Soziologische Speerspitze:Der Franzose Pierre Bourdieu kämpft für ein soziales Europa

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Die Zahl seiner Veröffentlichungen ist mindestens so unübersichtlich wie die der Meinungen, die man über ihn hören kann. Völlig unstrittig ist jedoch, dass Pierre Bourdieu der bei weitem bekannteste und politisch einflussreichste Soziologe und Ethnologe Frankreichs, wenn nicht Europas ist.

Gerhard Bläske

(SZ vom 10.10.2001) Seit er die große soziale Streikbewegung Frankreichs im Winter 1995 nach Kräften unterstützte, ist er zum Guru der Ultralinken und zu einer der Symbolfiguren des Kampfes gegen Globalisierung und Neoliberalismus geworden.

Der 71-jährige Soziologie-Professor am renommierten Collège de France machte nach Abschluss der Eliteschule Ecole Normale Supérieur eine außergewöhnliche akademische Karriere, unterrichtete an zahlreichen Universitäten in Frankreich, den USA, Deutschland und anderen Ländern und erhielt etliche Auszeichnungen. Bekannt wurde er zunächst durch ethnologische Arbeiten in Algerien, später durch Studien über das Schulsystem, das nach seiner Ansicht soziale Ungleichheiten reproduziert. Eine eigene Gedankenschule lehnt der stark von Karl Marx, Emile Durkheim und Max Weber beeinflusste Soziologe ab.

Für Bourdieu gibt es einen starken historischen und sozialen Einfluss auf Verhaltensweisen und Gesellschaftsstrukturen. In einem seiner berühmtesten Bücher, Die feinen Unterschiede, stellt er etwa fest, dass Gewohnheiten, Freizeitbeschäftigungen und Schönheitsideale Klassenbewusstsein ausdrücken und reproduzieren, indem sie auf subtile Weise Gruppen voneinander abgrenzen. Die von ihm gegründete Zeitschrift Actes de Recherches en Sciences Sociales hat er zum Forum für seine Ideen gemacht.

Die französische Streikbewegung von 1995 - gegen den Versuch der damaligen Regierung von Alain Juppé, das staatliche Pensionssystem zu reformieren - ließ den Freidenker in den Mittelpunkt der politischen Revolte rücken.

Schon Anfang der 90er hatte er zur Gründung einer Internationalen der Intellektuellen gegen den Neoliberalismus aufgerufen, der nach seiner Ansicht jeden sozialen Zusammenhalt zerstört. Ohne eine klare Vorstellung über eine künftige Staatsstruktur zu haben, wirft er den Politikern generell - insbesondere der traditionellen Linken - kollektives Versagen vor.

Bourdieu sieht einen engen Zusammenhang zwischen Liberalisierung und ökologischer Zerstörung, Delinquenz, Selbstmorden, Drogenmissbrauch und anderen sozialen Problemen. Er plädiert für föderale Strukturen, den Erhalt des Sozialstaates und ein "soziales Europa" als Gegengewicht zur US-Gesellschaft. Damit lehnt der Wissenschaftler sich eng an Globalisierungskritiker wie die Zeitung Le Monde Diplomatique oder die Attac-Bewegung an.

Ihm schwebt vor, trotz der auch von ihm nicht bestrittenen Gegensätze innerhalb dieser Bewegung, "gegen die Herrschaftsmeinung" ein Netzwerk von Gewerkschaften, Ökologen, Arbeitslosen und anderen sozialen Bewegungen zu gründen.

In Begriffsanlehnung an die französischen Generalstände während der Revolution gründete er die Generalstände der sozialen Bewegungen Europas, die von der Bauernbewegung José Bovés, Arbeitslosengruppierungen, Professoren und Mitgliedern von Gewerkschaften wie der IG Metall oder der IG Medien unterstützt werden und der Strömung eine internationale Dimension geben sollen. Bei Treffen der Globalisierungsgegner wie in Seattle, Davos oder Millau, dem Stützpunkt des Bauernführers José Bové, fehlt er selten.

Bourdieu übt einen starken Einfluss auf intellektuelle Kreise insbesondere auch in Deutschland aus, wo sein Buch Das Elend der Welt, in dem die sozialen Verlierer selbst zu Wort kommen, großen Erfolg hatte. Die Freie Universität Berlin und die Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität Frankfurt verliehen ihm die Ehrendoktorwürde. Die Stadt Ludwigshafen machte ihn zum Ernst-Bloch-Preisträger.

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