Report:Die Karstadt

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Recklinghausen ist eine gequälte Stadt. Die letzte Kohlenzeche schließt. Die Kommune ist finanziell am Ende. Der Kaufhauskonzern macht seine Filiale zu. Gibt es eine Zeit danach?

Von Karl-Heinz Büschemann, Recklinghausen

Brigitte Wefringhaus, 76, kann gut Dinge in die Hand nehmen und vielseitig ist sie auch. Sie hat fast drei Jahrzehnte auf der Trabrennbahn in Recklinghausen gearbeitet, am Schalter die Wetten angenommen, Besucher durch das Gelände und die Ställe geführt. Und wenn es sein musste, mal eben einer aufmarschierten Bergmannskapelle die drei Dutzend Stühle besorgt, um die Musiker in der Sommerhitze vor dem Umkippen zu bewahren. Für ihre Chefs war die Mitarbeiterin eine Allzweckwaffe. Wenn mal etwas schieflief, brachte sie die Sache schnell in Ordnung.

Gerade läuft wieder etwas gewaltig schief in der Stadt im nördlichen Ruhrgebiet. Die Rentnerin mit dem kurzen grauen Haar, der modischen Brille und dieser resoluten Bestimmtheit hat wieder etwas, worum sie sich kümmern muss: Die Karstadt-Filiale in Recklinghausen soll zugemacht werden, und sie ist der Meinung, das könne nicht angehen. "Da muss man doch etwas tun", sagt die Rentnerin. Wefringhaus ist eine normale Bürgerin, die seit 50 Jahren in Recklinghausen wohnt, in der katholischen Kirchengemeinde aktiv ist. Regelmäßige Karstadt-Kundin ist sie auch.

"Karstadt hat in Recklinghausen eine Tradition." Das reicht Brigitte Wefringhaus, um sich schützend vor das Kaufhaus am Marktplatz zu stellen.

Im Mai hatte die Essener Konzernzentrale des seit 2004 tief in der Krise steckenden Kaufhauskonzerns überraschend bekannt gegeben, die Filialen in Recklinghausen, Bottrop, Mönchengladbach, Dessau und Neumünster würden im nächsten Jahr dichtgemacht. Der Bürgermeister klagte, die Manager erklärten. Brigitte Wefringhaus startete eine Unterschriftenaktion. Der Rentnerin war auf die Schnelle nicht einmal ein zündender Kampfslogan eingefallen. Auf den Unterschriftenzettel schrieb sie einfach: "Karstadt soll erhalten bleiben." Sonst nichts.

Das reichte: In anderthalb Stunden hatte sie auf dem Marktplatz schon 200 Unterschriften zusammen. "Die Leute haben Schlange gestanden." Sie legte ihre Zettel in den umliegenden Geschäften aus und binnen weniger Tage hatten ihr 5000 Menschen schriftlich gegeben, dass ihr Marktkaufhaus bleiben müsse. Karstadt-Mitarbeiter steckten ihr zum Dank Pralinen zu. Bürger, die weder gegen Pershing-Raketen noch gegen Handelsabkommen auf die Straße gehen würden, machten selbst Jagd auf Pro-Karstadt-Unterschriften. Reichlich unbescheiden sagt Brigitte Wefringhaus: "Ich vertrete die Meinung der Bürger von Recklinghausen."

Deshalb hat sie beim Karstadt-Konzernchef Stephan Fanderl um einen Termin gebeten, um ihm die lange Liste zu übergeben. Nach langem Zögern in Essen kam die Zusage für ein Gespräch. Inzwischen hat es sich der Karstadt-Chef wieder überlegt, er will die Abordnung aus Recklinghausen doch nicht empfangen. "Wegen Überarbeitung", ließ Fanderl ausrichten. Die Unterschriftensammlerin ist fassungslos. "Das ist feige", sagt sie. Die Bittfahrt hätte sie für ihre Stadt gerne gemacht.

Recklinghausen ist eine gequälte Stadt. Wie viele Kommunen im nördlichen Ruhrgebiet kämpft sie seit Langem mit den Folgen der Strukturkrise nach dem Ende des Kohlebergbaus. In den Sechzigerjahren hatte die Kreisstadt über 130 000 Einwohner. Heute sind es nur noch 116 000, und die Abwanderung wird weitergehen.

