Samstags-Essay:Wie unvernünftig!

Lesezeit: 6 min

Die Ökonomie erhebt den Anspruch rational zu sein. Tatsächlich passt vieles nicht zusammen oder widerspricht sich. Ein Grund zum Verzweifeln ist das aber noch lange nicht.

Von Otfried Höffe

Unter Intellektuellen hat die Welt der Ökonomie keinen guten Ruf. Trotzdem nimmt der vorurteilsfreie Blick bei einem Meister der Handwerkskunst oder einer ostasiatischen Verteidigungstechnik nicht bloß zielgerichtete Bewegungen wahr, sondern auch einen "ökonomischen" Mehrwert: die Eleganz einer gleitenden Bewegung, bei der "alles sitzt". In der Mathematik zählt die sparsame Eleganz einfacher Beweise, in der Physik der entsprechenden Naturgesetze. Und Philosophen schätzen das als Ockhams Rasiermesser bekannte Ökonomieprinzip: Man soll keine Vielheit ansetzen, die zur Erklärung der entsprechenden Welt nicht notwendig ist.

Über diesem sparsamen Lob auf die Rationalität der Sparsamkeit darf man aber bedenkliche Entwicklungen nicht unterschlagen. Sie belaufen sich mittlerweile auf eine mehrdimensionale Ökonomisierung. Wahrzunehmen ist zunächst das Eindringen ökonomischer Absolventen in die Unternehmens-, Regierungs- und Universitätsberatung sowie in die Vorstände, die bislang von Juristen oder unternehmensspezifischen Fachleuten wie Chemikern oder Ingenieuren beherrscht wurden. Als Nächstes beachte man das Vordringen der entemotionalisierten, ökonomischen Sprache, die mit ihrem schlechten Deutsch - "es rechnet sich nicht" oder "social profit" statt Gemeinwohl - die anglofone Herkunft verrät und aus Patienten der Krankenhäuser, arbeitslosen Antragstellern bei Arbeitsämtern und Fahrgästen der Bahn gesichtslose Kunden macht. Noch gravierender ist die Zunahme der BWL-Mentalität, bei der Fragmentierung komplexer Aufgaben und dem Diktat des Rotstifts. Sind diese Entwicklungen, ist zu fragen, die kräftige Zunahme der ökonomischen Rationalität, auch vernünftig?

Wir müssen zwar nicht in einen Kulturpessimismus verfallen, der wirklichkeitsfremd die Ökonomisierung für das einzige Signum unserer Zeit hält. Nach der neueren Shell-Jugendstudie ist der Jugend eine für die gesellschaftlich nützliche Tätigkeit wichtiger als ein hohes Einkommen. Und die derzeitige Willkommenskultur könnte ohne ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft, sichtbar in einem reichen Strauß ehrenamtlichen Engagements, nicht blühen. Trotzdem ist auch das Gewicht der ökonomischen Rationalität kräftig gewachsen, was die Frage aufdrängt: Wie vernünftig ist denn die ökonomische Rationalität?

Die ökonomische Rationalität ist ein Modellbegriff oder ein Idealtypus. Die Kritik macht es sich daher zu leicht, wer an konkrete Menschen denkt und dann feststellt, was er hätte vorher wissen können: Konkrete Wirtschaftssubjekte handeln selten nach diesem Modell. Der homo oeconomicus kommt in mancher Wirtschaftstheorie, aber in keiner Wirtschaftspraxis vor.

Ihrem Wesen nach eine Zweck-Mittel-Rationalität, bezieht sich die ökonomische Rationalität auf ökonomische oder aber der Ökonomie zugängliche, also ökonomisierbare Bereiche. Die gemeinsame Grundfrage lautet: Wie erreicht oder produziert man die größtmögliche Menge von Gütern und Dienstleistungen, oder: wie gewinnt man den gewünschten Nutzen mit dem geringstmöglichen Einsatz? Das Ziel besteht in einer Nutzenmaximierung, die sich nicht um die Frage kümmert "Nutzen wofür?". Diese Gleichgültigkeit scheint ethisch neutral zu sein, in Wahrheit liegt ihr eine Erfolgsethik zugrunde. In der einschlägigen ökonomischen Rationalität kommt es nur auf die Mittel und Wege an. Infolgedessen liegt die wesentliche Einschätzung auf der Hand: Wie raffiniert auch immer die ökonomische Rationalität fortentwickelt wird - das, was sie erleichtert, auch attraktiv macht, ist zugleich ihre Grenze. Es handelt sich um einen extrem verkürzten Rationalitätsbegriff.

