Stifterpreis für Jens Mittelsten Scheid:Mensch hilft Mensch

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In seinen Stiftungen gibt Vorwerk-Mann Jens Mittelsten Scheid Hilfe zur Selbsthilfe. Würde sein Beispiel Schule machen, wäre die Finanzkrise viel kleiner ausgefallen.

Heribert Prantl

Am Freitag erhielt Jens Mittelsten Scheid den Deutschen Stifterpreis. Die Laudatio hielt Heribert Prantl, Leiter der Redaktion Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung". Wir dokumentieren den Text.

Jens Mittelsten Scheid erhält den Deutschen Stifterpreis 2010. (Foto: Foto: A. Schellnegger)

Eine Laudatio beginnt üblicherweise mit einem Lob der Verdienste des Preisträgers. Ich möchte ein wenig davon abweichen. Ich habe mir vorgenommen, erst einmal über einen Urahn unseres Preisträgers zu reden.

Nein, ich beginne nicht mit Carl Vorwerk, der einst in Wuppertal die Barmer Teppichfabrik Vorwerk gegründet hat; es war eine Fabrik, die bald auch Achsen, Getriebe und Grammophon-Laufwerke im Angebot hatte.

Nein, ich beginne auch nicht mit dem genialen Großvater unseres Preisträgers, also nicht mit August Mittelsten Scheid, der 1907 bei den Vorwerks eingeheiratet und dann aus den zwei alten Stärken der Firma Vorwerk eine neue gemacht hat: Aus dem Grammophon-Motor und dem Fachwissen der Teppichproduktion entstand ein handlicher Staubsauger, der berühmte Staubsauger namens Kobold.

Ein grandioser, kunstliebender, verschwenderischer Ritter

Mit diesen Staubsaugern, mit den Küchenmaschinen namens Thermomix und den Bügelsystemen namens Felina wurde und wird das Geld verdient, das in den Stiftungen steckt, für die wir Jens Mittelsten Scheid auszeichnen.

Dem Preisträger zu Ehren greift meine Laudatio nicht nur hundert oder hundertfünfzig Jahre, sondern gleich zweitausend Jahre zurück. Ich möchte Jens Mittelsten Scheid damit ehren, dass ich mit dem alten Gajus Maecenas beginne, also mit dem Ahnherrn, Namensgeber und Patron aller Stifter.

Der alte Gajus Maecenas war ein grandioser, kunstliebender, verschwenderischer römischer Ritter, dem es zu verdanken ist, dass wir Horaz und Vergil kennen; Horaz, Vergil und andere Großdichter gingen bei Maecenas ein und aus.

Silberne Absätze an den Sandalen

Und dank diesen Dichtern, die Maecenas fürstlich protegierte und die sodann rühmend über Maecenas schrieben, ist sein Name zum Inbegriff des kunstsinnigen Wohltäters geworden.

Maecenas war freilich nicht ganz so, wie man sich so ein Jahrtausend-Vorbild vorstellt, er war ein Mann, der das lockere Leben liebte. Er unterhielt einen Rennstall britischer Zucht, er war ein Lebemann, der gern Mimen, Tänzer und vor allem leichte Mädchen an seinen Tisch lud. Maecenas war erstens in den jungen Tänzer Bathyllus vernarrt, zweitens in zahllose Damen, drittens in Genuss und in Luxus. Maecenas war ein Herr, der silberne Absätze an seinen Sandalen trug, der einen Hang zum lässigen Benehmen und eine Schwäche für Tafeldelikatessen hatte, deren eine er selbst kreierte: Maultierfüllenbraten.

Maecenas ließ sich von seiner Frau scheiden, heiratete sie wieder, ließ sich wieder scheiden, heiratete sie wieder - und so fort, bis zur Lächerlichkeit. Dieser Maecenas residierte auf dem Esquilin in einem turmartigen Palast, umgeben von einem phantastischen Park mit Wasserspielen, Statuen und Grotten; und auf dem Forum lief er gern mit einem luxuriösen Schal um den Hals herum.

