben es trotzdem riskiert", sagt die quirlige Chefin von Three B.

Das B. steht für den Mädchenname der Schwestern. Gülin Bozkurt ist geschieden. Dass geschiedene Frauen so selbstbewusst auftreten, ist für die Türkei neu. Die Schwestern haben eine junge, urbane Aufsteiger-Generation im Blick. Und die ist zunehmend weiblich.

Deshalb produziert Three B. Klassiker, nur etwas anders: weiße Hemden für die Business-Frau. "Professional Shirt" nennt das Gülin Bozkurt und sagt: "Frauen haben immer Mühe, gute weiße Hemden zu finden." Die Schwestern entwerfen, lassen nähen und vertreiben alles selbst.

Boutiquen in Frankreich und Spanien gehören bereits zu ihren Abnehmern. "Für Stückzahlen von 500 bis 1000 ist die Türkei eine gute Adresse. Wenn sie 10.000 Stück wollen, gehen sie besser nach China", sagt Gülin Bozkurt. 130 Euro kostet ein Hemd von Three B. in Paris, bei 30 Euro Produktionskosten.

"Unsere Arbeitskosten liegen unter EU-Niveau", sagt die Jungunternehmerin, die sich wünscht, dass die Türkei dennoch den Weg in die EU geht. "Wir rechnen mit einer Anpassungszeit von rund 15 Jahren." Europa ist für die Schwestern schon vertraute Nachbarschaft.

Sie reisen zu Modemessen in Italien. "Dort haben sie die Ideen, wir haben die Technologie." Und sie laden ihre Kunden nach Istanbul ein. "Die kommen gern, gehen Fisch essen am Bosporus und sagen, sie wollen die Produktion kontrollieren", erzählt Gülin Bozkurt lachend.

Einst hat die türkische Textilindustrie mit Billigprodukten ihren Ruf ruiniert. In den achtziger Jahren, als Premier Turgut Özal das Land schon einmal nach Westen öffnete, gab es Exportprämien. Da wurden sogar leere Kisten ausgeführt oder Pullover mit nur einem Arm. Heute fertigen Gucci, Prada und Versace Nobelware in der Türkei.

Elcin Antipas kann den jüngsten Wirtschaftsboom an ihrem Verbrauch an belgischer Schokolade ablesen. Antipas bestückt Groß-Büffets. Sie hat ihre Catering-Küche gegenüber einer Istanbuler Feuerwehrbrigade errichtet. Dort seien weniger Verkehrsstaus zu befürchten, sagt die Herrin über Pasta und Profiterol. "Wir müssen zu unseren Kunden genauso schnell ausrücken."

An Einsatz mangelt es nicht

Als im November 2002 die islamisch-grundierte AK-Partei von Premier Tayyip Erdogan an die Macht kam, hatte Frau Antipas Angst. "Ich dachte, ich muss mein Geschäft schließen." Niemand würde mehr verschwenderische Büffets bestellen, mit alkoholischen Getränken dazu, dachte sie.

Nun gibt es Empfänge wie nie zuvor. 13 Caterings mit jeweils rund 300 Leuten an einem Tag, das war jüngst Firmenrekord. Über ihr Land sagt Antipas: "Uns fehlt nur Organisationsfähigkeit, am Einsatz mangelt es nicht. Wir Türken arbeiten so hart und lächeln noch dabei."

Abdurrahman Ariman hatte lange Zeit keinen Grund, sich zu freuen. Ariman war 14 Jahre lang Generalsekretär der Vereinigung der ausländischer Investoren in der Türkei. "Da wurde ich Pessimist", sagt Ariman und zeigt eine Weltbank-Studie von 2001 zum Investitionsklima. Vom Landerwerb bis zum Telefonanschluss, "überall war die Türkei am langsamsten".

"Nun ist alles besser"

Zwischen 1990 und 2000 stagnierten die Auslandsinvestitionen in der Türkei bei einer Milliarde US-Dollar jährlich, während China einen Anstieg von 3,5 auf 103 Milliarden erlebte. "Nun ist alles besser", versichert Ariman in seinem lichtdurchfluteten Büro in einem Istanbuler Geschäftsviertel. Wer wolle, könne in der Türkei an einem Tag eine Firma gründen.

"Die Erdogan-Regierung war anfangs unerfahren", erzählt der Ökonom. Die neuen Machthaber aber ließen sich beraten, auch von Ariman. "Das war wie in Camp David." Regierungsexperten und Business-Leute gingen gemeinsam in einem abgeschiedenen Ort bei Ankara in Klausur. "Wir haben die Türen geschlossen, bis es ein Ergebnis gab."