"Ich lasse mir meine Stadt nicht schlechtreden", sagt Bürgermeister Tesche

Die Filiale von Karstadt am Recklinghäuser Markt spiegelt die Geschichte dieser Stadt wider. Der mächtige Sandsteinklotz in der besten Lage der Stadt war mal das Konsumherz einer wohlhabenden Stadt. Heute ist er verschmuddelt, das Gebäude wirkt vernachlässigt. Der Bauklotz steht für Krise: für die Krise des Traditionskonzerns wie für die Krise der Stadt.

Da hängt vieles zusammen. Das sieht offenbar auch der Karstadt-Aufsichtsratschef Wolfram Keil so. Der sucht die Schuld für die Karstadt-Krise nicht nur beim eigenen Management, sondern auch bei den Städten. Die täten nicht genug für ihre Citys und ihre Einkaufszonen. Filialen wie die in Recklinghausen, so poltert Keil, hätten "keine Zukunftsperspektive". Der Konzern vermisse "Initiativen der Städte" zur Verbesserung der Lage des Einzelhandels. Ein "nachhaltiger Turnaround" seiner defizitären Häuser sei "unmöglich".

Dieser Satz hat in Recklinghausen eine Wutwelle ausgelöst. Bürgermeister Christoph Tesche (CDU) muss sich zusammenreißen, um nicht zu Worten zu greifen, die als Beleidigung durchgehen könnten. "Das ist eine Frechheit", schnaubt der Rathauschef: "Ich lasse mir meine Stadt nicht schlechtreden."

Recklinghausen hat mal bessere Zeiten gesehen. Das wuchtige Rathaus am Rande der Altstadt ist ein zu Stein gewordenes Zeugnis des alten Wohlstands. Der Bau mit dem patinagrünen Turm stammt von 1908, als Kaiser Wilhelm II. regierte, in Recklinghausen die Schlote rauchten und der Kohlebergbau den Reichtum aus dem Boden holte.

Heute ist Recklinghausen arm.

Die letzte Zeche in der Nachbarschaft macht Ende des Jahres dicht, die Stadt hat eine Arbeitslosenquote von 12,7 Prozent, die höchste weit und breit, und der größte Arbeitgeber ist die Stadtverwaltung selbst. Die Kommune unterliegt dem sogenannten Stärkungspakt. Das klingt freundlich, heißt aber, dass die Stadt praktisch pleite ist und ständig bei der Landesregierung in Düsseldorf nachfragen muss, ob sie einen Euro ausgeben darf. Bürgermeister Tesche ist kaum handlungsfähig. Er muss sehen, wie er ohne Geld die Stadt jeden Tag ein wenig nach vorne bringt, wie er Firmen und Jobs in die Stadt holen kann. Und dann muss er sich Vorwürfe aus der Karstadt-Zentrale anhören. Der Warenhauskonzern wirft dem Rathauschef vor, mit dem Bau eines neuen Einkaufszentrums in der Innenstadt Karstadt Kunden weggenommen zu haben. Seit der Eröffnung der neuen "Palais Vest"-Ladenzeile im Oktober, so heißt es in Essen, sei bei Karstadt der Umsatz um 15 Prozent zurückgegangen.

Tesche schüttelt den Kopf. Alles Quatsch will er damit sagen. "Wir erleben hier seit 15 Jahren ein Sterben auf Raten", klagt der Bürgermeister über den Niedergang des Kaufhauses am Markt. Der Stadtchef vermutet, dass die Entscheidung zur Schließung schon vor langer Zeit gefallen ist. Das könne man an der unzeitgemäßen Präsentation der Waren in dem Kaufhaus sehen. "Karstadt hat nicht die richtige Anpassung vorgenommen", kritisiert der Rathauschef.

Am Recklinghäuser Markt herrscht Ausverkaufsstimmung.

Die Schaufenster von Karstadt hängen voller feuerroter Plakate, die mit Rabatten von 50 Prozent locken. Erst in zwölf Monaten ist hier Schluss, aber schon heute hat man den Eindruck, dass die Menschen an diesem früheren Konsumtempel vorbeigehen. Im Erdgeschoss sieht es aus, als seien die Siebzigerjahre noch nicht vorbei. Gleich im Eingangsbereich stehen Reisekoffer neben der Parfümerietheke, und in den oberen Etagen bei Spielwaren oder Textilien sind kaum Kunden zu finden. In der Elektroabteilung fragt ein Kunde nach einem Verlängerungskabel.

"Zu einem ungünstigeren Zeitpunkt hätte die Schließung für mich nicht kommen können", sagt der Verkäufer. Er ist 56 Jahre alt und seit mehr als zwei Jahrzehnten bei Karstadt. Was soll er tun, wenn hier im nächsten Jahr die Lichter ausgehen? Er wirkt nicht niedergeschlagen und macht sich selbst Mut. Er habe ja noch ein Jahr Zeit, sich etwas Neues zu suchen. "Es gibt auch ein Leben nach Karstadt."

Gilt das auch für die Stadt? Die Verkäuferin in einem benachbarten Geschäft fürchtet den öden Anblick des leeren Großkaufhauses, man wisse ja nicht, was komme, sagt sie. "Ein Leerstand wäre tödlich." Die Besitzerin einer nahegelegenen Weinhandlung lässt sich zu dem pathetischen Satz hinreißen: "Recklinghausen trauert."

Das sieht auch die Karstadt-Aktivistin Wefringhaus so, und sie tut einiges, um der Trauerstimmung etwas entgegenzusetzen. Wenn die Rentnerin nicht gerade Unterschriften pro Karstadt sammelt ist sie Fremdenführerin. Wie bitte?

Touristen in Recklinghausen? Dieser ungläubigen Frage hält Wefringhaus ein wissendes Lächeln entgegen, sie zählt die Sehenswürdigkeiten der Stadt auf, die vom einzigen Ikonenmuseum in Westeuropa bis zum Schiffshebewerk im benachbarten Henrichenburg reichen.

Im Herbst, wenn die Stadt unter dem Motto "Recklinghausen leuchtet" ihre Fassaden oder Kirchen bunt anstrahlt, gebe es 10 000 Besucher am Tag. Da strahlt auch Wefringhaus und freut sich, dass sie wieder Positives über die Stadt sagen kann, für die es gerade nicht gut läuft und für die das Ende ihres Kaufhauses ein schwerer Schlag ist, weil der Markt nun mal das Herz der Einkaufsstadt ist. In Recklinghausen sagen sie: die gute Stube.

Die Stadt hat sich angestrengt, in den einzelnen Vierteln der kreisrunden Altstadt haben sich Ladenbesitzer zusammengetan, um ihre verwinkelten Straßen attraktiv zu machen. Sie stellen Blumenkübel vor ihre Läden, streichen die Häuser an, erzeugen ein freundliches Ambiente und verlassen sich nicht auf die Verwaltung - die kein Geld hat. Sie nehmen die Verschönerung selbst in die Hand. In anderen Städten des nördlichen Ruhrgebiets vergammeln Einkaufsstraßen. In Recklinghausen haben sie die Fassaden herausgeputzt. Es gibt Läden in westfälischen Fachwerkhäusern, die der Kreisstadt die gemütliche Anmutung eines Dorfes erlauben.

Im Krim-Viertel gibt es Bier und Kaffee unter einem Walnussbaum.

Christa Schubert ist eine Frau, der man schon aus der Ferne ansieht, dass sie sich mit Wucht für andere einsetzt. Die Betriebsratsvorsitzende der Karstadt-Filiale ist Anfang 60 und strahlt mit ihrer ganzen Persönlichkeit aus, dass sie vor großen Tieren keine Scheu hat. Sie saß lange im Aufsichtsrat von Karstadt und hatte es mit vermeintlichen Wundermanagern wie Thomas Middelhoff oder angeblichen Rettern wie dem deutsch-amerikanischen Investor Nicolas Berggruen zu tun.

Selbst auf der futuristischen Astronomiehalde ist die Stadt vom Pech verfolgt

Alle hätten sie Versprechungen gemacht. Aber für ihre Filiale in Recklinghausen hätten die Herren "nie etwas gemacht". Sie schluckt. Bei Schubert liegen Kompetenz und Emotionalität so nah beieinander, dass sie auch mal in Tränen ausbricht, wenn sie über ihre Arbeit berichtet.

