Tarifstreit bei der Bahn:Die Mechanik des Streiks

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Der frühere Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube über die aktuelle Auseinandersetzung - und warum die Bundesregierung gut beraten ist, sich aus dem Tarifkonflikt der Bahn herauszuhalten.

Hinrich Lehmann-Grube

Die kleine Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) will für die Lokführer einen eigenen Tarifvertrag durchsetzen, und ihre Forderung für eine Lohnerhöhung beträgt weiterhin 31 Prozent.

Maßlos oder angemessen? Die große Bahn will nur eine mäßige Lohnerhöhung zugestehen und im bisherigen Tarifsystem bleiben. Starrköpfig oder weitsichtig?

Dies ist schon ein Tarifkonflikt besonderer Art. Normalerweise geht es bei Tarifstreitigkeiten nur um Geld, um mehr oder weniger Geld. Das kann schwierig genug sein. Zu berücksichtigen sind dabei einerseits die Inflationsrate, die Beteiligung der Arbeitnehmer an gesteigerter Produktivität und die Lohn- und Gehaltsentwicklung in anderen Branchen, andererseits die Wettbewerbssituation bei den Unternehmen beziehungsweise den Arbeitgebern in der jeweiligen Branche.

Oft macht eine Gewerkschaft, die besonders kampfstark zu sein glaubt, den Vorreiter für die Anderen. Die Verhältnisse sind in diesem Fall übersichtlich, so schwierig eine Einigung auch sein mag. Irgendwann, mit oder ohne das Druckmittel des Streiks, werden die Parteien zu einem Kompromiss kommen.

Der Konflikt zwischen Bahn und GDL ist viel komplexer. Für beide Seiten geht es nicht nur um Geld, sondern um langfristig angelegte Ordnungssysteme. Erschwerend für die Bahn kommt hinzu, dass die Wirkungen einer tariflichen Selbständigkeit der Lokführer auf das gesamte Lohn- und Gehaltsgefüge der Bahn kaum vorauszusagen sind.

Beide Seiten kämpfen mit legalen Mitteln

Die GDL ihrerseits wird dadurch geschwächt, dass sie auf die sonst übliche publizistische Unterstützung der anderen Gewerkschaften verzichten muss. Die beiden anderen Bahngewerkschaften, Transnet und GDBA, haben kein Interesse daran, dass der GDL eine Sonderrolle eingeräumt wird.

Beide Seiten kämpfen mit den konventionellen, legalen Mitteln. Die Lokführer streiken, hier und da und tageweise, und setzen damit die Bahn unter Druck. Der wirkt nicht nur unmittelbar, zum Beispiel durch finanzielle Verluste und großen organisatorischen Mehraufwand. Wichtiger ist wahrscheinlich der mittelbare Druck, der durch die wachsende Unzufriedenheit vieler Bahnkunden entsteht.

Sie sind ja die wirklich Leidtragenden, sind oft auf die Nutzung der Nah- und Regionalverkehrszüge angewiesen. Nicht jeder kann auf Fahrrad oder Auto umsteigen, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen oder seine Geschäftspartner zu besuchen.

Aber auch eine GDL steht unter Druck. Beliebig lange und beliebig weit kann sie den Streik nicht ausdehnen. Wer streikt, erhält keinen Lohn, sondern nur Streikunterstützung durch seine Gewerkschaft.

Wie voll aber sind die Kassen der GDL? Es gehört zum Handwerkszeug der Gewerkschaften bei der Planung und der Ausführung eines Streiks, die Streikaktionen ebenso sparsam wie wirkungsvoll einzusetzen, um die Lohnausfälle der Streikenden gering zu halten und die eigene Streikkasse zu schonen.

Beide Seiten werden wissen, dass die veröffentlichte und die öffentliche Meinung einen großen Einfluss auf den Ausgang des Konflikts haben. Nicht nur frustrierte Bahnkunden bilden sich eine Meinung und nehmen Partei. Auch unbetroffene, interessierte Bürger wägen die Argumente, haben Erwartungen an die eine oder die andere Seite oder auch an die Politik, die doch für Ordnung und Harmonie sorgen soll.

Der teilnahmsvolle Beobachter der Vorgänge sollte fest damit rechnen, dass alle Verlautbarungen und alle Schritte beider Seiten darauf abzielen, sein Verständnis und seine Sympathie zu gewinnen - nicht jedoch darauf, ihn über Tatsachen und Hintergründe zu informieren. Das gilt für öffentlich präsentierte Angebote der Bahn ebenso wie für gesundheitsbedingte Abwesenheiten des Gewerkschaftsvorsitzenden.

Sind Lösungen in Sicht? Zwei der klügsten und erfahrensten Konfliktmanager Deutschlands, Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf, haben nur Aufschub im Arbeitskampf erwirkt, aber keine inhaltliche Lösung. Schlichter, Vermittler oder Moderatoren sind keine Richter.

Sie können nur sorgfältig fragen, um die wahre Interessenlage der Parteien in Erfahrung zu bringen. Das ist meist schwierig und kann lange dauern, weil es strategische und taktische, lang- und kurzfristige, sehr gewichtige und weniger wichtige Interessen gibt.

Es kann einem Schlichter passieren, dass eine Partei ihre Interessenlage selbst gar nicht richtig einschätzt, und dass er beim Sortieren helfen muss. Nur auf der Grundlage einer sorgfältigen Abwägung der Interessen beider Seiten können Schlichter raten und empfehlen. Erzwingen können sie eine Einigung nicht.

Es mehren sich die Stimmen, die fordern, die Bundesregierung als Eigentümer der Bahn sollte sich einschalten. Das erscheint auf den ersten Blick plausibel. Ein längerer Streik, auch wenn die Aktionen nur hier und da und nur tageweise stattfinden, ist eine schwere Belästigung für Hunderttausende Bahnkunden und verursacht in der gesamten Wirtschaft beträchtlichen Schaden.

Der Streit muss einige Wochen weiterkochen

Es ist daher gut, wenn der Bundesverkehrsminister die Parteien mahnend auf die Folgen hinweist. Aber vor einer direkten Einflussnahme - jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt - kann man nur warnen. Die Bundesregierung ist, als Eigentümer der Bahn, Partei. Eine Einflussnahme ihrerseits würde die Fronten wahrscheinlich verhärten.

Ich erinnere mich: Bundeskanzler Willy Brandt hatte 1974 in einem schweren Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst mit der gutgemeinten Äußerung, die Lohnerhöhung dürfe nicht zweistellig sein, ganz unerwartete Wirkungen erzielt und Schaden verursacht. Denn die Gewerkschaft ÖTV interpretierte die Äußerung so, dass 9,9 Prozent auf jeden Fall bewilligt seien - forderte 15 Prozent und schloss mit 11 Prozent ab. Dies ist nun mal der Mechanismus von Tarifverhandlungen.

So wie es heute aussieht, sind Bahn und Gewerkschaft noch weit von einer Einigung entfernt. Wahrscheinlich muss der Konflikt mit Streikaktionen, Angeboten und Verhandlungsrunden noch ein paar Wochen weiterkochen, bis der Schaden für einen oder für beide größer wird als der angestrebte Vorteil.

Prognosen über den Ausgang haben nur den Wert eines Orakels. Fatal wäre es, wenn nicht unterschiedliche sachliche Interessen der Parteien, sondern Ehrgeiz und Machtstreben einzelner Akteure den Gang der Dinge bestimmen würden. Dann könnte es noch lange dauern bis zu einer Einigung.

© SZ vom 23.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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