Die zwei Seiten des Maecenas

Sein Lebensstil lief all dem zuwider, was der auf Zucht und Sitte achtende Kaiser Augustus predigte - aber Maecenas war die finanzstarke und unentbehrliche Eminenz im Backstage der Herrschaft des Augustus.

Seneca hat über Gajus Maecenas ziemlich gelästert, er hat ihn als eitel beschrieben, als elegant bis zur Stutzerhaftigkeit. Und Mommsen nannte den Maecenas in seiner Römischen Geschichte sehr gallig den "unleidlichsten aller herzvertrockneten und wortekräuselnden Hofpoeten".

Das war die eine Seite des Maecenas. Die andere: Er war großzügig, freigiebig, ja verschwenderisch, er förderte und forderte die Künstler, er gab ihnen viel und er verlangte ihnen auch viel ab. Er kitzelte dem Horaz mit opulenten Zuwendungen viele Meisterwerke heraus, unter anderem die große Schrift "über das Landleben".

Dieser seiner Neigung zu den klugen Geistern und den schönen Künsten hat es Maecenas zu verdanken, dass sein Name bald zwei Jahrtausende lang ein Ehrentitel ist - obwohl Maecenas, das ergibt sich aus den Zeugnissen der Zeitgenossen und der Nachgeborenen, auch ein ziemlicher Geck war, ein großartiger, großzügiger Geck und Angeber.

Warum schildere ich diesen Urvater der Mäzene, den alten Maecenas, so ausführlich? Weil er ein Gegenbild ist zu dem Stifter, den wir heute feiern: Jens Mittelsten Scheid ist ein Mäzen, aber kein Maecenas.

Der römische Maecenas war ein Mäzen mit Saus und Braus, Jens Mittelsten Scheid ist ein Mäzen mit Maß und Ziel. Er ist großzügig, aber er ist gleichzeitig einer der bescheidensten Menschen, die ich kenne. Sein Stolz steckt nicht in ihm, sondern in seinen Stiftungen. Er protzt nicht mit dem was er tut, er putzt sich und seine Wichtigkeit nicht heraus. Er schmückt sich nicht mit fremden Federn, sondern mit eigenen Ideen, die er sorgfältig, behutsam, wohlüberlegt verwirklicht und pflegt.

Er hat mir auch den ungewöhnlichen Familiennamen wohlüberlegt schön erklärt: Mittelsten Scheid - der Name beschreibt die Lage eines Hofes, es ist der mittlere Hof, der mittelste, an einer Wasserscheide. Jens Mittelsten Scheid ist kein Gesellschaftslöwe, sondern ein Gesellschaftsarbeiter.

Zur praktischen Arbeit anstiften

Er ist 1941 geboren, also ein Jahr später als Rudi Dutschke. Jens Mittelsten Scheid war also ein 68er - und er ist irgendwie ein 68er geblieben, und zwar einer, der erst sehr spät gelernt hat, den Reichtum zu lieben; nicht in der Weise, dass er sich, wie andere seines Alters, der Toskana-Fraktion angeschlossen hätte und der Jagd nach Macht und Geld. Nein, er war und ist anders: Er hat erkannt, dass sich mit dem Reichtum Gutes machen lässt.

Als es so weit war, als Mittelsten Scheid also erkannte, dass man mit seinem Reichtum andere bereichern kann, war er um die vierzig Jahre alt - und er gründete seine erste Stiftung: die "Anstiftung" - und schon im ersten Projekt hat er gezeigt, warum diese Stiftung so heißt: Sie will wirklich zu etwas anstiften, zu etwas sehr Praktischem, sehr Handfestem.