Illustration: Lisa Bucher (Foto: sz)

Der verbreitete Vorwurf: ökonomisches Denken folgt dem puren Egoismus

Nach einem verbreiteten Vorwurf folgt das ökonomische Denken dem puren Egoismus. Der Vorwurf ist berechtigt und unberechtigt zugleich. Berechtigt ist er, weil das jeweilige Subjekt seinen Vorteil zu maximieren sucht, unberechtigt, weil der Vorteil altruistischer Natur sein kann. Eine kulturelle oder karitative Stiftung beispielsweise will ihr gewiss nicht eigensüchtiges Stiftungsziel maximal erreichen. Um eine Übermacht des Egoismus zu brechen, muss man ihn nicht einmal ausschalten. Das anvisierte Ziel braucht nicht gemeinnützig zu sein, und kann doch kräftig dem Gemeinwohl dienen. Nach dem immer noch berühmtesten Wirtschaftstheoretiker Adam Smith tragen sogar egoistische Aktionen dank des freien Marktes nicht-egoistische Früchte. Bekanntlich lobt Smith den freien Markt nicht, weil er den Unternehmern oder "Kapitalisten" diene, da er ihnen hohe Gewinne bescherte. Wie sein weltberühmter Buchtitel ankündigt, geht es um den Wohlstand der Nationen.

Nach Adam Smith sorgt das Eigeninteresse, ohne es selber zu wollen und doch höchst erfolgreich, also hinter unserem Rücken, für das Gemeinwohl, ausbuchstabiert: zu (geringen) Profiten, hohe Löhnen und niedrigen Preisen. Weil deshalb die damaligen ebenso wie die heutigen Arbeiter und Angestellten weit besser als die Menschen anderer Epochen und Kulturen dastehen, verdient der Markt also Lob, übrigens nicht nur der Markt der Güter und Dienstleistungen. Denn Marktkritiker dürfen nicht vergessen, dass der Markt mit seiner Arbeitsteilung, dem Wettbewerb und dem Eigeninteresse auch andernorts erfolgreich herrscht, etwa in den Wissenschaften, der Politik, nicht zuletzt unter den Konkurrenten der Markttheoretiker: Marktkritik blüht an Orten eines freien Meinungswettbewerbs.

Wer allerdings voll auf die sogenannten selbstheilenden Kräfte des Marktes vertraut, ist naiv. Denn in den sich selbst überlassenen Märkten entstehen Oligopole, Monopole und Kartelle, gegen die es eine von der ökonomischen Rationalität grundverschiedene Vernunft, die Vernunft von Recht, Gerechtigkeit und Staat, braucht. Nicht zuletzt kann man gewisse Dinge, die schon für das Überleben, noch mehr für das gute Leben unverzichtbar sind, nicht kaufen. Die ökonomische Rationalität bricht sich an der auf ein gutes Leben orientierten, eudämonistischen Vernunft.

Denkt man an unternehmerische Werte wie Kollegialität und Teamgeist, so findet die ökonomische Vernunft sogar eine innerökonomische Grenze. Ihre noch wichtigere Grenze liegt bei den Menschenrechten und deren normativer Grundlage, der Menschenwürde. Wegen ihres absoluten Wertes sind diese über allen Preis erhaben. In der Welt der Preise haben sie nicht etwa zufällig, sondern ihrem Wesen nach keinen Ort. Werden sie trotzdem auf dem Markt gehandelt, so hat man ihr Wesen, ihren absoluten Wert, verraten. Paradox formuliert: man hat sie "verkauft".