"Wir leben hier seit zehn Jahren in der Todeszelle", sagt die Betriebsrätin. Die Pläne, die Filiale in Recklinghausen zu schließen, hätten in Essen schon lange in der Schublade gelegen, weiß sie. Die gelernte Köchin, die viele Jahre im Restaurant von Karstadt arbeitete, spricht atemlos wie eine Gejagte. Sie sagt "Rellinghausen", wenn sie Recklinghausen meint, und sie erzählt, dass es erst zuletzt wieder Hoffnung gegeben habe. "Das Sortiment ist viel besser geworden, auch die Zahlen", berichtet sie: "Alle haben sich gefreut." Die Arbeitsplätze am Recklinghäuser Markt seien wieder sicherer geworden. Und dann sei der "Schlag mit dem Hammer" gekommen. Die Kollegen hätten unter Schock gestanden. Manche hätten sich krankgemeldet, einige seien zusammengebrochen. "Diese Zeit möchte ich nicht noch einmal erleben", und wieder werden ihre Augen feucht: "Das Schöne ist, wir geben uns hier gegenseitig Halt."

Aber ausgerechnet jetzt muss sie gehen, ein Jahr früher als geplant. Sie würde gerne bis zum Schluss im Betriebsratsbüro unterm Dach der Filiale bleiben und sich mütterlich um ihre Kollegen kümmern. Aber es geht nicht. Ihr Mann ist krank und braucht sie noch mehr, als die Mitarbeiter der Filiale sie brauchen. Christa Schubert hat den Abschiedsbrief schon verfasst, den sie ihren 110 verbliebenen Karstadt-Kollegen Ende August mailen will. In ihren 37 Jahren als Betriebsrätin habe sie immer ein Gedanke getrieben: "Die Filiale mit ihren Arbeitsplätzen zu erhalten." Das sei ihr leider nicht gelungen. Sie werde alle vermissen. "Danke, Eure Christa."

Der Kampf um Karstadt ist offenbar Frauensache. Die Aktivistin Brigitte Wefringhaus wird jedenfalls weitermachen im Kampf um ihr Kaufhaus. Sie verspricht, der Unternehmens-Vorstand, der jetzt keine Zeit für sie hat, werde in Kürze von ihr hören. In ihrer Rolle als Fremdenführerin und Werberin für eine unterschätzte Stadt verliert sie keine Minute.

Sie packt den Besucher in ihren VW Golf und fährt auf einen Berg, der mit 140 Metern für die örtlichen Verhältnisse hoch ist. Der Hügel mit Namen "Hoheward" ist eine Schutthalde, die aus dem Abraum der Kohlenzeche Ewald in Herten aufgeschüttet wurde. Längst ist die künstliche Erhebung mit Gras und blühenden Büschen bewachsen und zum Park geworden. Es gibt Wander- und Fahrradwege und oben liegt: Stonehenge. Eine 2008 erbaute Großskulptur aus zwei Rohrbögen, die ineinander verschränkt den Äquator und den Meridianbogen des Erdballs darstellen.

Das Horizont-Observatorium dient ähnlich wie die Steinzeitfelsen im südenglischen Stonehenge der Beobachtung von Sonne, Mond und Sternen. Kunst und Astronomie als Touristenattraktion.

Aber selbst auf der Astronomiehalde ist Recklinghausen noch vom Pech verfolgt. Die futuristischen Rohrschlingen haben einen Riss bekommen. Sie könnten einstürzen. Das Bauwerk ist vorsichtshalber eingezäunt, die moderne Attraktion der Stadt darf nicht betreten werden.

Dieser Mangel hält die Karstadt-Aktivistin nicht davon ab, weiter für Recklinghausen zu trommeln: "Dort in der Ferne, das ist das Rathaus." Sie kenne alle Namen der grünen Bergrücken zwischen Essen im Westen und Bergkamen im Osten. Dann sagt Brigitte Wefringhaus wie automatisch: "Das Ruhrgebiet ist doch herrlich."

© SZ vom 18.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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