Dieses erste Projekt, mittlerweile 22 Jahre alt, heißt "Hei" - und "Hei" ist die Abkürzung von "Haus für Eigenarbeit". Es ist ein Haus, in dem jeder lernen kann, wie man mit Schweißgerät und Bohrmaschine umgeht, es ist ein Werkstätten-Haus, in dem jeder Silber schmieden, Tische bauen, Sofas polstern, in dem jeder Buchbinden und Töpfern kann, in dem jeder unter meisterlicher Anleitung erfahren kann, was er alles kann.

Widerstand gegen die Wegwerfgesellschaft

Dieses Haus für Eigenarbeit ist ein sehr zentral, sehr gut erreichbar gelegenes Haus am Münchner Ostbahnhof, von oben bis unten voll mit Gerät, mit Maschinen und Werkzeugen. Sie kommen dorthin mit einer Idee - und nach ein paar Wochen tragen Sie den selbstgezimmerten Schrank wie eine Trophäe heraus.

Das Haus für Eigenarbeit ist ein Haus des Widerstands gegen die Wegwerf- und Konsumgesellschaft. Es wendet sich an alle "Der-Wille-ist-da"-Menschen, ob sie nun handwerkliche Vorkenntnisse haben oder nicht: an Kaufleute, Briefträger, Büroangestellte, Banker.

Der Stifter will es den Menschen ermöglichen, "etwas Nützliches oder Schönes nach eigenen Vorstellungen und mit den eigenen Händen und dem eigenen Herzen selber zu machen". Das klingt ein wenig missionarisch, ist auch so gemeint - und es funktioniert glänzend, es finanziert sich sogar zur Hälfte selbst. Das Haus für Eigenarbeit ist eine Art Unternehmensberatung in Sachen Hilfe zur Selbsthilfe.

Sie müssen sich das so vorstellen: Sie kommen quasi in die sehr vergrößerte und modernisierte Werkstatt von Pumuckls Meister Eder, Sie stehen dann vor einem großen Tresen, schildern ihr Vorhaben, trinken einen Kaffee, erhalten ersten Rat, erste Hilfe, Anleitung und einen Laufzettel, auf dem dann im Lauf Ihrer Arbeiten vermerkt wird, welche Maschinen sie wie viele Stunden lang benutzt haben.

So kommt auch wieder Geld in Form von Nutzungsgebühren herein. In Kempten, wo der Stifter dieses Projekt noch größer aufgezogen hat als in München, refinanziert sich das dort so genannte Kempodium gar mit achtzig Prozent. 25.000 Bürgerinnen und Bürger jährlich nützen in Kempten die Werkstätten, etliche festangestellte Fachleute und viele Honorarkräfte gehen ihnen zur Hand, entwerfen Baupläne, erklären Maschinen.

Verblüffend praktisch

Das Kempodium in Kempten ist ein "Zentrum für Eigenversorgung" geworden, dort arbeiten fünfzig Ehrenamtliche, dort entwickeln Landwirte Selbstvermarktungskonzepte, dort feiern Bürger ihre Feste, Kinder ihre Geburtstage, Katholiken die Firmung, Muslime ihr Opferfest.

Im Kempodium kann man Bilder ausstellen, Fahrräder reparieren, Theater spielen. Man kann schneidern, kochen, essen, schwätzen. Im Gebrauchtwarenladen gibt es Secondhandmöbel, Hausrat, Bücher und Spielzeug. So lebendig sieht das aus, was in der Satzung "Förderung der ökologischen und sozialen Verantwortung" heißt.

So kommen Menschen aus verschiedensten Milieus und Herkunftsländern zusammen. Und die Ideen und Konzepte dafür werden ausgetüftelt in der Stiftung "Anstiftung", die eine Ideenwerkstatt ist. So wird aus dem Stiftungszweck, der in der "Förderung zukunftssichernder sozialer, kultureller und ökonomisch-ökologischer Maßnahmen" besteht, etwas verblüffend Praktisches.

