Report:Die Wende

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Die Polen haben gewählt - und nun ist vieles anders: Die neue konservative Regierung verspricht Wohltaten, bezahlen sollen die Unternehmen. Investoren sind irritiert. VW baut trotzdem ein Werk.

Von Florian Hassel, Września

Läuft es mal nicht perfekt mit den Amtsgeschäften als Bürgermeister, kann sich Tomasz Kałużny mit dem Griff zu einem Glasflakon auf seinem Schreibtisch trösten. Auf dem Flakon ist ein Datum eingraviert: "18. 3. 2014". Im Flakon liegt der Korken einer Champagnerflasche. Es ist die Erinnerung an den größten Sieg Kałużnys - einen Sieg, um den ihn Bürgermeister in ganz Polen beneiden.

Das Amtszimmer des Bürgermeisters liegt in Września, einer 44 000-Einwohner-Stadt 50 Kilometer östlich von Poznan (Posen). Als Kałużny vor vierzehn Jahren Bürgermeister wurde, war in Września, dem ehemals preußischen Wreschen, die Vergangenheit ruhmreich, doch die Gegenwart trübe. Die Agrar- und Pharmafabriken und vor allem die Lautsprecherfabrik Tonsil, die Tausende von Polen Arbeit gegeben hatten, waren pleite oder schleppten sich der Insolvenz entgegen; fast ein Drittel der Einwohner war arbeitslos.

Allmählich ging es wieder aufwärts. Das verdankte Września nicht nur dem rührigen Bürgermeister, sondern auch seiner günstigen Lage an der Autobahn Warschau-Berlin und einer von Polens Regierung eingerichteten Sonderwirtschaftszone, mit Vorzugsbedingungen für ausländische Investoren. Kałużny hieß alle willkommen: einen Tierfutterproduzenten aus Frankreich, einen Autozulieferer aus Spanien, eine Lebensmittelfirma aus Indien, auch den polnischen Hersteller von Friedhofskerzen. Die Neuansiedelungen ersetzten freilich nur ein Drittel der Jobs, die seit dem Ende des Kommunismus verloren gegangen waren.

Dann aber zappelte ein ganz dicker Fisch an der Angel von Bürgermeister Kałużnys, der dringend Investoren suchte.

Wie der Fisch hieß, wussten weder der Bürgermeister noch die fünf Mitarbeiter, die in Września mögliche Investoren umwerben. Ein großer Makler fragte nach möglicher Infrastruktur für eine Fabrik. Als Kałużny nach einem Jahr 600 Fragen zu Straßen und Strom, Wasser und Gas und selbst der Lage von Bäumen beantwortet hatte, folgten die Auflösung des Rätsels und der Sieg. Am 18. März 2014 gab der VW-Konzern, der im nahen Posen seit 2003 den Stadttransporter Caddy produziert, bekannt, er werde in Września ein Werk zur Herstellung der nächsten Generation des Crafter-Transporters bauen. Mit gut 800 Millionen Euro ist es die bisher größte Auslandsinvestition in Polen.

Mehr als 3000 Menschen werden im neuen Werk arbeiten. Im Rathaus von Września ließen Kałużny und Mitarbeiter die Champagnerkorken knallen. "Wir haben deutlich mehr als eine Flasche getrunken", sagt der Bürgermeister trocken.

Ein paar Kilometer vom Rathaus entfernt sieht die Fabrik fast fertig aus - zumindest aus der Luft. Eine Halle aus glänzendem Stahl, einen Kilometer lang und einen halben Kilometer breit, ist das Herzstück des 300 Fußballfelder großen Werks. Aus dem sollen von Ende 2016 an täglich Hunderte Crafter-Transporter für den europäischen Markt rollen. In der Mitte der Halle steht schon eine erste, weiß glänzende Karosserie - ein Testmodell, an dem Ingenieure gerade Geräte der späteren Endmontage erproben.

Der Ingenieur Maciej Laufer spricht an diesem Tag mit Lieferanten für die Lackiererei. "Die Lackiererei wird 400 Mitarbeiter haben und stark automatisiert sein", sagt Laufer. "Je höher die Automatisierung, desto mehr Details müssen wir vor Beginn der Produktion klären. Und nach der Diskussion um die Dieselmotoren ist besonders wichtig, dass wir von Beginn an die Kunden überzeugen, Volkswagen ist immer noch ein Top-Autobauer."

