Ruhrgebiet:Die Lebenslüge einer Region

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Das Ende des deutschen Steinkohle-Bergbaus war abzusehen, aber viele Menschen im Ruhrgebiet wollten das nicht wahrhaben - jetzt ist die Not in vielen Städten groß.

Karl-Heinz Büschemann

Andreas Schröder hat wenig Zeit, er muss an diesem späten Vormittag auf dem kleinen Markt in Gelsenkirchen-Hassel noch Besorgungen machen. Er braucht Verpflegung für seinen Nebenjob am Nachmittag.

Die Bergleute in der Waschkaue der Schachtanlage "Lippe" in Gelsenkirchen-Hassel verlieren vielleicht 2008 ihren Job. (Foto: Foto: AP)

Der 54-Jährige trägt noch von der Frühschicht die grau-weiße Arbeitskluft und den gelben Schutzhelm, die ihn als Bergmann erkennbar machen.

,,Kolonnenschieber'' ist er im nahegelegenen Pütt, also so etwas wie ein Vorarbeiter. Bald wird er seinen Arbeitsplatz nicht mehr haben. ,,Ich seh' schwarz für uns'', sagt der Mann, der sich mit seinen 54 Jahren als ,,einen der Ältesten im Bergbau'' bezeichnet. ,,Hier is nich mehr lange'', und weist auf die nahegelegenen Türme der Zeche Lippe.

Keine Überraschung

Die Entscheidung vom vergangenen Wochenende, als die Bundesregierung, die Bergbaugewerkschaft und die Kohlegesellschaft RAG das Ende des deutschen Steinkohle-Bergbaus bis 2018 beschlossen, hat ihn nicht überrascht.

Auf Lippe im Norden von Gelsenkirchen wird sogar noch früher das Ende kommen. ,,Hier is 2008 Schluss. Sagen alle.'' Genaues weiß man nicht. Aber es wird viel geredet. Die Unsicherheit ist groß rund um den Markt. Die 2400 Beschäftigten von Lippe bangen um die Zukunft.

Bergmann Schröder, der schon mit 13 Jahren im Pütt in die Lehre ging und 41 Jahre unter Tage hinter sich hat, hält den Beschluss, die letzten acht deutschen Zechen zu schließen, für einen Fehler. ,,Das werden wir noch bedauern'', sagt er.

"Viel zu wenig Koks in Deutschland"

Er kommt ins Reden, obwohl er am Nachmittag noch eine Menge zu tun hat. ,,Wir haben viel zu wenig Koks in Deutschland'', sagt er. Aber statt die Kohle aus dem eigenen Boden zu holen, ,,kaufen wir noch viel dabei'', zum Beispiel aus Polen. Wo doch jeder weiß, das die polnische Kohle nicht viel taugt. ,,Die muss hier mit unserer gemischt werden, damit sie überhaupt brennt.''

Als gelernter Schlosser, baut er schon mal vor. ,,Ich arbeite nebenbei in meinem alten Beruf.'' Damit er etwas hat, wenn Lippe dicht ist und die Rente von 900 Euro, die er dann bis zum 60. Geburtstag beziehen wird, nicht reicht.

,,Wenn ich nur anständig Englisch könnte'', bricht es plötzlich aus ihm heraus. Englisch? ,,Dann wär' ich schon in Kanada.'' Dorthin sei ein Verwandter vor ein paar Jahren gegangen, der auch Schlosser ist. In seinem Alter. Der könne da gut leben. ,,Warum muss man sich nach 41 Jahren im Pütt noch Sorgen um die Zukunft machen'', fragt Schröder.

Ratlosigkeit

Ein paar hundert Meter weiter fährt Guido Hoffmann auf den Parkplatz gegenüber Lippe. Der 43-Jährige arbeitet als Maschinist am Förderturm. Auf dem Weg zum Tor wirkt er ratlos. ,,Watt soll ich machen, wenn hier aus is?'' Er hat früher eine Schlosserlehre gemacht. Aber wer würde ihn noch einstellen, ,,wenn man lange aus dem Beruf ist''.

Im nördlichen Ruhrgebiet machen sich viele Menschen große Sorgen. Im Revier gibt es noch sechs Zechen. Die meisten liegen im Norden. Dort ist zu sehen, dass diese Region eine Vergangenheit hat, die Zukunft aber noch nicht eingezogen ist.

In Essen oder Dortmund, weiter im Süden, wo der Bergbau früher angefangen hat, wo er aber auch früher eingestellt wurde, sieht es besser aus. Aber in Bottrop, Recklinghausen, Herten oder Gelsenkirchen, scheint die Zeit zu stehen. Die Zechen wurden dichtgemacht. ,,Ewald'', ,,Hugo'', ,,Schlägel und Eisen'', ,,Graf Achenbach'' und wie sie alle hießen - und die neuen Arbeitsplätze lassen auf sich warten.