Verschiedene Stiftungen, ein Leitmotiv

Mit ihren Erfahrungen aus den eigenen Projekten unterstützt Mittelsten Scheid offene Werkstätten und Kreativzentren in ganz Deutschland. Seine Stiftung "Anstiftung" gehört zu einem ganzen Strauß von Stiftungen der Familie Mittelsten Scheid - es sind Stiftungen, die sehr verschieden sind, aber alle gemeinschaftlich nach einem Leitmotiv arbeiten: Man grübelt nicht darüber nach, wie man mit den Defiziten der Menschen umgeht, sondern man sucht die Stärken der Menschen und baut darauf auf.

Die Mutter unseres Preisträgers hat als Krankengymnastin vor allem an der Rehabilitation von Querschnittgelähmten gearbeitet. Ihre Erfahrungen sind in die Ertomis-Stiftung eingegangen, gegründet von Erich und Charlotte Mittelsten Scheid, den Eltern des Preisträgers.

Vater Erich meinte, dass es keinen Grund gebe, einen Beinamputierten als erwerbsunfähig abzustempeln, wenn er doch "bei entsprechender Arbeitsplatzgestaltung den Beruf des - zum Beispiel - technischen Zeichners ausfüllen und damit seine gesellschaftliche Anerkennung und Integration erhalten könne".

Stärken der Menschen nutzen

Die Ertomis-Stiftung versucht also, Beschäftigungsprobleme dadurch zu minimieren, dass sie Behinderten einen passenden Arbeitsplatz schafft. Ertomis hat ein intelligentes System entwickelt, das einen Abgleich zwischen den Anforderungen des Arbeitsplatzes und den Fähigkeiten eines Arbeitssuchenden ermöglicht.

Nicht Defizite attestieren, sondern die Stärken der Menschen und der Gesellschaft nutzen: Das ist das Credo der Stiftungsgemeinschaft Mittelsten Scheid - und die verschiedenen Stiftungen dieser Gemeinschaft haben dieses Credo vielfach zur Blüte gebracht: durch Förderung der alternativen Medizin, durch Förderung der Denkmalpflege, der Ökologie, der Kunst und der Sozialpolitik.

Unser Preisträger Jens Mittelsten Scheid sieht in unserer ökonomischen und ökologischen Krise "letztendlich eine Krise unserer Kultur", er attestiert uns "eine Verworrenheit im Umgang mit unseren Fähigkeiten". Und er folgert, ebenso einfach wie mutig: "Diese Krise können wir nur meistern, wenn wir den Menschen in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen."

Anders gesagt: "Der Mensch ist unsere einzige Hoffnung." Mittelsten Scheid sagt es mit einem Wort, das unüblich ist, wenn's um Politik und Gesellschaft geht: Wir brauchen, sagt er, "die Haltung der Liebe" - der Liebe zu Mensch und Schöpfung.

Ich habe vorher Jens Mittelsten Scheid als einen "Tüftler des Stiftungswesens" bezeichnet. Wie wird man ein Tüftler, wie wird man ein Philosoph des Stiftungswesens?

Zum Beispiel dann, wenn man einen Techniknarren zum Vater hat, einen, der seine Familie mit den verrücktesten Fragen liebevoll traktiert: "Wie viele Teelöffel braucht man, um das Mittelmeer auszulöffeln?", fragte also Vater Erich seinen Sohn Jens. (Die Frage erinnerte ein wenig an das aktuelle Rätsel, wie viele Euro man braucht, um Griechenland zu entschulden - aber diese Frage stand damals noch nicht an).

Die Firma zu leiten, war ihm nicht verrückt genug

Die Fragen am Tisch der Mittelsten Scheids waren jedenfalls ähnlich kompliziert: "Wie bringt man das Wasser vom Amazonas in die Wüste?" Solche familiären Tüfteleien haben die Kindheit und Jugend unseres Preisträgers begleitet, und der Vater mag sich gedacht haben, dass das die richtige Vorbereitung darauf ist, einen Konzern zu übernehmen.

