Start-up-Kultur in Italien:Worldwide

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Ausgerechnet in Rom passiert jetzt etwas, das lange unmöglich schien: Der digitale Gründergeist kommt in Italien an. Zu Besuch bei Menschen, die von der italienischen Krise nichts mehr wissen wollen.

Von Oliver Meiler

Manchmal riecht die Zukunft nach Kaffee aus einem Automaten, selbst in Italien. Schnell gebrüht, gar nicht schlecht.

Unten, man hört sie nicht, fahren die Züge in die Stazione Termini, Roms bewegten Hauptbahnhof. Der Ort ist eine Metapher für sich, ein Sackbahnhof. Doch oben, im zweiten Stock des massiven Flügelbaus, in einer Bürohalle mit viel Licht und Glas hoch über Gleis 24, entwerfen junge Menschen mit Computern auf den Knien und den Füßen auf den Tischen Wege in die Welt. Sie erzählen von ihren Reisen: London, Madrid, Berlin, San Francisco. Sie reden so, wie man dort redet, wo schnell gedacht wird, wo jede Idee einen Slogan haben muss. Es ist ein Italienisch voller Entlehnungen aus dem Englischen: "Founder" für Gründer, "Field" für Geschäftsfeld.

"Worldwide", wird Alessandro Rossi in seinem Redeschwall gleich sagen. Er ist einer der Gründer von Cocontest, einem sozialen Netzwerk für Innendesigner, einer Paradedisziplin der Italiener. Sein "o" ist kein "ö", sein "r" rollt. Rossi, 28 Jahre alt, kommt gerade aus dem Silicon Valley, drei Monate war er da. "Sehr dynamisch", sagt er, "wenn du es dort schaffst, schaffst du es überall. Aber leben möchte ich viel lieber hier, im langsamen Rom." Von wegen Brain Drain. Er lacht, aber nur kurz, keine Zeit.

Willkommen bei Luiss Enlabs, einem Inkubator für Start-ups, einem Brutkasten für Jungunternehmer der digitalen Welt, für findige Köpfe ohne Kapital, für Kämpfer wider den Fatalismus. So nennen sie das in der Branche, mit einer Anlehnung an die klassische Geburtshilfe. Inkubatoren gibt es mittlerweile an vielen Orten. Doch dass es einen so großen, pulsierenden, blühenden Brutkasten ausgerechnet in Rom gibt, einer musealen Stadt mit schwierigem Verhältnis zur Moderne, ist eine kulturelle Sensation. Auch für die Römer selbst. Das Beispiel bricht mit dem Bild, das man sich im Ausland gemeinhin vom krisengeplagten Italien macht, gerade vom südlicheren Teil des Landes mit seiner hohen Jugendarbeitslosigkeit, seinen trüben Statistiken, den vielen Geschichten aus der verlorenen Generation.

Der Daueroptimismus des linken Premiers Mattheo Renzi passt gut zu neuen Aufbruchstimmung

"Es klingt paradox", sagt Luigi Capello, Gründer und Seele der "Innovationsfabrik", wie er sie nennt, "doch die Krise hilft uns." Keine andere Stadt Europas zähle mehr Studenten als Rom mit seinen 300 000, ein formidables Kapital kluger Köpfe mit schlechten Aussichten auf feste Stellen. Da muss man agil sein, Alternativen suchen, Ideen generieren, sich seinen Job selber schaffen. "Nach acht Jahren tiefer Krise haben alle Lust auf Aufbruch und Abenteuer", sagt er, "auch die Investoren." Vor drei Jahren konnte er Luiss, die private Universität des italienischen Arbeitgeberverbands, für sein Projekt gewinnen. Die hat einen guten Ruf. Sie gab dem Unternehmen das nötige Renommee. Staatliche Gelder erhält der Inkubator nicht. "Ist auch besser so", sagt Capello, "der Staat würde sich nur einmischen wollen." Immerhin sorgte die linke Regierung von Premier Matteo Renzi dafür, dass Start-ups und Geldgeber beträchtliche Steuererleichterungen erhalten. Die Bürokratie wurde entschlackt. Renzis Daueroptimismus passt gut zur Aufbruchsstimmung.

Bei jeder neuen Ausschreibung von Luiss Enlabs bewerben sich jeweils mehrere hundert Kandidaten um Aufnahme ins Programm. Der Platz ist knapp, die Auswahl hart. In kurzer Zeit muss alles gesagt sein. Da lernt man das schnelle Reden. Pro Wettbewerb schafft es ein halbes Dutzend in den Brutkasten, 15 im Jahr. Capello stellt ihnen Berater zur Seite, gibt ihnen je 30 000 Euro in bar und 30 000 Euro in Dienstleistungen. Nach der Brutzeit kommt die Brautschau, der Investor Day. Da buhlen die neuen Firmen um das große Geld. Mal sind es 300 000 Euro, mal 400 000, mal 500 000. "Für die Versorgung aller Start-ups der ersten Staffel brauchten wir sechs Monate", sagt Capello. Das war vor drei Jahren, als das Misstrauen noch groß war. "Bei der jüngsten Staffel im letzten Juni reichte eine Stunde, und es floss erst noch viel mehr Geld."

Das Konzept setzt sich also auch in Italien durch, der Kulturwandel scheint geschafft, zumindest über Gleis 24, in den süßen Schwaden überzuckerten Automatenkaffees. 300 Jobs konnten geschaffen werden. Wenn die Bürofläche bald von 2000 auf 10 000 Quadratmeter erweitert sein wird, wächst das Potenzial noch weiter.

Eine italienische Plage: Leistung allein reicht selten, man braucht Verbindungen und Empfehlungen

Roberto Macina sitzt mit sechs Mitarbeitern eng auf eng in einem Glaskasten. Er war schon im Fernsehen mit seiner Idee, einer App fürs Smartphone. Qurami, so heißt sie, erspart dem Nutzer das lange Schlangenstehen auf den Ämtern, eine alte italienische Plage. Dank Qurami kann man die Wartenummer auf Distanz ziehen, per Fernbedienung sozusagen, und erst dann hingehen, wenn man auch wirklich dran ist. "Banal, nicht?", sagt der Informatiker. Er kam darauf, nachdem er im Sekretariat seiner Uni eine Stunde auf ein Dokument hatte warten müssen. Die Idee ließ ihn nicht mehr los.

Macina kündigte seine Anstellung bei Telecom Italia. Nach dem Studium hatte er dort einen befristeten, schlecht bezahlten Vertrag erhalten - "einen italienischen Vertrag", sagt er und verzieht das Gesicht zur Grimasse. Er wagte den Sprung in den Brutkasten. Zu Beginn waren sie zu dritt, nun sind sie 14. Die Stadtverwaltungen von Rom, Mailand und Florenz hängten sich bei Qurami an. Kürzlich schloss Macina Verträge in Spanien und England. "In Italien wächst der Markt der Start-ups gerade exponentiell", sagt er, "es entsteht ein Ökosystem. Aber natürlich: Im Vergleich zu Amerika und Großbritannien begannen wir ja bei minus 10." Bald soll Qurami auch die Wartezeiten beim Friseur und beim Zahnarzt melden können.

Zwei Glasboxen weiter sitzen die Erfinder von WineOwine, einer Plattform für kleine Weinkellereien im verzweifelten Wettlauf mit den Großen. Eros Durante und sein Team aus Önologen, Designern und Marketingspezialisten testen Weine, gestalten die Etiketten der Flaschen, nähren das Storytelling mit schön geschriebenen Geschichten aus den Herkunftsregionen, mit Biografien der Winzer - und schlagen ihrer schnell wachsenden Community jede Woche einen Tropfen vor. So genannte "Flash Sales", Blitzverkäufe. WineOwine nimmt die Bestellungen auf, kauft dem Hersteller die Flaschen ab, verkauft sie weiter. Ohne Lager. Die erfolgreichsten Flaschen kommen in den permanenten Katalog. Die Großen der Kleinen, nennt sie Durante. Die Idee entstand bei einem Essen mit viel Wein, in einem Dorf bei Chieti in den Abruzzen, wo Durante und sein Geschäftspartner, ein Jugendfreund, herkommen. "In Italien gibt es 380 000 Kellereien", sagt Durante, "der Markt ist satt, der Wettbewerb scheinbar geschlossen." Seine App öffnet ihn ein bisschen.

Bei Cocontest, dem sozialen Netzwerk für Innenarchitekten, gelang das auf spektakuläre Weise. Kaum eine Berufsgattung litt mehr unter der Wirtschaftskrise als jene der Architekten und Innendekorateure. Gebaut wurde wenig. Schönheit war Luxus, und Luxus konnte sich kaum jemand leisten. Cocontest verwandelte den Kontakt zwischen Kunden, die ihr Daheim umgestalten wollen, und den Gestaltern. 25 000 Zeichner aus 90 Ländern haben sich schon auf der Plattform registriert. Worldwide eben. Sie nehmen online an Ausschreibungen teil, reichen ihre Projekte ein. "So kann es vorkommen", sagt Alessandro Rossi, "dass ein junger italienischer Designer ohne großes Studio im Rücken einen Auftrag für den Umbau eines Lofts in New York gewinnt und hinfährt."

Der Erfolg von Cocontest gefällt nicht allen. Unlängst wurde die Firma für eine Befragung ins italienische Parlament zitiert. Der Kommission, erzählt Rossi belustigt, habe ein Abgeordneter vorgesessen, der privat Architekt sei: "Der fürchtet wohl, dass er künftig kein Personal mehr findet, das für einen Hungerlohn für ihn arbeitet, die Eimer leert, den Kaffee bringt." So werden Jugend und Talent gebremst, auch das ist eine italienische Plage. Meist schaffen es nur Leute mit guten Verbindungen und prominenten Empfehlungen. Leistung allein reicht selten. Die Aufstiegschancen von Architekten und Innendesignern sind besonders prekär. Ein italienischer Architekt, erzählt Rossi, verdiene im Durchschnitt jährlich 17 000 Euro. "Bei uns verdienen sie viel mehr, und sie können sich endlich einen Namen machen, ein Portfolio zusammenstellen, an ihrer Zukunft bauen." Worldwide.

Die Welt der Architektur war ihm fremd, als Rossi mit seinen Partnern in den Inkubator von Luiss Enlabs stieg. Er hatte gerade sein Wirtschaftsstudium beendet, scheute die Ohnmacht der Leere, hatte Lust auf Bewegung. Nun träumt er, wie die meisten hier, von einem schönen "Exit", einem Millionenverkauf seiner Idee. Für neue Abenteuer auf neuen "Fields". In Rom, ausgerechnet.

© SZ vom 10.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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