SZ-Geldwerkstatt:Raus aus der Psycho-Falle

Lesezeit: 4 min

Die Aktienmärkte schwanken derzeit so wenig, dass es manchen schon wieder Angst macht. Sie fühlen sich an das Jahr 2007 erinnert. Doch ist das überhaupt vergleichbar?

Von Harald Freiberger, München

Die Lage der Weltwirtschaft und an den Börsen ist derzeit so gut wie seit zehn Jahren nicht. Eine positive Konjunkturnachricht folgt auf die nächste, egal ob für Deutschland, die USA oder die Schwellenländer. Die Aktienkurse klettern von Rekord zu Rekord, egal ob in Deutschland oder in den USA. Kleine Schwächeperioden wie in den vergangenen Tagen beeinträchtigen die gute Stimmung kaum.

Manchen Experten ist dieser Frieden jedoch nicht geheuer, und oft unterstreichen sie ihre Skepsis mit dem Argument der derzeit "niedrigen Volatilität". Das bedeutet, dass die Aktienmärkte kaum schwanken. Eigentlich möchte man meinen, dass dies ein gutes Signal sein müsste. Denn stark schwankende Märkte sind immer auch ein Zeichen von großer Nervosität. Also müsste umgekehrt Ruhe doch etwas Positives sein. Das Argument lässt sich aber auch umdrehen, und dann wird aus der Ruhe die "Ruhe vor dem Sturm". Benjamin Melman von der Vermögensverwaltung Edmond de Rothschild drückt es so aus: "Anlass zur Sorge gibt momentan allenfalls die Sorglosigkeit."

Die Volatilität an den Aktienmärkten lässt sich messen. Das Barometer dafür in Deutschland ist der V-Dax (siehe Grafik). Die Kurve sagt aus, für wie schwankungsanfällig die Investoren den Deutschen Aktienindex (Dax) halten, der wiederum die deutsche Wirtschaft spiegelt; in ihm befinden sich die 30 größten Aktiengesellschaften des Landes. Errechnet wird der V-Dax aus den Preisen für Optionen auf den Dax, die in 30 Tagen fällig werden. Der V-Dax übersetzt damit die Erwartungen von Investoren und Händlern in eine Kurve der Nervosität. Ausgedrückt wird dies in Prozentpunkten: Ein Wert von 20 beim V-Dax bedeutet: Der Markt geht davon aus, dass der Dax in den nächsten 30 Tagen um 20 Prozentpunkte nach oben oder unten geht, wobei für den aktuellen Stand 100 Prozent als Basis dienen.

Die Grafik zeigt, dass der V-Dax schon einmal bei mehr als 80 Prozentpunkten stand, nämlich im September 2008, als die US-Investmentbank Lehman pleiteging und an den Märkten Panik herrschte. Derzeit steht der V-Dax dagegen bei rund 14 und damit so niedrig wie zuletzt im Jahr 2007. Genau das ist das Argument der Skeptiker. Sie sehen die aktuelle Sorglosigkeit der Investoren als Alarmsignal, nach dem Motto: Man weiß ja, was nach 2007 folgte: die weltweite Finanzkrise.

Allerdings sind die Warner nach wie vor in der Minderheit. Die meisten Ökonomen und Anlageexperten sind überzeugt, dass man die aktuelle Situation nicht mit jener vor zehn Jahre vergleichen könne. Die Volatilität habe seitdem auch an Aussagekraft verloren. Deshalb appellieren die Optimisten an die Anleger, sich von den warnenden Stimmen nicht verrückt machen zu lassen: Die Aktienmärkte seien nach wie vor attraktiv.