Dem Vater unseres Preisträgers ist aber dann passiert, was vielen Väter passiert - die Kinder wollten nicht so, wie der Vater will, sie wollten jedenfalls nicht die Firma übernehmen. Sohn Jens wollte nämlich nicht nur die verrückten Fragen seines Vaters beantworten, er wollte selber etwas Verrücktes tun (und die Leitung der Firma war ihm nicht verrückt genug): Er studierte also Philosophie - und er ertrotzte sich dieses Studium beim Vater durch ein einjähriges Praktikum in allen Abteilungen der Firma.

Die Firmenleitung bei Vorwerk übernahm höchst erfolgreich der Cousin Jörg. Und statt in den Vorstandssitzungen in Wuppertal saß Jens Mittelsten Scheid in den Vorlesungen von Hans Georg Gadamer in Heidelberg und von Reinhard Lauth in München.

Frage nach dem Sinn des Daseins

Und statt mit Unternehmensstrategien beschäftigte er sich mit dem deutschen Idealismus. Der philosophische Lehrer unseres Preisträger, Professor Reinhard Lauth, hatte 1948 mit der "Frage nach dem Sinn des Daseins" habilitiert. Das war eine Frage nach dem Geschmack unseres Preisträgers, noch viel komplizierter, umfassender, ja mächtiger und existentieller als es die Fragen waren, die der Vater ihm gestellt hatte - der "Sinn des Daseins".

Nun war der Professor Lauth, der akademische Lehrer von Jens Mittelsten Scheid, freilich nicht gerade ein Mann nach dem Zeitgeist: Er war hochkonservativ, ein Gegner von Reformen, zumal von Reformen in der katholischen Kirche, ein Gegner also des Zweiten Vatikanums; Professor Lauth war ein Anhänger des Sedisvakantismus, also ein Vertreter der Auffassung, dass es aktuell keinen rechtmäßigen Papst gebe.

Diese Ablehnung galt ausgerechnet dem wunderbaren Papst Johannes XXIII. Die Ultrakonservativität des Philosophieprofessors Lauth stand sehr quer in einer Zeit, in der die Studenten begannen, den "Muff von tausend Jahren" aus den Talaren zu klopfen.

Seine Doktorarbeit fand ein jähes Ende

Jens Mittelsten Scheid, Jahrgang 1941, war beim Ausklopfen der Talare dabei - und auch sonst bei allem dabei, was die 68er so ausprobierten: ... Kinderladen, Wohngemeinschaft, gemeinsame Kasse. Das Flugblätterverteilen war wichtiger als das Bücherlesen, die Sit-ins waren wichtiger als die Vorlesungen.

Ein Doktorand, der Flugblätter verteilt - das lag außerhalb der Vorstellungswelt von Professor Lauth. Und so kam es zum Bruch von Jens Mittelsten Scheid mit dem Professor, und die Doktorarbeit über die "Interpersonalität bei Fichte" fand ein jähes Ende. Der Idealismus unseres Preisträgers vertrug sich nicht mit dem, was der Professor unter deutschem Idealismus verstand.

Die Suche von Jens Mittelsten Scheid nach dem "Sinn des Daseins" ging anders weiter. Er schob seinen, wie er es nennt, "kapitalistischen Hintergrund" weit in den Hintergrund, er lebte sehr einfach und anspruchslos, war aber im Übrigen so eminent politisch, wie man es damals eben war - das betraf auch die Auseinandersetzungen mit den Eltern. Seine Härte bei diesen Auseinandersetzungen empfindet er "nachträglich als rücksichtslos".

Es ist diese Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, die Jens Mittelsten Scheids Leben auszeichnet und die seine Stiftungsarbeit kennzeichnet. Es begann erst einmal so etwas wie lebenspraktische Läuterung: Er arbeitete als Sozialpädagoge in einer evangelischen Kirchengemeinde in München, die Probleme mit Rockern hatte, er baute das Jugendhaus in der Münchner Steinstraße auf, wechselte in die Jugendsozialarbeit der evangelischen Kirche, begleitete Arbeitslosenprojekte, studierte, lernte, arbeitete, dachte nach, fasste an - das alles war das Fundament für seine Stiftung "Anstiftung".

