SZ-Serie: Was blüht - und was nicht:"Das Bier war eine rechte Plörre"

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Die Nordmanns aus Niedersachsen expandierten mit ihrem Getränkegroßhandel gen Osten und kauften eine Brauerei in Stralsund. Der Anfang war schwer.

Von Elisabeth Dostert, Stralsund

Jürgen Nordmann, 54, baut. Der Zaun an der Greifswalder Chaussee in Stralsund steht schon. Nordmann baut eine Schroterei und eine Malzsiloanlage, er erweitert den Gär- und Lagerkeller. Irgendwie baut Nordmann eigentlich immer. Er und seine Familie, die Wessis, haben Anfang der 90er Jahre von der Treuhand die Stralsunder Brauerei gekauft, eines der vielen Zerfallsprodukte des VEB Getränkekombinat Hanseat Rostock. Erinnerungsstücke werden heute im Internet gehandelt. Viel gibt es nicht dafür, ein paar Euro für einen Bierdeckel. Erinnerungen sind manchmal voller Makel. Auch deshalb hat Nordmann seine Brauerei 2011 umbenannt. Sie heißt nun Stoertebeker, wie der Seefahrer und das Festspiel auf Rügen.

Nordmanns Geschichte ist nicht schnell erzählt. Es braucht Zeit, um zusammenzuwachsen. Es gab heitere Momente, Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Fehler und Erfolge. "Wir haben vieles falsch eingeschätzt. Aber es war auch schwer einzuschätzen, wie das System wieder in Gang kommt, wie der Wandel verlaufen wird", sagt Nordmann. Das alte System will er nicht bewerten: "Ich habe nicht darin gelebt, ich weiß nicht, wie schwer es war, sich fern zu halten von der Parteipolitik und von der Stasi. Es gehört schon Mumm dazu gegenzuhalten - in jedem System."

Sie waren früh dran im Osten. Im Februar 1990 fuhren die Nordmanns - Vater Fritz und die Söhne Fritz-Dieter, Jürgen und Oliver - aus Wildeshausen bei Oldenburg zum ersten Mal nach Rügen. Einen Monat zuvor hatten die niedersächsische Stadt und der Inselkreis eine Partnerschaft geschlossen. Der Rat des Kreises machte sich Sorgen um die Verpflegung der Inselbewohner und der Touristen in der Sommersaison. Ob nicht die Nordmanns mit ihren Getränken und Reinhold Stöver mit seinen Fritten kommen könnten, fragte der Rat an.

Die Nordmanns sind Getränkegroßhändler, die Stövers mit ihrer Firma Agrarfrost aus Aldrup in der Wildeshauser Geest verarbeiten Kartoffeln zu Puffer, Flocken und Pommes. "Schon im April 1990 lieferten wir die ersten Getränke nach Rügen", erinnert sich Jürgen Nordmann.

Er hatte damals gerade sein BWL-Studium beendet. Die Aufgaben seien "neu, schwierig und komplex" gewesen. In keinem Studium der Welt lernt man deutsche Wiedervereinigung. "Wir mussten in einem noch sozialistischen System eine Firma in Gang bringen", erzählt Nordmann, "wir mussten uns in Pläne einfügen." Ohne Einverständnis der ostdeutschen Einzelhändler, der volkseigenen Handelsorganisationen HO und des genossenschaftlichen Konsum, durfte man nicht liefern. "Wir mussten vor Ort sein."

"Wir haben vieles falsch eingeschätzt", sagt Jürgen Nordmann heute.

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(Foto: Matthias Sandmann)

1991 übernahmen er und seine Familie die Stralsunder Brauerei - und mussten ganz von vorne anfangen.

2011 gaben sie dem Betrieb einen neuen Namen: Stoertebeker Braumanufaktur.

Das Sudhaus der Stralsunder Brauerei.

Müssen, müssen - in die Pflicht nahm die Familie sich selbst am stärksten.

"Das war kein Ausland. Wir fühlten uns norddeutsch, die auch."

