Schattenhaushalte:Stoff für Junkies

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Schulden lassen Politikerträume wahr werden. Schluss damit! Deutschland kann mit strikten Vorgaben gut leben.

Von Claus Hulverscheidt

Wenn es darum geht, die charakterlichen Unzulänglichkeiten der eigenen Spezies zu beschreiben, sind Politiker ab und an erstaunlich offenherzig. Man müsse "dem Junkie seinen Stoff nehmen", lautete im Jahr 2009 eine jener Einsichten, mit denen Vertreter von Union und SPD die Einführung neuer, strikter Verschuldungsgrenzen im Grundgesetz begründeten. Er sei "gottfroh, dass wir die Schuldenbremse haben", verkündete wenig später der frisch ernannte Bundesfinanzminister. Gäbe es sie nicht, so Wolfgang Schäuble mit Blick auf die Begehrlichkeiten der Kabinettskollegen, hätte er das Amt womöglich gar nicht übernommen.

Tatsächlich waren Schulden über Jahrzehnte der Stoff, der Politikerträume wahr werden ließ. Reichten die laufenden Einnahmen zur Finanzierung neuer Ausgaben nicht aus, erhöhten Bund und Länder einfach die in ihren Haushalten ohnehin selbstverständliche Kreditaufnahme. In den 66 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik türmte sich so ein Schuldenberg im Volumen von sagenhaften 2,2 Billionen Euro auf. Alle Bremsen, die das Grundgesetz auch vor 2009 schon vorsah, versagten.

Seither gilt eine Regel, die so streng ist wie in kaum einem anderen Land. Vom Jahr 2016 an muss der Bund die Neuverschuldung in wirtschaftlich normalen Zeiten auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzen - das wären nach aktuellen Maßstäben ziemlich genau zehn Milliarden Euro. Die Länder dürfen ab 2020 sogar überhaupt keine neuen Schulden mehr machen. Ausnahmen gibt es nur zwei: eine Naturkatastrophe und ein Konjunktureinbruch. Um zu verhindern, dass der Staat eine Rezession durch Ausgabenkürzungen noch verschlimmert, darf er mit kreditfinanzierten Programmen gegensteuern. Die Darlehen müssen allerdings nach Überwindung der Krise wieder getilgt werden.

Deutschland kann mit strikten Vorgaben gut leben, denn es erwirtschaftet Überschüsse

Der Bund kann mit diesen strikten Vorgaben vergleichsweise gut leben, denn er erwirtschaftet nicht nur bereits Haushaltsüberschüsse, sondern könnte zusätzliche Ausgaben notfalls auch über Steuererhöhungen finanzieren. Dagegen stecken die Länder in der Zwickmühle: Die Steuerarten, über die sie nach eigenem Gutdünken verfügen können, erzielen ein so mickriges Aufkommen, das sie kaum als zusätzliche Finanzierungsquelle taugen. Auch geht wenig im Alleingang, denn zumindest die übrigen Länder - darunter Totalblockierer wie Bayern - müssten einer Anhebung etwa der Erbschaftsteuer zustimmen.

Auch bei den Ausgaben ist wenig zu holen, denn sie gehen beinahe vollständig für die Bezahlung von Polizisten und Lehrern, für Pensionen, bundesweit festgelegte Sozialleistungen und Zinsen drauf. Die Regierungen müssen also für Haushalte geradestehen, die sie kaum beeinflussen können.

Das führt dazu, dass oft ausgerechnet die Ausgaben gekürzt werden, die für die Sicherung des Wohlstands am wichtigsten sind: die Investitionen. Deshalb gammeln Krankenhäuser und Schulen vor sich hin, werden Straßen und Brücken wegen Baufälligkeit gesperrt. Die Schuldenbremse blockiert damit die Gestaltung jener Zukunft, die sie eigentlich sichern soll.

Selbst der bekennende Schuldenbremsen-Fan Schäuble scheut Schattenhaushalte nicht

In ihrer Not weichen die Politiker auf Sonderkonstruktionen aus und schaffen an den Kreditbeschränkungen des Grundgesetzes vorbei sogenannte Sondervermögen - was nur ein hübscheres Wort für den treffenderen Begriff Schattenhaushalt ist. So wurde etwa das große Konjunkturpaket der Bundesregierung von Anfang 2009 nicht aus dem eigentlichen Etat, sondern über einen eigens geschaffenen Topf mit dem Titel "Investitions- und Tilgungsfonds" finanziert - via Kredit. Selbst der bekennende Schuldenbremsen-Fan Schäuble schreckt nicht davor zurück, in die Schmuddelecke der Haushaltspolitik herabzusteigen: Um endlich die dringend notwendige Sanierung von Straßen und Brücken angehen zu können, will er sämtliche Investitionen von Bund und Ländern in Autobahnen und Fernstraßen in einer neuen Verkehrsinfrastrukturgesellschaft bündeln - jenseits des offiziellen Haushalts und seiner Kreditbeschränkungen.

Über die praktischen Probleme mit der Schuldenbremse hinaus stellt sich jedoch auch die eher ökonomisch-philosophische Frage, ob die Höhe der zulässigen Staatsverschuldung sich überhaupt als Milliardenbetrag oder als Prozentwert der Wirtschaftsleistung beziffern lässt. Volkswirte verweisen darauf, dass sich unterschiedliche Gesellschaften auch unterschiedlich hohe Verbindlichkeiten leisten können, abhängig etwa von der Altersstruktur, vom Wohlstandsniveau und von der Effizienz staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen. Deshalb gilt beispielsweise Griechenland als praktisch bankrott, Japan hingegen mit einer noch viel höheren Schuldenquote als finanziell gesund. Auch ist es ein Unterschied, ob ein Staat vornehmlich im Ausland oder bei den eigenen Bürgern verschuldet ist, die notfalls - etwa per Steuererhöhung oder Vermögensabgabe - zur Kasse gebeten werden können. Auch hier verweisen Experten auf Japan.

Für solcherlei Erwägungen ist eine statische Schuldenbremse wie die deutsche zu unflexibel. Wolfgang Schäuble indes ficht das nicht an, er wusste schon 2009: "Schuldenabbau ist keine Bedrohung, sondern Verheißung".

© SZ vom 11.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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