Der viel gerühmte Strukturwandel ist noch lange nicht erledigt. An manchem Ort sind die Straßen so grau, als habe er nie begonnen - fast 50 Jahre nach der ersten Kohlekrise der Nachkriegszeit, 40 Jahre nachdem in Gelsenkirchen mit Graf Bismarck die erste Kohlenzeche des Ruhrgebiets geschlossen wurde.

Kurt Betke geht an diesem grauen Nieselmittag in der Egonstraße am Tor der Zeche Lippe spazieren. Vor sieben Jahren wurde er schon Rentner. 55 ist er jetzt. ,,Das Zumachen sollten die sich noch mal überlegen. Was wird denn aus der Stadt?'', fragt er. ,,Schon jetzt stehen hier Wohnungen leer.''

,,Dann wird's schlimm''

Der leidenschaftliche Bergmann fürchtet den Tag, an dem auch noch die Nachbar-Pütts ,,Auguste Victoria'' in Marl und ,,Prosper Haniel'' in Bottrop dichtgemacht wird. ,,Dann wird's schlimm.''

Schon jetzt ist im Ruhrgebiet die Zahl der Arbeitslosen hoch. In Gelsenkirchen haben 17,7 Prozent der Menschen keine Arbeit, und als es Hartz IV noch nicht gab, lebte hier jeder vierte vom Arbeitslosengeld.

Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD) hat seine liebe Not, die Stadt vor dem Absaufen zu retten. Der 45-jährige studierte Lehrer, der vor zweieinhalb Jahren den Posten übernahm, wirkt wie ein Kämpfer. Er sagt: ,,Wir haben den Abwärtstrend gestoppt.''

Eigentlich pleite

Baranowski hat nur wenig Geld, um die Stadt modernisieren. Gelsenkirchen ist eigentlich pleite, die Stadt steht unter der Finanzaufsicht des Düsseldorfer Innenministeriums und des Regierungspräsidenten in Münster. Die passen auf, dass er nicht zu viel Geld ausgibt.

,,Der Strukturwandel geht nur langsam'', sagt er. Er ist schon froh, wenn er verhindern kann, dass einzelne Stadtteile zu Slums verkommen. Früher hatte Gelsenkirchen 50.000 Bergarbeiter und acht Zechen.

Heute gibt es noch ein Bergwerk, und nur 3000 Einwohner sind Bergarbeiter. In den guten Zeiten hatte eine Zeche 4000 bis 5000 Beschäftigte. Heute schätzt sich der OB glücklich, dass er mit einer BP-Raffinerie einen Großbetrieb mit 2800 Mitarbeitern in der Stadt hat.

"Unrealistisch"

Die Arbeitsplätze im Bergbau zu ersetzen, ,,ist unrealistisch''. Mitten in der Stadt, wo die Zeche ,,Consolidation'' über 3000 Arbeiter hatte, sitzen heute eine Solarfirma und der Pharmahändler Sanacorp. Alles in allem 1000 Beschäftigte.

Das kann die alten Lücken nicht schließen. Also wird die Stadt schrumpfen. Gelsenkirchen hatte in seinen besten Zeiten über 300000 Bewohner. Jetzt sind es noch 270 000. Bald werden es 230000 sein. Das sieht der OB realistisch. Die verbleibenden Einwohner sollen hier gerne leben.

Aber der Fortschritt ist ein mühsames Geschäft. Gelsenkirchen hat kürzlich fünf Kindergärten eingerichtet, die von sechs bis 20 Uhr geöffnet sind. ,,Deshalb sind fünf Familien aus Nachbarstädten zu uns gezogen.'' Auch ein so kleiner Standortvorteil freut sich Baranowski. ,,Der Strukturwandel besteht aus vielen Mosaiksteinchen.'' Er könne doch keinen Zaun um die Stadt machen. ,,Die Menschen verdienen eine Perspektive.''

Niedergang der Fußgängerzone gestoppt

Den Niedergang der Fußgängerzone von Gelsenkirchen habe er stoppen können, sagt er. Er hat einen Menschen in der Verwaltung damit beauftragt, sich nur um die etwa 70 Immobilien-Eigentümer der alten Krisenstraße zu kümmern.

Seitdem verschandeln weniger leere Läden das Bild. Oder er baut den Zoo aus. Steckt 80 Millionen Euro in den vergammelten alten Tierpark, damit er wieder zum Aushängeschild der Stadt wird. In kleinen Schritten kommt der Strukturwandel voran. Oder er geht so wie auf der alten Zeche Holland.