Zweifel kommen ihnen nie. Dafür sorgt schon Senior Fritz, der mehr nach Gemeinsamkeiten suchte als nach Unterschieden. "Die Mecklenburger reden auch Plattdeutsch wie wir Zuhause", sagte er den Söhnen: "Die passen zu den Nordmanns. Die sehen die Welt so wie wir. Die sind bodenständig, die halten zusammen." Der Sohn hat die Worte des Vaters verinnerlicht, er führt sie weiter. "Wir sind dem Wasser verbunden, die auch. Das war kein Ausland. Wir fühlten uns norddeutsch, die auch."

"In den ersten Monaten wollten alle Saft", erzählt Nordmann. "Das Cliff-Hotel auf Rügen stellte sich den Keller voll mit Tomaten- und Ananassaft. Die hatten Angst, dass es mit der Wende ganz schnell wieder vorbei ist." Die Vier merken schnell, dass die Geschäfte auf Rügen anders laufen als in der Heimat. "Diese ausgeprägte Saisonalität kannten wir nicht." Im Januar und Februar seien die Umsätze im Getränkehandel auf ein Drittel des durchschnittlichen Niveaus gesunken, im August - zur Ferienzeit - sprangen sie auf 150 Prozent. In den ersten Jahren nach der Wende sei die Saisonalität noch ausgeprägter gewesen, dafür sei die einheimische Bevölkerung stärker gewesen. Dann setzte die "Westflucht" ein.

Im Sozialismus sei nach der Arbeit sehr viel getrunken worden, nach der Wende blieben die Leute abends Zuhause, erzählt Nordmann. Das Geld reichte nicht für alle Arten des Konsums, darunter habe besonders die Gastronomie gelitten. "Wenn die Menschen Geld übrig hatten, gönnten sie sich anderes, Urlaub zum Beispiel."

Die Nordmanns stellen sich darauf ein. Sie suchen einen Ausgleich für die Schwankungen im Getränkegroßhandel. Sie müssen. Im Spätsommer 1990 fahren sie zum ersten Mal nach Rostock zur Treuhand: der Vater, die Söhne und ihr Steuerberater. Sie wollen die Stralsunder Brauerei kaufen, das Risiko streuen. Aber die Treuhand will nicht. Es gibt andere Interessenten, Brauerei-Konzerne aus dem Westen. In den Anfangsjahren des wiedervereinten Deutschlands gibt es einen regelrechten Run auf die ostdeutschen Marken - Bitburger, Paulaner, Holsten klopfen an. Ostmarken wie Radeberger, Wernesgrüner und Lübzer hatten schon in der DDR einen "hervorragenden Namen", sagt Nordmann: "Die lieferten auch Dosenbier an Discounter im Westen. Im Gegenzug bekamen sie dann bessere Abfüllanlagen und produzierten eine bessere Qualität."

Es hat lang gedauert, die Marke aufzubauen. Die Menschen mussten erst überzeugt werden

1991 kommen die Nordmanns dann doch bei der Stralsunder Brauerei zum Zug. Eine Million D-Mark zahlen sie dafür. "Als wir hierher kamen, standen schon ein Dutzend Lieferanten auf dem Hof, die ihr Geld verlangten. Der eine wollte eine halbe Million, der andere 700 000." Die Familie merkt schnell, dass "die Bücher und die Auswertungen der Treuhand nicht stimmten. Die Million war zu viel." Damit nicht genug. "Das Bier war eine rechte Plörre, weil in der DDR Rohstoffe fehlten. Das Wasser war falsch aufbereitet. Die Anlagen waren einfach so zusammengeschraubt und mussten ersetzt werden", sagt Nordmann. "Wir mussten Marke und Glaubwürdigkeit erst wieder aufbauen."