Das Parlament hat inzwischen eine Fülle von Reformen gebilligt. Die Türkei sei, was die Bedingungen für Investoren betreffe, "nun ein schönes Fußballfeld", sagt Ariman, "aber es fehlen noch die Spieler". Immer noch verfüge das Land über keine Investment-Agentur, die Interessenten suche.

26 regionale Agenturen sind nun geplant, "weil in Europa heute Regionen konkurrieren", wie Ariman weiß. Für die zentralistische Türkei ist auch die Regionalisierung eine Revolution, an die sich zuvor keine Regierung wagte.

Ariman sieht in kommunalen Infrastrukturprojekten große Chancen für Investoren. Istanbul beispielsweise müsse ganze erdbebengefährdete Stadtviertel sanieren. "Da gibt es interessante Kombinationen mit touristischer Infrastruktur", meint der Wirtschaftsberater. Wenn man ihn fragt, warum sich die Türkei so lange abgeschottet hat, urteilt Ariman kurz und hart: "Paranoia und Fremdenfeindlichkeit."

Die Wende kam mit einer Regierung, "die ihre Wurzeln nicht im Staatsapparat hat". Und mit der Wirtschaftskrise von 2001. Damals war oft von teuren Schuhen die Rede. "Es gibt bei uns das Sprichwort: Sogar die Schuhe sind teurer geworden, was heißt, bald wirst du barfuß gehen", sagt Ariman.

Der türkische Aufschwung lässt sich auch an der Zahl der Investment-Berater ablesen, die sich in Istanbul niederlassen. Der Grieche Andonis Filippidis, geboren 1968 in Stuttgart, ist aus Deutschland in die Türkei umgezogen. "International Business Development" steht auf seiner Visitenkarte.

Vor seinem Büro mit Bosporusblick liegt die Ruine einer griechischen Grundschule. Die brannte 1955 aus, als türkischer Mob gegen griechische Einrichtungen wütete. Die Ruine steht unverändert bis heute. Filippidis sagt, er fühle sich heute in der Türkei gut aufgenommen.

"Griechen und Türken haben eigentlich die selbe Mentalität, wir sind unkompliziert und direkt." Griechenland habe den EU-Anpassungsprozess zudem schon durchlebt. "Dies verbindet uns mit der Türkei und erleichtert die Kontakte." Die Frau des jungen Griechen ist Türkin. Das Paar hat sich in Deutschland kennen gelernt.

Selim Demiren saß jüngst im Berliner Hotel Adlon mit dem türkische Premier Tayyip Erdogan und dem deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder am Tisch. Demiren gehört zur Spitze des Türkischen Industrie-Verbandes Tüsiad, ist Präsident der Deutsch-Türkischen Handelskammer mit Sitz in Istanbul und sein eigenes Unternehmen, die Taylan Holding, produziert für die exportstarke Baubranche.

In Demirens Büro hängt das Bild seines Großvaters. Der studierte in Deutschland, wie der Enkel auch, Wirtschaftsingenieurwesen in Karlsruhe. Der Industrie-Verband Tüsiad steht in der ersten Reihe der Pro-EU-Lobby der Türkei. Tüsiad-Repräsentanten bereisen derzeit die europäischen Hauptstädte.

"In Frankreich waren die Gespräche eine einzige Katastrophe", stöhnt Demiren. "Die Leute dort sind nach der Osterweiterung der EU verunsichert." Die türkische Wirtschaft aber sei "wettbewerbsfähiger als die Bulgariens oder Rumäniens".

Fast zehn Jahre Zollunion hätten das bewiesen. "Viele haben gedacht, das hält die Türkei nie aus", erinnert Demiren. Vor 35 Jahren hätten die Ausfuhren der Türkei zu 86,5 Prozent aus Agrarprodukten bestanden. "Heute haben die Industriewaren diese Marge erreicht."

Es wird noch Jahre dauern

Wäre die Türkei ein kleines Land, mit fünf statt 70 Millionen Einwohnern, gäbe es in der EU gewiss weniger Ängste, meint der Unternehmer. Für die Türkei werde die Anpassung an EU-Standards, vom Umweltschutz bis zur Lebensmittelsicherheit, aber auch nicht leicht. "Viele Türken wissen nicht, dass vor ihnen noch ein steiniger Weg liegt", sagt Demiren.

Viele seiner Landsleute, so ist Bülent Eczacibasi überzeugt, "und auch viele Europäer glauben, die Türkei werde schon morgen EU-Mitglied". Aber es werde Jahren dauern, sagt der Chef der Traditionsfirma.

Eczacibasi, dessen Großvater schon Medizin produzierte, als die Türkei noch Typhus und Cholera bekämpfte, sieht in einer türkischen EU-Mitgliedschaft "nur eine Fortsetzung eines langen Wegs nach Westen".

© SZ vom 27.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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