Report:Rückkehr der Grenze

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Zwischen Nordirland und der Republik Irland verläuft nach dem Brexit die Außengrenze der EU. Werden hier bald wieder Zöllner kontrollieren? Das wäre schlimm für Zigtausende Pendler und für die Unternehmen.

Von Björn Finke, Newbuildings/Castlefinn

Durch die Fabrikhalle schallt Gehämmer. Dann setzt das Fauchen des Schweißbrenners ein. Dessen Flamme wirft den großen tanzenden Schatten des Schweißers an die Wand. Die Arbeiter montieren Anhänger für Traktoren, etwa Gülletanker. Ein solcher Tankanhänger liegt verkehrt herum auf dem Boden. Die Kotflügel - noch ohne die mächtigen Reifen - zeigen nach oben, ein Arbeiter macht sich an der Unterseite des Stahlbehälters zu schaffen. Hier in Newbuildings, einem Dorf in Nordirland, fertigt das Unternehmen Fleming Agri Products so ziemlich alles, was Bauern mit dem Trecker über Acker und Wiese ziehen können. Die Pflüge, Walzen und Anhänger verkauft der Mittelständler weltweit.

Firmenchef George Fleming, 60, führt den Familienbetrieb in vierter Generation. Er geht durch eine Hintertür aus der lauten Halle heraus. Von dort schweift der Blick über Wiesen mit blökenden Schafen, begrenzt von langen Hecken. "Da hinten, das Haus mit den Bäumen, das ist schon Irland", sagt Fleming und zeigt gen Westen. Seine Fabrik liegt direkt an der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland.

Die Grenze ist unsichtbar. Doch George Fleming und viele andere Menschen in der Region befürchten, dass dies nicht so bleibt - wegen des Brexit.

"Dissidenten werden Pläne schmieden, Grenzposten in die Luft zu jagen."

Die Gemeinde Newbuildings, in der das Werk steht, ist ein Vorort von Londonderry, der zweitgrößten Stadt Nordirlands, im ewig windigen Nordwesten der Insel. Wer mit dem Auto von hier in die Republik Irland fährt, merkt lediglich an den Seitenstreifen, dass er nun in einem anderen Land ist. In der Republik sind diese gelb, im Norden weiß. Und die Geschwindigkeitsbegrenzungen im Süden sind angegeben als Kilometer pro Stunde, nicht als Meilen pro Stunde. Schlagbäume gibt es keine.

"Der EU-Austritt ist eine Katastrophe für unsere Region", sagt Fleming. "Wenn es hier nach dem Brexit eine richtige Grenze gibt, sind wir abgeschnitten von unserem Hinterland in Irland." Er macht sich dabei nicht nur um die Wirtschaft vor Ort Sorgen, sondern auch um den Frieden in der einstigen Unruheprovinz. "Sobald ein Bagger das Loch für einen britischen Grenzposten aushebt, werden republikanische Dissidenten Pläne schmieden, den Posten in die Luft zu jagen", sagt er. Die sogenannten Dissidenten sind Splittergruppen, die den Friedensprozess ablehnen und weiter mit Terror dagegen kämpfen, dass Nordirland zu Großbritannien gehört.

Londonderry liegt an der Grenze zur Republik Irland. Bisher ist diese Grenze aber unsichtbar. (Foto: Jeff Mitchell/Getty Images)

Im Norden der irischen Insel verläuft die einzige Landgrenze des Königreichs. Nach dem Brexit im Frühjahr 2019 wird sie auf einmal eine EU-Außengrenze sein.

Keine andere Region trifft der Austritt daher so hart wie die Gebiete auf beiden Seiten der irischen Grenze. Und nirgendwo sonst lässt sich so gut studieren, welch vertrackte Probleme der Brexit aufwirft.

Die britische Premierministerin Theresa May, die bei den Neuwahlen im Juni eine komfortable Mehrheit erwarten kann, hat sich festgelegt: Großbritannien soll nach dem Austritt nicht am Binnenmarkt oder an der Zollunion der EU teilnehmen. Das Königreich soll selbst über seine Zölle bestimmen; die Regierung will schnell viele Freihandelsverträge mit Wirtschaftsmächten wie den USA abschließen. Gelingt das, können amerikanische Firmen nach Großbritannien zollfrei Produkte exportieren, auf die in der EU weiterhin Abgaben anfallen. An der inneririschen Grenze müssten Beamte dann verhindern, dass diese US-Waren über den Umweg Großbritannien den Weg nach Irland und somit in die EU finden. Ansonsten würden via Großbritannien die EU-Zölle ausgehebelt.

Einigen sich London und Brüssel in den Austrittsgesprächen nicht auf einen Freihandelsvertrag, würden sogar Zölle auf britische Waren eingeführt - oder auf EU-Produkte auf dem Weg nach Großbritannien. Dann hätten die Grenzbeamten in Nordirland noch viel mehr zu tun.

Premierministerin May, ihr irischer Amtskollege Enda Kenny und die EU beteuern unisono, sie wollten vermeiden, dass auf der irischen Insel eine "hard border" entsteht, eine sichtbare Grenze. Vertreter der britischen Regierung beschwören die Segnungen des Internets: Spediteure könnten online Zollformulare für die Lastwagen ausfüllen und im Voraus an die Behörden schicken. Dann bräuchten Beamte an der Grenze nicht mehr die Papiere zu prüfen.

Passkontrollen soll es gleichfalls nicht geben, verkünden die Politiker. Schon 1923, kurz nach der Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien, vereinbarten London und Dublin, darauf zu verzichten. Allerdings verspricht May ihren Bürgern, dass das Königreich nach dem Brexit nicht mehr grenzenlos Einwanderung aus EU-Staaten akzeptieren wird. Ohne Passkontrollen würde es schwer, zu verhindern, dass etwa Bulgaren oder Rumänen aus dem EU-Mitgliedsstaat Irland nach Nordirland reisen, um dort illegal zu arbeiten. Doch die Brexit-berauschte britische Regierung erklärt ganz locker, auch für dieses Problem ließen sich sicher intelligente Lösungen finden - ohne Grenzkontrollen.

Firmenchef Fleming, der Herr der Düngerstreuer und Gülletanker, kennt diese Beruhigungsformeln. Und ist zutiefst skeptisch. Zollpapiere via Internet im Voraus an Behörden zu schicken, sei schön und gut, sagt er: "Trotzdem müssen Grenzbeamte in Stichproben überprüfen, ob die Angaben stimmen oder ob geschmuggelt wird." Fleming ist ein ruhiger, freundlicher Herr, aber bei dem Thema redet er sich in Fahrt. Im Umland von Londonderry hätten die Straßen über die Grenze nur eine Spur in jede Richtung, sagt er, die Grenze verlaufe manchmal durch Siedlungen. "Da gibt es keinen Platz, mehrspurige Grenzanlagen und Parkplätze für Kontrollen zu bauen."

Der Manager befürchtet daher, dass selbst stichprobenartige Kontrollen Staus zur Folge haben werden. Zumal auf den Straßen viel los ist. Allein die drei wichtigsten Übergänge in der Region nutzen nach Zählungen der Kreisverwaltung jede Woche 326 500 Fahrzeuge. Insgesamt führen 50 Straßen von Londonderry und der benachbarten Stadt Strabane hinüber in die Republik Irland, in die Grafschaft Donegal.

Von Flemings gut hundert Angestellten lebt jeder Fünfte auf der irischen Seite der Grenze. Der Chef selbst stammt aus einem Dorf in Donegal und besucht jeden Tag seine Mutter dort. "Gibt es wegen Kontrollen ständig Staus, werden die Leute versuchen, ohne solche Fahrten auszukommen", sagt er. "Auch unsere Lastwagen queren täglich mehrmals die Grenze", fügt er hinzu. "Um Ladung aufzunehmen oder abzuliefern, stoppt ein Laster manchmal erst in Nordirland, dann in der Republik, dann wieder in Nordirland und so weiter."

Der Manager führt aus der Montagehalle in die Lackiererei. Ein Arbeiter in einem Schutzanzug sprüht grauen Lack auf die Karosserie eines Rasenmäher-Anhängers. Zum Trocknen hängen die Teile an Ketten von Stahlträgern herab. Dahinter parken in einer Halle fertige Gülletanker nebeneinander, bereit zur Auslieferung an Kunden.

Auf der Rückseite eines Tankanhängers klebt ein rundes Tempolimit-Schild: "40". Schneller darf der Traktor mit diesem Anhänger nicht fahren. 40 Kilometer pro Stunde - dieser Anhänger ist nicht für den britischen Markt mit seinen Meilen-Angaben gedacht. "Ja, der wird exportiert, in einen EU-Staat", sagt Fleming. Etwa in die Republik Irland, die ein Drittel des Umsatzes seiner Firma beisteuert.

Im katholischen Viertel Bogside in Londonderry erinnern Gemälde und Parolen an Häuserwänden an die Unruhen in Nordirland. (Foto: Peter Morrison/AP)

Zugleich kauft Fleming viele Zulieferteile auf dem Kontinent ein. Die riesigen Anhänger-Reifen in der Fabrik kommen aus den Niederlanden, Achsen aus Italien. Ob auf Im- und Exporte nach dem Brexit Zölle anfallen, hängt vom Ausgang der Verhandlungen zwischen London und Brüssel ab. "Sicher ist die Unsicherheit", sagt der Manager resigniert. Im Dezember wurde er zum Präsidenten der örtlichen Handelskammer gekürt. Einige Mitgliedsfirmen würden wegen dieser Ungewissheit bereits Investitionen verschieben, sagt er.

Am meisten fürchtet er aber nicht die Folgen des Brexit für die Wirtschaft, sondern für die Gesellschaft, für den Frieden. "Inzwischen ist hier eine Generation aufgewachsen, welche die Troubles nicht mehr kennt", sagt er. "Ich möchte nicht, dass diese düstere alte Zeit zurückkehrt." Troubles, zu Deutsch: Unruhen, ist der etwas verharmlosende Begriff für einen Konflikt, der mehr als 3500 Menschenleben gekostet hat. In Nordirland stehen sich meist protestantische Unionisten und katholische Republikaner gegenüber. Die Unionisten wollen, dass ihre Heimat Teil Großbritanniens bleibt, die Republikaner streben eine Vereinigung mit Irland an.

"Du hörst einen Knall und denkst: Okay, das ist wieder eine Bombe."

Dieser Streit eskalierte 1969. Jahrzehnte des Schreckens begannen, mit Anschlägen der IRA, der Irish Republican Army, und unionistischer Gruppen. Erst 1998 stellte das Karfreitagsabkommen einen fragilen Frieden her. Die Grenzstadt Londonderry - die Katholiken stets Derry nennen - traf der Terror besonders hart.

Fleming ging in den Siebzigerjahren in der Stadt zur Schule. "Die Troubles waren Alltag für uns", sagt er. "Du hörst einen Knall und denkst: Okay, das war mal wieder eine Bombe." Er lebte damals mit seiner Familie in Donegal und überquerte für den Schulweg täglich die Grenze. "Ich erinnere mich gut an die Kontrollen", sagt er. Während der Troubles bewachten Sicherheitskräfte die Übergänge, um Untergrundkämpfer und Waffenlieferungen abzufangen. Insgesamt führen 260 Straßen über die Grenze Nordirlands. Doch die britische Armee erlaubte die Einreise nur an 20 Übergängen, die übrigen Straßen riegelte sie zeitweise ab.

"Für wirksame Zollkontrollen könnten in Zukunft wieder Straßen blockiert werden", befürchtet Fleming. Brexit und Zölle könnten die Region zum Schmugglerparadies machen, sagt er. Die Regierung werde dann mehr Polizeistreifen schicken, zum Kampf gegen Schmuggler.

Ein Boom für Kriminelle, dazu überall Polizisten, vielleicht Blockaden von Straßen und Anschläge auf Grenzposten: Der EU-Austritt würde so die Atmosphäre in der Gegend vergiften, klagt der Manager.

Der Friedensprozess sei in Londonderry ein großer Erfolg, sagt er. Aber wer durch die Stadt spaziert, merkt schnell, dass es weiterhin um einen Prozess geht, um eine langwierige gegenseitige Annäherung. Frieden als Normalzustand ist das Ziel - und Querelen wegen der Grenze könnten dieses Ziel gefährden. So steht direkt neben der schmucken Altstadt immer noch eine Peace wall, eine sogenannte Friedensmauer. Diese rote Steinmauer, darüber ein Gitterzaun, schottet ein protestantisches Viertel ab. Die Bewohner fühlen sich so sicherer. Von Masten an den Häusern weht der Union Jack, die britische Flagge.

Eine Viertelstunde zu Fuß entfernt, im Katholikenviertel Bogside, flattern hingegen irische Fahnen im Wind. Hier ereignete sich 1972 der berüchtigte Bloody Sunday, der Blutsonntag, an dem britische Fallschirmjäger 13 unbewaffnete Demonstranten erschossen. Ein Denkmal erinnert an die Opfer. Direkt daneben würdigt ein anderes Denkmal IRA-Mitglieder, die sich im Gefängnis zu Tode hungerten. An einem Strommast hängt ein Schild: "Brits out, now IRA", Briten raus, Zeit für die IRA.

(Foto: N/A)

Vor drei Monaten wurde unter dem Auto eines Polizisten in Londonderry eine Bombe entdeckt, im April eine Bombe vor einer Schule in Belfast gefunden. Verantwortlich sollen republikanische Dissidenten sein. Nordirland erlebt einen Friedensprozess, keinen unbeschwerten Frieden.

Die Mehrheit der Nordiren stimmte beim Brexit-Referendum für den Verbleib in der EU, in Londonderry waren es sogar 78,3 Prozent der Wähler. Die Partei Sinn Féin, früher der politische Arm der IRA, fordert deswegen eine Volksabstimmung darüber, ob Nordirland das Königreich verlassen und sich mit Irland vereinigen sollte. Premierministerin May schließt so ein Referendum freilich aus. Und dass es Erfolg hätte, gilt ohnehin als unwahrscheinlich. Trotzdem belastet der Vorschlag die Atmosphäre - und die Gespräche von Sinn Féin mit der protestantischen Democratic Unionist Party DUP. Die Parteien gewannen im März die Wahl zum nordirischen Regionalparlament, doch bisher können sie sich nicht auf eine Regierung einigen. "Bollocks", vornehm übersetzt: großer Mist, seien diese ewigen Streitereien der Parteien in Nordirland, sagt ein genervter Fleming.

Und nicht nur in Nordirland treibt der Brexit die Menschen um. Auch auf der anderen Seite der Grenze machen sich viele Sorgen. Etwa Tom Murray, dem drei Apotheken in der Grafschaft Donegal gehören. An diesem Tag ist er in der Filiale in Castlefinn, einem eher trostlosen Dorf dreißig Autominuten von Flemings Fabrik entfernt. Der Laden ist klein und zugestellt. Es ist wenig los, was dem Apotheker die Chance eröffnet, ausgiebig über den EU-Austritt des Nachbarlandes zu schimpfen.

"Nachschub an Arzneien wird aus Dublin geliefert", sagt der 44-Jährige. Um von Irlands Hauptstadt nach Donegal zu kommen, fahre der Kurier durch Nordirland, weil das viel schneller sei. "Muss der in Zukunft zweimal bei Grenzkontrollen warten, dauert alles länger. Den zusätzlichen Aufwand wird er mir in Rechnung stellen."

Zwar ist es auch möglich, ohne Transit durch Nordirland Donegal zu erreichen. Ein schmaler Korridor zwischen Atlantikküste und Staatsgrenze verbindet die Grafschaft mit dem Rest Irlands. So zu fahren, ist jedoch ein Umweg. Wegen der abgeschiedenen Lage ist Donegal die ärmste Region der Republik. Es gibt viel herrlich-einsame Natur, es gibt Berge und Klippen, aber nur wenige Jobs. Gerade mal 159 000 Menschen leben in der Grafschaft. Londonderry jenseits der Grenze ist die nächste größere Stadt; viele Iren aus Donegal arbeiten dort, kaufen dort ein. Krebspatienten aus der Grafschaft nutzen das Strahlentherapie-Zentrum in Londonderry.

"Die Grenzkontrollen und blockierten Straßen während der Troubles schadeten der Wirtschaft Donegals und dem Zusammenleben der Menschen enorm", sagt Murray. "Kommt das zurück, wird Donegal wieder zur abgeschnittenen Einöde." Der Apotheker will das verhindern; er macht bei der Gruppe "Border Communities against Brexit" mit, Grenzorte gegen den Brexit.

Als Protestaktion errichtete die Bürgerinitiative in den vergangenen Monaten mehrmals falsche Grenzkontrollen: Mitglieder verkleideten sich mit Zöllneruniformen und stoppten Autos an Übergängen. In wenigen Jahren schon könnten hier echte Grenzbeamte stehen. Eine furchterregende Vorstellung, nicht nur für Tom Murray und George Fleming.

© SZ vom 13.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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