25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion Eine SZ-Serie, Teil 20 und Schluss (Foto: SZ-Grafik)

Einen Großteil der vormals rund 600 Mitarbeiter habe die Treuhand schon entlassen, die Nordmanns fangen mit 150 Beschäftigten an. Sie liefern ausschließlich Fassbier. "Für die Einheimischen blieb Stralsunder auf Jahre vorverurteilt und chancenlos, auch als die Qualität besser wurde." Bis 1995 stürzte der Absatz von 100 000 Hektolitern zu DDR-Zeiten auf 10 000 ab. Zur Brauerei gehört auch eine Quelle, die lassen sich die Getränkegroßhändler als Mineralbrunnen anerkennen. "Das Wasser hat uns gerettet."

Ein paar Mal dachten die Nordmanns, dass sie es geschafft hätten. 1998, als sie wieder beginnen, Flaschenbier abzufüllen, sei ihnen klar gewesen, dass sie endlich das richtige Portfolio hatten, "das, was wir uns schon 1991 vorgestellt haben." Dann begann die Suche nach einem neuen Namen. Im Familienrat entschieden sie sich für Stoertebeker. Bei der Durchsicht alter Papiere hatten sie festgestellt, dass sie die Markenrechte schon besaßen, weil die Brauerei früher das Bier für die Rügenfestspiele über das Leben von Klaus Stoertebeker geliefert hatte. 2002 brauen sie in Stralsund das erste Weißbier. "Das war ein Tabubruch. Ein Norddeutscher braut doch kein Weizen." Nordmann grinst.

2004 stirbt der Vater. 2010 teilen die Söhne die Firmengruppe unter sich auf. Fritz-Dieter und Oliver übernehmen den Getränkegroßhandel, die Marke Ratsherrn Brauerei in Hamburg, die mittlerweile vom Markt verschwundene Limonadenmarke Bios, einige Fritz Braugasthäuser, ein Hotel in Binz und den Öko-Hof Landwert im Greifswalder Bodden. Jürgen Nordmann bekommt die Brauerei und zwei Braugasthäuser. Bis heute seien in Stralsund 50 Millionen Euro in die Brauerei investiert worden, etwa ein Drittel machten staatliche Fördermittel aus. "Aber das ist kein geschenktes Geld", sagt Nordmann. Der Staat verliere nur dann Geld, wenn die geförderte Firma pleitegehe. "Wir haben Arbeitsplätze geschaffen."

Bis zum Jahr 2010 habe es gedauert, die Marke Störtebeker aufzubauen. Nordmann: "Das lag nicht an der Qualität, das lag an den Köpfen. Die Menschen verbanden mit Stralsunder schlechte Zeiten." Seit 2011 firmiert das Unternehmen als Störtebeker Braumanufaktur. "Jetzt nehmen uns die Leute ab, dass wir Spezialitäten in hoher Qualität brauen", sagt Nordmann. Er profitiert vom Trend zu Produkten aus der Region und sogenanntem Craft-Beer, handwerklich hergestellten Bieren.

Nordmann schickt seine Mitarbeiter auf Sommelier-Kurse. "Wir beschreiben Geschmacksprofile, Aromen und Sensorik wie beim Wein." Bei der Weltmeisterschaft der Biersommeliere Mitte Juli in São Paulo belegte Braumeister Frank Lucas den zweiten Platz. 25 000 Besucher nahmen 2014 an den Führungen durch die Brauerei und an den Verkostungen teil. Zwölf Sorten der Marke Stoertebeker hat Nordmann im Angebot und vier der Marke Stralsunder.

Nordmann kann lang über Sude und Würze reden. "Mit rund 140 000 Hektolitern Störtebeker Bier sind wir immer noch eine kleine Brauerei", sagt er. Sie arbeite mittlerweile wirtschaftlich, und soll auch wachsen. Die Existenzängste seien verschwunden. Er will nirgendwo anders mehr leben. Seine Heimat bleibe Wildeshausen, die "Plattform fürs Leben", die ihm seine Eltern gegeben haben. "Aber ich gehöre hier hin an die Küste." Seine Frau stammt aus Schwerin. Die Kinder sind hier geboren. Nordmann klingt wie einer, der angekommen ist.

© SZ vom 29.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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