Dort hat ein Investor die alten Ziegelgebäude übernommen und in Loftwohnungen verwandelt. Auch Monika Joel ist hier eingezogen. Die Werbeberaterin hat ihr Haus in Bochum verkauft, um mit ihrer Lebenspartnerin in dem neuen Viertel in der Ückendorfer Straße zu leben. ,,Wir sind jetzt stolze Gelsenkirchener'', sagt sie. Die Stadt hat zwei solvente Bewohner mehr.

Eine halbe Autostunde von Gelsenkirchen entfernt sitzt Hans Blotevogel in seinem luftig-modernen Büro. Blotevogel ist Professor für Raumplanung in Dortmund.

,,Strukturwandel ist eine Daueraufgabe''

Er kann erklären, warum es mühevoll ist, eine alte Montanregion wie das Ruhrgebiet mit seinen etwa sechs Millionen Menschen, 15 Landkreisen und 14 kreisfreien Städten zu modernisieren. ,,Strukturwandel ist eine Daueraufgabe.''

Der Anfang, so Blotevogel, hätte allerdings gemacht werden müssen, als es der Region noch gut ging, also in den sechziger und siebziger Jahren. ,,Das Ruhrgebiet hat den Strukturwandel als Daueraufgabe verschlafen.''

Über viele Jahrzehnte hätten Menschen die Politik der Region geprägt, die mit Kohle und Stahl verbunden waren. Die SPD hatte die Arbeiter hinter sich, die CDU die Angestellten. In den Stadtparlamenten wie im Landtag war so sichergestellt, dass sich nicht viel änderte.

Auf Kohle und Stahl gepocht

Konzerne und Parteien pochten darauf, dass Kohle und Stahl im Mittelpunkt blieben, auch als längst Zechen schlossen und Stahlwerke abgewandert waren. ,,Das Ruhrgebiet hat mit einer Lebenslüge gelebt, wohl wissend, dass die Struktur nicht hält'', sagt der Professor.

Der schlimmste Fehler seien die Subventionen gewesen. Bislang bekam die deutsche Steinkohle 135 Milliarden Euro öffentliche Hilfen. Nur so war sie absetzbar. Noch immer werden jedes Jahr 2,5 Milliarden in die Zechen gekippt. Bis das Ende im Jahr 2018 erreicht ist, werden weitere 40 Milliarden Euro vom Staat nötig sein. ,,Die Subventionen sind wie eine Droge.'' Die Schmerzen der Krise seien damit betäubt worden. ,,Ein Neuanfang wurde nicht gemacht.''

Auch die Ansiedelung von großen Betrieben wie Opel oder Siemens hätte keinen echten Wandel gebracht. Der entscheidende Schritt zur Veränderung sei die Gründung der Universitäten in Bochum, Dortmund, Essen und Duisburg gewesen. Nach und nach siedelten sich junge Unternehmen rund um die Hochschulen an.

Industrielle Alternativen fehlen

So wurde Dortmund ganz langsam zu einem Zentrum für Software. Der Professor sagt: ,,Den Kohlebergbau weiter zu erhalten, wäre fatal für die Region.'' Aber er räumt ein, dass im nördlichen Ruhrgebiet, wo Städte wie Dorsten oder Herten liegen, die industriellen Alternativen fehlen. ,,Sie werden wohl zu Wohngemeinden werden.''

Oberbürgermeister Baranowski zeigt Besuchern gerne die Dach-Etage des frisch neben dem neuen Schalke-Stadion errichteten elfstöckigen Marriott-Hotels. Er erklärt das Panorama, das weit hinter den Schornsteinen der BP-Raffinerie bis nach Bottrop reicht.

Doch die Zukunft liegt gleich unten auf den Parkplätzen vor dem Stadion. Die würde er gerne in Tiefgaragen verschwinden lassen. Das Gelände beim Stadion wäre gut geeignet für Betriebe der Gesundheitsindustrie, findet er.

Dann träumt er weiter. Er würde gerne das deutsche Fußball-Museum nach Gelsenkirchen holen, gleich hierher. Aber es gibt starke Konkurrenten für dieses Projekt. München zum Beispiel oder Berlin. Und wenn er es nicht bekommt, muss er eben mit den vielen neuen Mosaiksteinchen weitermachen.

"Man braucht Geduld"

,,Am Strukturwandel muss man nicht verzweifeln'', sagt der Bürgermeister und der Besucher ist erstaunt über diesen Optimismus. ,,Man braucht Geduld.''

© SZ vom 03.02.07 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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