Ganz so rasch müssen sich Anwälte der ökonomischen Rationalität nicht geschlagen geben. Sie können zwei Argumentationsstrategien präsentieren, mit denen die ökonomische Rationalität in eine Welt vorstößt, die ihr angeblich verschlossen ist, die Welt der Moral. Die erste Strategie heißt "utilitaristische Ethik". Die auf Jeremy Bentham zurückgeführte Ansicht zielt auf Sozialreformen im Namen des "größten Glücks der größten Zahl". Diese Ethik verbindet die ökonomische Rationalität der Nutzenmaximierung mit der Moral des kollektiven Wohls. Um die Nutzenmaximierung methodisch vorzunehmen, hat Bentham einen hedonischen Kalkül entworfen, einen Lustkalkül, mit dem der Utilitarismus eine Doppelmitgliedschaft erwirbt. Er wird sowohl zu einem Mitglied der Großfamilie ökonomischer Rationalität als auch zu einem Teil der Welt der Moral. Die zweite Mitgliedschaft erwirbt er aber nur, weil er eine Forderung erhebt, nämlich den Standpunkt eines Individuums zu relativieren und alle Betroffenen zu berücksichtigen, die kein Teil des Kalküls, sondern dessen Vorgabe sind. Infolgedessen gilt: Nicht aus sich selbst heraus öffnet sich die ökonomische Rationalität der größeren Vernunft, sondern allein dort, wo sie sich einer externen Forderung unterwirft.

Rationale Individuen wählen den Gerechtigkeitsansatz

Eine weitere Vernunftgrenze besteht im genannten Gedanken der Menschenwürde und der nicht verhandelbaren Menschenrechte. Der Philosoph, der zunächst den Utilitarismus nur verbessern wollte, John Rawls, lässt keinen Zweifel: An den Grundrechten und deren Rechtsmoral findet die utilitaristische Ethik eine unübersteigbare Grenze. Trotzdem ist die ökonomische Rationalität noch nicht endgültig in die Schranken gewiesen. Denn Rawlsˈ Gedankenexperiment des Urzustandes bedient sich der Sprache der Ökonomie. Sie lässt rationale Individuen Gerechtigkeitsgrundsätze wählen. Setzt man Feinkritik beiseite, so muss man einräumen: Die Wahl gelingt, was die Tragweite der ökonomischen Rationalität kräftig ausdehnt. Das Gelingen ist allerdings an eine Vorbedingung geknüpft, an ein Informationsdefizit: Damit die Entscheidung nicht zum eigenen Vorteil ausfällt, verfügen Rawlsˈ Entscheidungsträger zwar über sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Gesetzeswissen. Ihnen fehlt aber jede Kenntnis der eigenen Lage und Talente. Sie wissen nicht, ob sie reich oder arm, ob als Hochbegabte oder als geistig Behinderte leben, weshalb derartige Sonderbedingungen als Entscheidungsgrund ausfallen.

Rawls' Schleier des Nichtwissens beläuft sich also auf eine raffinierte Selbstüberlistung rationaler Egoisten: Die wählenden Personen können keinen eigenen Nutzen maximieren, da sie überhaupt keinen eigenen Nutzen haben. Infolgedessen kann die Wahl von einem einzigen Subjekt durchgeführt werden, das nur scheinbar ein rationaler Nutzenmaximierer ist. Es sucht zwar den eigenen größten Vorteil, gewiss. Wegen des Informationsdefizits fehlt ihm jedoch alles Eigene, sodass es gar nichts anderes als Gerechtigkeitsgrundsätze zu wählen vermag.

Wie vernünftig ist also die ökonomische Rationalität? Üblicherweise lassen wir die Vernunft mit der Lebensklugheit einer eudämonistischen Vernunft beginnen. Selbst diese bescheidene Stufe wird von der ökonomischen Rationalität nicht erreicht. Insofern ist die ökonomische Rationalität nicht unvernünftig, aber vernunftlos. Die höheren Stufen erreicht sie ohnehin nicht, weder die Vernunft des Utilitarismus, die des Kollektivwohls, noch die moralische Vernunft von Recht, Gerechtigkeit, Menschenrechten und Menschenwürde. Deshalb diese vorläufige Bilanz: Aus sich heraus ist die ökonomische Rationalität zur wahren Vernunft nicht fähig.

Otfried Höffe ist Leiter der Forschungsstelle für politische Philosophie der Universität Tübingen. Soeben erschien bei de Gruyter, von ihm herausgegeben, der kooperative Kommentar "Politische Utopien der Neuzeit. Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon".

© SZ vom 07.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: