SZ-Serie: Generation D:Krankenbett auf Türkisch

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Vier Millionen Muslime leben in Deutschland. Drei Studentinnen bauen für diese Menschen nun eine spezielle Altenhilfe auf - sogar Pfleger werden geschult.

Varinia Bernau

Aljona Fröhlich weiß, wie viel Kraft es kostet, sich in einem fremden Land zurechtzufinden. Vor 15 Jahren kam sie aus Kasachstan nach Deutschland.

Aljona Fröhlich (Mitte) studiert soziale Arbeit und hat mit ihren Kommilitoninnen Tatjana Rempel (rechts) und Funda Mercan ein Konzept für ambulante Altenpflege von Muslimen entwickelt. (Foto: Foto: oh)

"Die neuen Eindrücke haben mich völlig überfordert. Ich wusste nicht einmal, wie ich um Hilfe bitten konnte", erzählt sie. Zum Beispiel wie und wo man Wohnungsgeld beantragt. "Vielen Einwanderern geht es genauso", weiß die 37-Jährige.

Deshalb will sie nun selbst helfen. Gemeinsam mit Kommilitoninnen hat die Studentin des Fachs Soziale Arbeit an der Fachhochschule Koblenz ein Konzept zur ambulanten Altenpflege für Muslime entworfen.

Lamm statt Schweineschnitzel und eine rituelle Waschung

Altersheime mit diesem Anspruch gibt es bereits, etwa in Berlin oder im Ruhrgebiet. Dort steht Lamm statt Schweineschnitzel auf dem Speiseplan und es gibt einen kleinen Gebetsraum. Das Personal kennt traditionelle türkische Gesänge und die Gebote der rituellen Waschung.

Doch gerade unter den Einwanderern aus der Türkei ist die Pflege in der Familie weit verbreitet. Das Seniorenheim gilt nicht selten als Schande. "Muslime verstehen Krankheiten oft als eine Bestrafung Gottes, der sie sich stellen müssen", sagt Fröhlich.

Auch deshalb scheuten sich viele, Pflegegeld zu beantragen - selbst dann, wenn sie es dringend brauchen. "Mit unserem Angebot müssten ältere Menschen nicht aus ihrem Alltag herausgerissen werden und die pflegenden Angehörigen würden zugleich entlastet."

Und: Eine ambulante Altenpflege für Muslime könnte auch denen zugute kommen, die nicht in den Ballungszentren leben. In Koblenz etwa, meint Fröhlich, würde sich kein Sozialverband an ein Pflegeheim mit solch speziellem Zuschnitt wagen.

Auch die Studentinnen mussten rechnen, wie teuer ihr Projekt ist. Wann lohnt es sich, Geräte anzuschaffen - und wann, Mitarbeiter auf Fortbildungen zu schicken, um sie mit kulturellen und religiösen Besonderheiten vertraut zu machen?

Das Konzept, das die Studentinnen für den Wettbewerb Generation-D eingereicht haben, sieht so aus: In einem ersten Schritt sollen bestehende Migrantendienste eine Anlaufstelle bieten.

Hilfe bei Anträgen, an denen selbst viele Deutsche verzweifeln

Dort können türkischsprachige Mitarbeiter den Einwanderern beim Ausfüllen von Anträgen helfen, an denen auch viele Deutsche verzweifeln. In einem zweiten Schritt sollen dann Pfleger ausgebildet werden, die nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur der Muslime in Deutschland verstehen.

"Wenn man bei der Pflege bestimmte Rituale nicht einhält, verletzt man viel mehr als nur den Körper", sagt Fröhlich. Wie sie stammen auch ihre Mitstreiterinnen aus Einwanderer- und Spätaussiedlerfamilien.

Großer Markt: vier Millionen Muslime in Deutschland

Den Bedarf kann das Team statistisch begründen: Im Jahr 2030 werde jeder Vierte der über 60-Jährigen in Deutschland ein Einwanderer sein. Einer Studie zufolge leben heute bereits vier Millionen Muslime in der Bundesrepublik, weitaus mehr als bisher angenommen. Für die große Mehrheit spielt die Religion eine zentrale Rolle.

Aus diesen Zahlen lässt sich jedoch nicht nur die Herausforderung für die deutsche Gesellschaft ablesen, sondern auch eine Chance: Schließlich, argumentiert Fröhlich, leben diejenigen, die über die notwendigen sprachlichen und kulturellen Kenntnisse für die spezielle Pflege verfügen, längst in Deutschland: Es sind die Kinder aus den Einwandererfamilien.

"Ein Nebeneffekt, aber ein sehr wichtiger: Wenn wir es schaffen, die Pflege für ältere Muslime auszubauen, könnten wir auch mehr türkische Jugendliche in den Arbeitsmarkt integrieren."

© SZ vom 17.07.2009/kfa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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