Sicherheitsrisiken:Deutsch-belgische Kernspaltung

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Das Bundesumweltministerium fordert Brüssel dazu auf, wegen Sicherheitsrisiken zwei Atomreaktoren vom Netz zu nehmen - aus Sorge um die Bevölkerung.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Zwischen Deutschland und Belgien bahnt sich ein ernster Streit über die belgischen Atomreaktoren Doel 3 und Tihange 2 an. Am Mittwoch wandte sich Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) an die Regierung in Brüssel, mit der förmlichen Bitte, die beiden Kernkraftwerke bis zur Klärung offener Fragen vom Netz zu nehmen. "Es wäre ein starkes Zeichen der Vorsorge", erklärte Hendricks. "Und es würde zeigen, dass Belgien die Sorgen seiner deutschen Nachbarn ernst nimmt."

Die beiden Reaktorblöcke sind seit knapp vier Jahren in den Schlagzeilen. Damals stellte sich bei Überprüfungen heraus, dass die Reaktordruckbehälter beider Anlagen Unmengen kleiner Risse und Blasen aufwiesen, es sind Wasserstoffeinschlüsse, die womöglich aus der Stahlproduktion herrühren. Der Reaktordruckbehälter ist das Herz jedes Atomkraftwerks: Hier findet die Kernspaltung statt, mit deren Hitze jener Wasserdampf erzeugt wird, der anschließend in Generatoren Strom erzeugt. Entsprechend großen Beanspruchungen ist dieser Behälter ausgesetzt.

Atomkraftwerk Doel in der Nähe von Antwerpen: Ebenso wie der Reaktor in Tihange, wurde es in den vergangenen Jahren mehrmals abgeschaltet. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Die belgische Atomaufsicht FANC nahm die Reaktoren nach den Befunden vorübergehend außer Betrieb und untersuchte sie. Im Frühsommer 2013 gingen sie wieder ans Netz, aber nur für wenige Monate. Denn wegen unerwarteter Befunde bei Materialtests schaltete Betreiber Electrabel die beiden Kraftwerke schon im Frühjahr 2014 wieder ab, zu weiteren Überprüfungen. Im vorigen Dezember schließlich nahmen die Reaktoren, sie erzeugen gut 14 Prozent des belgischen Stroms, wieder ihren Betrieb auf, mit Zustimmung der FANC. "Alle Sicherheitsbedenken", so teilte die Behörde seinerzeit mit, "wurden zufriedenstellend gelöst."

"Es ist nicht unsere Absicht, uns in innere Angelegenheiten Belgiens einzumischen."

Das sieht die deutsche Atomaufsicht, angesiedelt im Umweltministerium, ganz anders. Sie hatte schon 2012 ihre Reaktorsicherheitskommission (RSK) eingeschaltet, ein Expertengremium für nukleare Sicherheitsfragen aller Art. Auch die jüngste Entscheidung der Kollegen in Brüssel ließ die deutsche Aufsicht dort noch einmal überprüfen. Ergebnis: Bei einem Störfall lässt sich die Sicherheit der beiden Reaktoren derzeit nicht garantieren. Dazu müssten die Kraftwerke nach deutscher Auffassung ausreichend große "Sicherheitsabstände" aufweisen, sprich: Selbst wenn das Material des Druckbehälters den schlimmsten Belastungen ausgesetzt ist, müsste noch ein Puffer vorhanden sein. "Bezüglich der Störfallbelastung", so heißt es in der Bewertung der RSK, sei "nicht nachvollziehbar, dass die hierfür geforderten und in den Nachweisen ausgewiesenen Sicherheitsabstände tatsächlich erreicht werden". Gefahren aus dem laufenden Betrieb gebe es aber nicht. "Wir haben versucht, alle Fragen zu klären", sagt Christoph Pistner, Atomexperte beim Öko-Institut und selbst Mitglied der Kommission. "Aber es verbleiben offene Fragen, die man bei einem so heiklen Teil wie einem Reaktordruckbehälter nicht haben möchte."

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Diplomatisch allerdings bewegt sich das Bundesumweltministerium auf dünnem Eis; eine solche Bitte an einen Nachbarstaat hat es hierzulande noch nie gegeben. "Es ist nicht unsere Absicht, uns in innere Angelegenheiten Belgiens einzumischen", sagte Umwelt-Staatssekretär Jochen Flasbarth am Mittwoch in Berlin. "Aber wir haben für unsere Bevölkerung Sorge zu tragen." Vor allem im Grenzgebiet zu Belgien, etwa in Aachen, ist die Angst vor belgischen Sicherheitslecks groß. Tihange liegt nur knapp 70 Kilometer entfernt. Anfang Februar hatte die Städteregion Aachen, ein Verbund von zehn Kommunen, in Belgien Klage gegen die Wiederinbetriebnahme von Tihange eingereicht, das Land Nordrhein-Westfalen schloss sich der Klage später an. Man fühle sich durch Hendricks' Schritt im Widerstand bestätigt, hieß es am Mittwoch bei dem Städteverbund.

Belgiens Atomaufsicht FANC dagegen zeigte sich überrascht über das Begehr aus Berlin, sie wies es zurück. "Wir sind immer noch überzeugt, dass es der nuklearen Sicherheit wegen keinen Grund gibt, die Anlagen herunterzufahren", sagte FANC-Chef Jan Bens. "Unsere Schlussfolgerungen bleiben unverändert, egal was Ministerin Hendricks sagt."

© SZ vom 21.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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