Wenn man es wissenschaftlich sagen will: Jens Mittelsten Scheid lebt und arbeitet nach den Methoden der qualitativen Heuristik: trial and error, Versuch, Irrtum und Korrektur; es dreht sich bei ihm die Spirale der immer besseren Erkenntnis. Die gemachten Erfahrungen sind der Input für die nächsten Schritte.

Deshalb lässt Mittelsten Scheid seine Stiftungsprojekte wissenschaftlich betreuen, deshalb ist seine Stiftung "Anstiftung" auch ein Brain-Trust für das Mäzenatentum - und deshalb ist die von ihm geführte Stiftungsgemeinschaft so nachhaltig erfolgreich.

Jens Mittelsten Scheid ist ein Gemeinwohl-Kapitalist. Würde sein Beispiel Schule machen, wäre die Weltfinanzkrise erheblich kleiner; dann wüssten die Geldreichen um die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und die Ratingagenturen hätten ein Bewusstsein dafür, dass auch öffentliche Verantwortung in ihr Portfolio gehört.

Stiftung als Wundertüte

Es ist immer und immer wieder die Frage nach dem "Sinn des Daseins", die Jens Mittelsten Scheid umtreibt - und die ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist: Ein ganz praktisch denkender und arbeitender Stiftungsphilosoph. Als ich mit unserem Preisträger Projekte seiner Stiftungsgemeinschaft angeschaut habe, fühlte ich mich wieder so ähnlich wie als kleiner Bub, wenn ich mir auf dem Jahrmarkt eine Wundertüte gekauft habe.

Eine Wundertüte, vielleicht kennt sie nicht mehr jeder, ist eine verschlossene runde oder quadratische Tüte aus Papier, in der sich eine oder mehrere Überraschungen befinden. Das Überraschungs-Ei für Kinder ist eine Wundertüte in abgewandelter Form, bei der die Tüte durch eine Schokoladenhülle in Eiform ersetzt worden ist.

Die Stiftungen der Mittelsten Scheids sind auch solche Wundertüten: Die Hülle besteht aus Stiftungssatzungen, aus Zuschüssen und Fördermitteln - und innen drin finden sich dann die wunderbarsten Dinge: Zum Beispiel die Bilder des Franz-Marc-Museums in Kochel am See. Oder die Blumen und Kräuter in den Interkulturellen Gärten, die von Mittelsten Scheids Stiftung "Interkultur" betreut werden.

Als sei das Wort Garten ein Schatz

In diesen Interkulturellen Gärten, über hundert gibt es mittlerweile in Deutschland, pflanzen bosnische Flüchtlingsfrauen, Asylbewerber aus Iran oder aus Aserbaidschan, türkische und deutsche Frauen, Männer und Kinder Gemüse an. Der frühere Ingenieur aus Korea gräbt, hackt und jätet neben der Palästinenserin.

Im Interkulturellen Garten sind sie nicht mittellose Flüchtlinge, nicht mehr Ausländer in der Fremde, sondern gleichberechtigte Gärtner - und sie sprechen das Wort Garten aus, als sei es ein Schatz. In diesen Gärten wächst Beet an Beet das Verständnis füreinander, hier lernt jeder, ob und wie unter den neuen Verhältnissen das Altbekannte wurzelt oder nicht.

Es geht also, auf ganz besondere Weise, um Integration. In jedem dieser Interkulturellen Gärten ist man sozusagen in einem Garten der vereinten Nationen. In jedem dieser Gärten sieht man die Stiftungsphilsophie unseres Preisträgers wachsen und blühen: Ja - eine andere Welt ist pflanzbar.

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