"Zwei Drittel der Ausfuhren kommt von Firmen mit ausländischem Kapital."

Angesichts zuziehender VW-Mitarbeiter steigen in Września schon die Wohnungspreise, hofft Bürgermeister Kałużny auf Steuern und die nochmalige Halbierung seiner Arbeitslosenrate. "Jeder der 3000 Arbeitsplätze bei VW zieht mindestens zwei weitere Jobs nach sich. Wir erhoffen eine Menge positiver Folgen." Zwar stehen ausländische Unternehmen nur für ein Fünftel der Investitionen in Polen. 70 Prozent kommen von polnischen Unternehmen, zehn Prozent ist EU-Förderung.

Zeichen für die Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufschwungs in Polen - hier in Września baut Volkswagen gerade ein Werk. (Foto: Jakub Kaczmarczyk/dpa)

Polens Wirtschaft hängt von ausländischen Investitionen ab.

"45 Prozent unserer Wirtschaftsleistung entfallen auf den Export", sagt Polens Wirtschaftsminister Mateusz Morawiecki. "Aber nur knapp ein Drittel der Ausfuhren kommt von polnischen Unternehmen - doch 70 Prozent von Firmen mit ausländischem Kapital." Auf der Rangliste der Investoren oben stehen 6230 deutsche Firmen, die 27 Milliarden Euro investiert haben und 300 000 Polen beschäftigen. Den seit mehr als einem Jahrzehnt ungebrochenen Aufschwung verdanke Polen vor allem der Tatsache, dass es "integraler Bestandteil der deutschen Zulieferkette" ist und von "substantiellem Technologietransfer", höherer Produktivität und höherer Wettbewerbsfähigkeit profitiere, stellte der Internationale Währungsfonds (IWF) fest. Noch brauche Polen weiteren Wissenstransfer.

Der Stolz von Każmierz, dem verschlafenen Dorf 30 Kilometer nordwestlich von Poznan, ist die prächtige alte Backsteinkirche am Dorfplatz. Ein paar Hundert Meter hinter der Kirche aber hat die Allgäuer Käsefabrik Hochland eine Fabrik gebaut. In der steht an einem Februarmorgen Hubert Kaczmarek, 20, im roten T-Shirt eines Auszubildenden und ein erfahrener Kollege erklärt ihm, wie eine computergesteuerte Schmelzmaschine funktioniert. In den 24 Jahren, die Hochland in Każmierz und einer zweiten Fabrik bei Warschau produziert, sind viele der 800 Beschäftigten mit der Firma älter geworden, der Durchschnitt liegt heute bei 50 Jahren.

In ihren Schulen lernen junge Polen oft nicht, was moderne Industrieunternehmen brauchen.

Einige deutsche Unternehmen haben deshalb zusammen mit der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer (AHK) die duale Ausbildung importiert. Hochland bildet 44 Lehrlinge aus, zusammen mit zwei polnischen Berufsschulen: Hubert Kaczmarek pendelt seit 2013 zwischen Berufsschule und Fabrik und lernt etwa die Bedienung von über 50 Maschinen der modernen Lebensmittelindustrie.

Im kommenden Frühjahr legt Kaczmarek zwei Prüfungen ab: eine in der polnischen Berufsschule, eine zweite vor der AHK. Als "Fachkraft Lebensmitteltechnik" mit AHK-Zeugnis könnte Kaczmarek dann in der gesamten EU arbeiten - und deutlich mehr verdienen als in der Heimat. Allein seit dem EU-Beitritt 2004 sind über zwei Millionen junge Polen ausgewandert: nach England und Deutschland, den Niederlanden oder in die USA. Trotz wachsender Wirtschaft ist ein Viertel junger Polen arbeitslos, finden viele nur Jobs auf Zeit.

Selbst junge Ingenieure verdienen in Polen nur zwischen 450 und 600 Euro netto.

Auch ein begehrter Arbeitgeber wie Volkswagen zahlt nur wenig mehr. Immerhin sorgen ausländische Investitionen dafür, dass nicht noch mehr Polen ihr Land verlassen. Auch Maciej Laufer, der Ingenieur aus der künftigen VW-Lackiererei in Wrzesnia, erwog zum Ende seines Studiums vor 15 Jahren, nach Deutschland auszuwandern. "Aber als ich damals von Volkswagen in Poznan erfuhr, dachte ich: Dann kann ich auch hierbleiben." Mittlerweile steht der 39 Jahre alte Laufer seit 14 Jahren in VW-Diensten, mit seiner ebenfalls bei VW arbeitenden Frau Ella hat Laufer zwei Kinder. Auch Lebensmitteltechniker Kaczmarek will bleiben und mit Freunden, dem Autolackierer David und dem beim koreanischen Samsung-Konzern tätigen Elektromechaniker Krzystof, eine Wohngemeinschaft gründen.

"Polen könnte Drohnen bauen oder generische Medikamente herstellen."

Wirtschaftsminister Mateusz Morawiecki will die Abhängigkeit von ausländischen Investoren verringern und "polnische Firmen aufbauen, die weltweit konkurrieren, die nach China, nach Indien, nach Afrika gehen können". Solcher Anspruch scheint angesichts begrenzten Kapitals hoch gegriffen. Nach polnischen Produkten für den Weltmarkt befragt, gibt Morawiecki zu, Polen könne lediglich "Nischen besetzen" und "etwa Drohnen bauen oder generische Medikamente herstellen. Polnische Programmierer sind in der IT-Branche erfolgreich, die polnische Firma Solaris baut moderne Elektrobusse."

Eine Szene in Warschau: Viele Investoren sind vom nicht gerade wirtschaftsfreundlichen Kurs der neuen Regierung verunsichert. (Foto: Kacper Pempel/Reuters)

Schon jetzt können manche Unternehmer Beruhigungsmittel gebrauchen. Die Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis), deren Chef Kaczyński Europa im allgemeinen und Deutschland im besonderen skeptisch oder gar feindlich sieht, hat im Wahlkampf viel versprochen - etwa mehr Kindergeld und weniger Steuern.

Finanzieren sollen diese milliardenschweren Wohltaten vor allem ausländische Unternehmen - allen voran die bei vielen Polen ungeliebten Banken und Handelsunternehmen. Polens Banken gehören zu zwei Dritteln Ausländern (Commerzbank, Deutsche Bank, ING). Im Handel dominieren Ketten aus Frankreich (Auchan, Carrefour) und England (Tesco), Deutschland (Metro, Lidl) oder Portugal (Jerónimo Martins). Eine jedes Jahr zu zahlende Sondersteuer auf Banken in Höhe von 0,44 Prozent der Aktiva ist bereits eingeführt.

Zudem hat Polens Präsident im Parlament einen Entwurf für ein Gesetz eingebracht, das Banken auch zur Zwangsumwandlung von Krediten von umgerechnet 31,5 Milliarden Euro zwingen soll, die eine halbe Million Polen früher in Schweizer Franken aufnahmen - und für die sie wegen des seitdem gestiegenen Franken-Kurses heute höhere Raten zahlen müssen. Polens noch unabhängiger Zentralbank zufolge würde das Gesetz die Banken zehn Milliarden Euro kosten. Es stelle "eine ernsthafte Bedrohung" für die Banken dar.

Auch Supermärkte und Tankstellen, Handelsketten und Einzelhandel gelten der Pis wegen behaupteter riesiger Gewinnspannen und oft ausländischer Besitzer als legitimes Ziel. Sie sollen mit einer juristisch gleichfalls fragwürdigen, nach Umsatz gestaffelten Sondersteuer zur Kasse gebeten werden - bis hin zu einer Sondersteuer von 1,9 Prozent auf alle Einkäufe am Wochenende oder an Feiertagen, wenn Polens Einkaufszentren voll sind.

Renata Juszkiewicz repräsentiert als Vorsitzende der Polnischen Handels- und Vertriebsorganisation vor allem große ausländische Handelsketten. "Die Rentabilität im polnischen Handel liegt insgesamt bei rund 1 Prozent. Bei den großen Einzelhandelsketten sind es oftmals nur 0,5 Prozent, die kleineren polnischen Supermärkte kommen auf 1,5 bis 2 Prozent. Wenn nun zusätzlich diese Steuern bezahlt werden müssen, wird es für einige Einzelhändler schwierig, überhaupt ein Geschäft zu machen", sagt Juszkiewicz, die in Polen auch Repräsentantin der Metro-Gruppe (Metro-Großmärkte, Saturn, Media-Markt) ist. "Wir vom Verband haben der Regierung gesagt, dass einige Mitgliedsunternehmen ihre Investitionen erst einmal stoppen und wahrscheinlich auch zu Reduzierungen bei bestehenden Arbeitsplätzen gezwungen sein werden."

Bleibe es bei den angekündigten Sondersteuersätzen, "dürften sich auch andere Investoren überlegen, ob sie in Polen investieren, oder ob sie als Nächste betroffen sein könnten", sagt Juszkiewicz. Obwohl die Handelsvertreter ihre Argumente sowohl einem Parlamentsausschuss wie Ministerpräsidentin Szydlo, Finanzminister Szalamancha und Wirtschaftsminister Morawiecki vortrugen, änderte dies nichts. Nachdem der Protest auch kleinerer polnischer Händler stärker wurde, will das Finanzministerium womöglich nachbessern.

Immerhin ist die neue Regierung bei den Wirtschaftsgesetzen langsamer als beim Ausbau ihrer politischen Macht.

Verfassungsgericht und Staatsanwälte, Beamtenapparat und öffentlich-rechtliche Medien machte sich die Pis mit durchs Parlament gepeitschten Gesetzen bereits untertan. Für die die Wirtschaft betreffenden Gesetze aber gibt es bisher, abgesehen von der Sondersteuer auf die Banken, nur Entwürfe. Für das Zögern gibt es gute Gründe: Seit die Pis im Frühjahr 2015 mit ihrem Vormarsch begann und mit ihren teuren Wahlversprechen erst das Präsidentenamt gewann und dann die Regierung, hat der Zloty gegenüber dem Euro ein Zehntel seines Wertes verloren.

Am 15. Januar setzte Standard & Poor's als erste Ratingagentur die Kreditwürdigkeit des Landes herunter. Die US-Großbank JP Morgan riet bereits, Zloty zu verkaufen. Das ist keine Kleinigkeit für Polen: Dem IWF zufolge halten Ausländer 40 Prozent der polnischen Staatsanleihen. Sinkt Polens Rating, muss es höhere Zinsen zahlen.

Polen ist in Zentral- und Osteuropa deutsches Investitionsziel Nummer eins.

Für Polen sprachen einer AHK-Umfrage zufolge vor allem Polens EU-Mitgliedschaft und die politische Stabilität - bis jetzt. Der Anwalt Roman Rewald hat Polens Wandel im letzten Vierteljahrhundert mitverfolgt, lange als Präsident der Amerikanischen Handelskammer in Polen.

"Es sieht so aus, als ob es keine politische Stabilität mehr gäbe."

Ankündigungen der Regierung, vor allem polnische Unternehmen fördern zu wollen, und ihr "revolutionärer Ansatz gegenüber der Wirtschaft" weckten "eine Menge Ängste", sagt Rewald. Auch politische Schritte der Pis, etwa gegen das Verfassungsgericht, seien "ziemlich erschreckend - sie ähneln denen von jemand, der sich eingraben und seine Macht nicht mehr in Wahlen abgeben will". Er glaube nicht, dass die Pis ein autoritäres System errichten wolle, "aber der Anschein ist da, und deswegen protestieren die Leute in Polen". Bisher sei die politische Stabilität in Polen hervorragend gewesen. "Jetzt aber stellen sich viele Fragen - vor allem in den Vorstandsetagen von Firmen, die überlegen, in Zentral- und Osteuropa zu investieren. Die Vorstände lesen, was gerade alles in Polen geschieht und sagen sich: 'Es sieht so aus, als ob es keine politische Stabilität mehr gäbe. Wir sollten erst einmal abwarten. Oder vielleicht gleich anderswo investieren.'"

© SZ vom 13.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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