Einer dieser Optimisten ist Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Bremer Landesbank. "Alle Risiken, die es derzeit gibt, werden abgefedert von der Geldpolitik der Notenbanken", sagt er. Sie sorgten mit ihrer Geldschwemme und mit niedrigen Zinsen dafür, dass die Kurse von Aktien und Anleihen sowie die Preise von Immobilien gestützt werden. Es gebe zwar latente Risiken wie den Nordkorea-Konflikt und die Tatsache, dass das Wachstum in den USA seinen Höhepunkt erreicht. Doch in weiten Teilen der Welt gebe es einen synchronen Aufschwung. Gleichzeitig sind die Notenbanken sehr vorsichtig mit der Wende ihrer Geldpolitik. Heißt: Sie werden die Märkte noch eine geraume Zeit stützen.

Niedrige Zinsen, hohe Unsicherheit - wie soll man da noch sein Geld investieren? In der "Geldwerkstatt" erklären wir aktuelle Fragen zur Geldanlage. (Foto: SZ-Grafik)

"Für Anleger folgt daraus, dass sie zwar wachsam bleiben sollten, aber kein Anlass für übermäßige Sorgen besteht", sagt Hellmeyer. Der Aktienmarkt sei weiterhin attraktiv, besonders in Europa, wo die Kurse noch nicht so stark gestiegen sind wie in den USA. Schwächephasen wie jene in den vergangenen Tagen, als der Dax von rund 13 500 auf 13 000 Punkte fiel, ließen sich deshalb durchaus für neue Käufe am Aktienmarkt nutzen.

Ähnlich sieht es Ali Masarwah von der Fonds-Ratingagentur Morningstar. "Der Vergleich mit 2007 hinkt", sagt er. Damals habe es eine Immobilienkrise in den USA gegeben, die Anleger seien hoch verschuldet gewesen. Es fehle die Vorstellung, was derzeit ein ähnlicher Auslöser für einen Kursabsturz an den Aktienmärkten sein könnte. "Nur weil Sorglosigkeit herrscht, muss noch lange kein Crash kommen", sagt der Experte. Zudem wisse niemand, ob es morgen krache oder erst in fünf Jahren. Investoren, die beim letzten Crash 2008 investiert geblieben seien, stünden heute besser da als jene, die an der Seitenauslinie gestanden hätten.

Masarwah weist auf einen für Privatanleger entscheidenden Punkt hin: Sie müssten zwischen Risikotragfähigkeit und Risikotoleranz unterscheiden. Die Tragfähigkeit hängt von den Lebensumständen ab. Ein 65-Jähriger, der mit seinem Ersparten seine Altersrente bestreiten will, kann nicht mehr viel Risiko tragen und muss seine Aktienquote reduzieren. Bei einem 35-Jährigen ist die Risikotragfähigkeit dagegen sehr groß. Die Risikotoleranz ist unabhängig vom Alter und subjektiv: Ist sie gering, bekommt der Anleger feuchte Hände und kann nicht schlafen, wenn die Kurse fallen. "Wer eine hohe Risikotragfähigkeit hat, sollte versuchen, seine eventuell geringe Risikotoleranz auszuschalten und gegen das Gefühl anzukämpfen", sagt Masarwah. Dann könne er sich über einen Crash sogar eher freuen, weil er die Zeit ausnutzen kann, die er noch vor sich hat.

Anleger laufen oft in die Psycho-Falle, sodass sie bei niedrigen Kursen nach einem Einbruch verkaufen und bei teuren Kursen kaufen. Ein guter Schutz davor ist ein regelmäßiges Rebalancing, das heißt ein Anpassen der persönlichen Aktienquote an das Marktgeschehen. Beispiel: Ein Anleger entscheidet sich nach seinem Risikoprofil für je 50 Prozent Anleihen und Aktien in seinem Depot. Beträgt der Aktienanteil nach einem Crash beispielsweise nur noch 25 Prozent, sollte dieser wieder auf 50 Prozent angehoben werden. "So fahren Anleger auf Dauer besser, als wenn sie nach einem Einbruch zusätzlich noch Aktien verkaufen, wie es vielleicht ihrem Gefühl entspräche", sagt Masarwah.

© SZ vom 20.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: