Report:Raffiniertes Rezept

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Walter Oberhänsli will die Apotheken aufmischen wie Amazon die Buchhandlungen. Mit seinem Arzneiversand Zur Rose, zu dem Doc Morris gehört, geht er an die Börse. Ein Blick hinter die Kulissen

Von Charlotte Theile, Frauenfeld

Andreas Pötzsch, Director Operations, möchte ein Spiel spielen. Es heißt: Apotheke. "Stellen Sie sich vor, Sie sind erkältet, waren beim Arzt und haben ein Rezept für Hustensaft bekommen." Dieses Rezept wird, hundertmal geübt, über den Apotheken-Schalter geschoben. Bei Zur Rose, dem nach eigenen Angaben führenden Arzneimittelversand Europas, öffnet sich stattdessen eine schmucklose Glastür. Pötzsch ist ein unauffälliger Manager im Anzug, kein Apotheker im weißen Kittel. Die Logik aber ist die Gleiche.

Pötzsch geht den Gang hinunter. An einer Bürotür bleibt er stehen. Im übertragenen Sinne: direkt vor der Apotheken-Theke. Partyfotos, Hundefotos, dazwischen die Frau, die auf den Fotos Hunde und Freundinnen im Arm hält. 250 Rezepte habe sie heute morgen eingelesen, das sei weder viel noch wenig, ein ganz normaler Mittwoch. Die meisten Rezepte kommen ohnehin nicht per Post oder Fax, sie werden elektronisch übermittelt.

Vom schweizerischen Frauenfeld aus will die Versandapotheke Zur Rose in den kommenden Jahren den Markt in ganz Europa, besonders aber in Deutschland neu aufrollen. Hier tritt sie als Doc Morris an.

Mitte dieser Woche gab das Unternehmen seinen Börsengang bekannt. Mindestens 200 Millionen Franken (etwa 185 Millionen Euro) will Zur Rose auf diese Weise aufnehmen, das Wachstum in Deutschland, welches das Unternehmen auch durch große Werbeausgaben möglich gemacht hat, soll weitergehen. Mit "20 Millionen chronisch Erkrankten" biete der Markt "substanzielle Expansionsmöglichkeiten." Am 19. Juni will Zur Rose in einer Generalversammlung über den Börsengang entscheiden.

Um wie geplant wachsen zu können, braucht Zur Rose Geld. Die niederländische Tochter Doc Morris hat in Deutschland allein im ersten Quartal 2017 mehr als 15 Prozent Umsatzsteigerung erzielt.

Der Blick hinter die Kulissen in Frauenfeld ist also auch: Ein Blick in die Zukunft der Apotheke.

"Man muss ja nicht BWL studiert haben, um unsere effizienten Prozesse zu verstehen."

Andreas Pötzsch bleibt bei seinem Spiel. "Der Apotheker hat Ihr Rezept in der Hand. Bevor er Ihnen die Medikamente gibt, muss er es beurteilen." Die nächste Glastür, weniger Fotos, konzentrierte Atmosphäre - das Hinterzimmer der Apotheke. Vier ausgebildete Pharmazeuten sitzen vor Computerbildschirmen. Auf denen flimmert zum Beispiel das Rezept einer Patientin, Jahrgang 1935, wohnhaft in Bern. Die Pharmazeuten überprüfen das, was der Arzt bestellt hat. Gibt es Wechselwirkungen? Welche Medikamente wurden der Frau in den letzten Jahren verschrieben? Zum Schluss eine Unterschrift. Die Patientin bekommt ihre Tabletten.

Pötzsch nimmt die Treppe hinunter ins Lager. "Jetzt geht der Apotheker an seinen Schrank und holt den Saft." Voller Stolz öffnet er die Tür: Hunderte Quadratmeter voller Förderbänder, Plastikkartons und Medikamentenschachteln.

Der deutsche Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) würde sich beim Anblick dieses Medikamentenlagers vermutlich kurz am Türrahmen festhalten müssen. Nur wenige Tage nachdem der Europäische Gerichtshof im Oktober 2016 entschieden hatte, dass ausländische Versandhändler wie der Doc Morris, der 2012 von Zur Rose gekauft wurde, deutschen Kunden Rabatte gewähren dürfen, stellte sein Ministerium einen Gesetzentwurf vor: Gröhe will den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten verbieten. So sollen die deutschen Apotheker vor der Konkurrenz aus dem Ausland geschützt werden. Doch der Koalitionspartner SPD ist gegen das Verbot. Und so ruhen die Pläne des Gesundheitsministeriums, zumindest bis zu den Wahlen.

Zur Rose freut das. Der Handel mit rezeptpflichtigen Medikamenten habe sich 2017 stark gesteigert, heißt es in der Mitteilung zum Börsengang, er sei heute ein "attraktives Kerngeschäft". Noch vor ein paar Wochen galt in Deutschland die Formel: 99 Prozent der verschreibungspflichtigen Medikamente werden in Apotheken verkauft. Doch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes kündigen sich gewaltige Verschiebungen an.

Die deutschen Kunden sind preisbewusst, die Rabatte, die Doc Morris gewährt, sind beliebt. Und die deutschen Krankenkassen sind, trotz des Protests der Apotheker, zur Zusammenarbeit bereit.

Im Februar teilte der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen mit, dass die Versender weiter bei ihnen abrechnen dürfen. Auch die Kassen erhoffen sich sinkende Kosten: In der Schweiz ist Zur Rose im Durchschnitt zwölf Prozent günstiger als die Apotheken, was dem Gesundheitssystem nach Angaben des Unternehmens 30 Millionen Franken jährlich einspart.

Walter Oberhänsli, Gründer und CEO der Zur Rose Group, liebt solche Zahlen. Er erzählt gern, dass er von einer Zeitung als "eine Art Robin Hood" bezeichnet wurde. Als einer, der den etablierten Geschäften mit einem einfachen Trick die Kunden aus dem Laden lockt, einer, der den "Protektionismus der Branche" bekämpft. "Man muss ja nicht Betriebswirtschaft studiert haben, um zu verstehen, dass mit unseren effizienten Prozessen im Lager Skaleneffekte erzielt werden." Oberhänsli grinst.

Als er 1993 seine Einkaufsgenossenschaft für Ärzte gründete - in einigen Schweizer Kantonen dürfen sie kleine Privatapotheken halten - wollte er damit eigentlich nur die Apotheke in seiner Nachbarschaft "Zur Rose" finanzieren. Mit seiner auffälligen Brille und dem rosafarbenen Hemd sieht er aus wie ein bodenständiger Kreativer. Hinter seinem Schreibtisch hängt eine Leinwand auf der dutzendfach mit pinker Schreibschrift "Zur Rose" geschrieben steht. Das Unternehmen, mit dem sich Oberhänsli am liebsten misst, ist Amazon. "80 Prozent seiner Bücher" kaufe er dort, dabei seien Bücher ja etwas, das man gerne anfassen und durchblättern wolle. Medikamente dagegen?

Nichts als Wirkung. Zudem: klein, leicht, vorverpackt. Ideales Versandgut.

Und auch die Beratung, die Zur Rose online oder telefonisch anbietet, sei "aufgrund der digitalen Möglichkeiten mindestens so kompetent" wie in der Apotheke und "absolut diskret". Außerdem sagt Oberhänsli: "Unsere Pharmazeuten machen den ganzen Tag nichts anderes, sie sind darauf spezialisiert." Der Apotheker habe ja noch Dutzende andere Aufgaben. Die Zur Rose-Gruppe beschäftigt heute an verschiedenen Standorten mehr als 800 Mitarbeiter und erwirtschaftete 2016 einen Umsatz von 880 Millionen Franken, also etwa 810 Millionen Euro.

"Es geht erst langsam und dann sehr dynamisch. Wie bei einer Bakterienpopulation."

In der Schweiz, wo Oberhänsli etwa 200 000 Privatpersonen und einige Tausend Ärzte zu seinen Kunden zählt, gibt es einen weiteren Vorteil: Elektronische Rezepte. Die Medikamente werden damit direkt per Mausklick vom Arzt zum Versandhändler geschickt. Was bis 18 Uhr bestellt wird, ist am nächsten Tag beim Patienten. In Deutschland gibt es Rezepte nur auf Papier - auch das sei eine Strategie der Apotheker, um es den Konkurrenten aus dem Netz so schwer wie möglich zu machen.

Bis der Europäische Gerichtshof im Oktober ausländische Versandapotheken von der deutschen Preisbindung befreite, hatten sich Versand und Ladengeschäft gut miteinander eingerichtet. "Das Thema Versand war eigentlich kein großer Aufreger mehr", sagt Reiner Kern, Sprecher der Deutschen Apothekerverbände. Die Kunden bestellten vielleicht einmal eine nicht-verschreibungspflichtige Salbe online, blieben ihren Apotheken aber treu, wenn es um verordnete Medikamente ging.

Mit dem EuGH-Urteil ist alles anders.

Kern sagt, 20 bis 25 Prozent der Apotheken, besonders in ländlichen Gegenden, könnten mit den zu erwartenden Einbußen nicht lange überleben. "Jetzt ist es zu früh, um die Effekte im Detail zu beurteilen. Aber wir gehen davon aus, dass die Marktveränderung erst langsam gehen wird und dann sehr dynamisch. Wie bei einer Bakterienpopulation. Erst sieht man kaum etwas, und auf einmal ist die Petrischale voll." Wenn bei Kern die Petrischale voll ist, heißt das: Hunderte Apotheken auf dem Land mussten schließen, Schmerzpatienten und chronisch Kranke sind weniger gut versorgt. Auch individuell abgemischte Salben und Tropfen würden von den großen Online-Versendern oft nicht angeboten. Dass die Beratung online besser sei, hält Apotheker-Sprecher Kern für einen schlechten Scherz: Nur wer den Patienten "live und in Farbe" vor sich sehe, könne beurteilen, ob dieser blass, rotgesichtig oder übergewichtig sei.

Walter Oberhänsli nickt etwas unwillig. Ja, das könne schon sein, dass es Apotheken auf dem Land gebe, die ins Rudern kämen, besonders wenn es am Ort keinen Arzt mehr gebe. Er selbst hat schließlich eine Landapotheke aufgemacht und mit einer Einkaufsgenossenschaft querfinanzieren müssen. Aber darum gehe es doch: Das Geschäftsmodell weiterentwickeln, dem Markt anpassen. "Bislang gibt es keinerlei Beleg dafür, dass die Versandapotheken die Apotheken auf dem Land verdrängen." Auch die deutschen Krankenkassen sehen das so - und gehen noch einen Schritt weiter: Gerade auf dem Land könne der Versandhandel eine Möglichkeit sein, die Versorgung der Menschen zu verbessern.

Tatsächlich hätte der Gesetzgeber andere Möglichkeiten, um Landapotheken zu unterstützen - etwa eine bessere Vergütung von Not- und Nachtdiensten, mehr Geld für Beratung. Ein Verbot hält Oberhänsli für verfassungswidrig. Gerichtliche Auseinandersetzungen scheut der gelernte Anwalt nicht, im Gegenteil: "Der Weg von Zur Rose war seit jeher mit juristischen Auseinandersetzungen gepflastert." Es sei schließlich auf Konfrontation, auf schöpferische Zerstörung, ausgelegt.

Wieder spricht Oberhänsli von Amazon, Zalando, Nespresso - besonders Nestlés Kaffeekapseln aus Aluminium seien Vorbild für ihn. Dort werde schließlich der Versand kombiniert mit Flagship-Stores, die die "Marke offline erlebbar" machen.

Auch Zur Rose hat im August 2016 einen Flagship-Store eröffnet, direkt am Berner Hauptbahnhof. Dort ist eine Art Einkaufszentrum aus der Zukunft entstanden: Superfood-Stores verkaufen Goji-Beeren und "Performance-Molke", in großzügigen Selfie-Kabinen können die Kunden mit selbstgewähltem Licht und eigener Playlist die neugekauften Kleider anprobieren. Der Zur Rose-Store sieht aus wie eine Boutique: moderne Fabrikhallen-Optik, auf alt gemachtes Porzellan, Seife für 40 Franken, umgerechnet knapp 40 Euro. Eine Pharma-Angestellte führt durch die Räume. Stolz erzählt sie, ein Designer aus Mailand habe das Porzellan entworfen und man sei, natürlich, auch hier zehn Prozent billiger als die Konkurrenz.

In der Mitte der Apotheke ist eine gläserne Kabine, Aufschrift LAB. Hier soll man den Pharmazeuten beim Salbenmixen zusehen können, das Prinzip erinnert an einen Sushi-Laden, in dem die Köche vor den Augen der Gäste Fisch und Reis aufrollen. Hinter dem Kassenschalter eine Glaswand: Statt von einem Menschen zwischen wuchtigen Apotheker-Schränken wird das Lager von einem Roboter geführt. Wenn an der Kasse ein Medikament bestellt wird, fährt das Gerät durch die Regale, wo in scheinbarer Unordnung Tabletten und Salben angeordnet sind. Sekunden später fällt das Medikament hinter dem Apotheker aus der Glaswand.

Die Kunden in der Fabrikhalle scheinen jung und gesund, ein paar Pendler, die in Bern umsteigen und erkältet sind. Fühlen sich nicht auch einige Leute abgeschreckt von der reduzierten Atmosphäre, dem Glas-Roboter, den noblen Seifen? Die Pharma-Angestellte führt nach hinten. Ein grüner Ohrensessel, Kakteen. Eine Tafel lobt die Homöopathie. "Unsere Naturecke nennen wir das." Deutlich cooler findet die junge Frau aber den Automaten, der sich hinter einer Kletterpflanze verbirgt: Dort kann man Tag und Nacht vorbestellte Medikamente abholen. Dabei hat Zur Rose von 7 bis 20 Uhr auf. Für viele Pendler sei das aber nicht lange genug, sagt die Pharma-Angestellte - und fügt stolz hinzu, ein vergleichbares Angebot gebe es in Bern nicht.

Es ist in etwa so, als würde Amazon kuschlige Buchläden eröffnen. Mit handgeröstetem Espresso und Sofa-Ecken, die aussehen als wären sie geradewegs aus dem Harry-Potter-Film gefallen. Oberhänsli nickt. Der Gedanke gefällt ihm, der Vergleich sowieso. "Ich verstehe nicht, warum das ein Problem ist. Seit wann ist Wettbewerb gemein? Dann müssen sich die Buchläden etwas einfallen lassen, um die Kunden zu halten. Viele tun das auch." Der Store in Bern sei erst der Anfang. "Wenn der Markt das will", werden weitere folgen, sagt Oberhänsli, in wenigen Wochen soll eine Shop-in-Shop Apotheke im Supermarkt Migros in Bern entstehen.

"Seit wann ist Wettbewerb gemein? Die Läden müssen sich etwas einfallen lassen."

Die Zukunft? Sieht Oberhänsli, wie viele andere auch, im Smartphone-Geschäft. Die Doc-Morris-App hat schon heute eine Medikamentenliste des Kunden gespeichert - wer notfallmäßig ins Krankenhaus muss, kann den Ärzten mit einem Klick zeigen, was er einnimmt. Bald könnten individuelle Hinweise dazukommen, etwa wenn Bewegung oder eisenhaltige Ernährung als Ergänzung empfohlen wird.

Zurück ins Lager. Wie bei einer Apotheke üblich, können die Kunden auch Sonnencreme und Hustenbonbons kaufen. Bei Zur Rose wirkt das Angebot aber besonders breit: Proteinmüsli, Shampoo, Gleit- und Massagegel. Die unumstrittenen Produkte. Auch in Drogerien werden schließlich Meersalznasensprays angeboten. Und Zur Rose? Ist auch hier dabei: die deutsche Drogeriemarktkette dm arbeitet mit den Schweizern zusammen. Das sei "Teil der Omni-Channel-Strategie".

Im Klartext: Zur Rose will, wenn möglich, überall verkaufen.

Logistiker Andreas Pötzsch führt durch die Reihen, dann bleibt er vor einem vergitterten Kasten stehen: "Betäubungsmittel. Jeden Abend wird der Bestand überprüft Nur wenige Mitarbeiter haben Zutritt."

Weiter geht es zum Blistering: Hier werden Tabletten individuell nach Dosis verpackt. Für viele Pflegeheime sei das eine enorme Erleichterung. So müssten die Pfleger die Tabletten nicht aus der Packung nehmen und zuteilen. Auch deutsche Apotheken bieten diesen Service auf Anfrage. Andreas Pötzsch gerät ins Schwärmen: Weniger Fehler bei der Dosierung, mehr Zeit für die Patienten. Win-win-win!

© SZ vom 10.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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