Report:Aufbruch oder Niedergang

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Drei Wochen vor der Präsidentschaftswahl ist Frankreich wirtschaftlich tief gespalten. Eine Reise zu Unternehmern, die beherzt Chancen ergreifen - und zu solchen, die das Land am liebsten von der Welt abschotten wollen.

Von Leo Klimm, Denain/Onnaing/Roubaix

Richard Krawczyk schwankt - zwischen Wut und Verzweiflung. "Wir werden aufgegeben", klagt er. Krawczyk arbeitet hart, "jede Woche 70 Stunden". 150 000 Kilometer legt der Unternehmer für Expresslogistik mit seinem Transporter jährlich zurück. Am Ende bleiben ihm und seiner Familie weniger als 1000 Euro im Monat. "Das ist ungerecht." Krawczyk spricht ruhig, aber der Blick verrät ein böses Gefühl: das Gefühl der Demütigung. Sein Gesicht wirkt müde für einen 33-Jährigen. Die Tagestour ist erledigt, jetzt sitzt er in einer verrauchten Bar in Denain, Nordfrankreich, einst Kohlerevier, heute eine der ärmsten Städte des Landes. "Dieses Leben macht, dass ich den Front National liebe", sagt er ohne Umschweife. "Die Konkurrenz aus dem Ausland macht uns Franzosen kaputt."

Auch die Stadt Roubaix, 50 Kilometer von Denain entfernt, ist von Verfall gezeichnet. In einer Halle, in der früher Kunststoff gespritzt wurde, hat Octave Klaba seine Firmenzentrale. Er sagt: "Frankreich ist ein gutes Land für Unternehmer." Von Roubaix aus hat er OVH aufgebaut - einen heimlichen Digitalchampion, den größten europäischen Betreiber von Rechenzentren. Es läuft blendend: OVH wird mit mehr als einer Milliarde Euro bewertet; jeden Monat stellt Klaba, 42 Jahre, 50 Leute neu ein, die meisten in Frankreich. Zugleich expandiert er über alle Grenzen hinweg. "Die Öffnung zur Welt ist ein Muss", sagt er. Mit der Abschottungsideologie des rechten Front National (FN) kann er nichts anfangen.

Früher war Roubaix ein Zentrum der Textilindustrie. Heute dienen verlassene Hallen und Häuser Sprayern als Leinwand - oder manchen Unternehmen als Firmenzentralen, wie etwa dem Cloud-Anbieter OVH. (Foto: Philippe Huguen/AFP)

Richard Krawczyk und Octave Klaba - zwei Unternehmer aus Frankreich. Einer würde sich und das ganze Land am liebsten aus der Welt ausklinken. Der andere ergreift beherzt die Chancen, die ihm eine Ära der Umbrüche bietet. Beide haben Vorfahren, die einst aus Polen einwanderten, weil der Bergbau ein besseres Leben verhieß. Und dass die Enkel heute, 2017, so verschiedene Perspektiven auf Frankreich haben, das sagt viel über den Zustand der Wirtschaft des Landes vor der Präsidentenwahl Ende April. Einer Wirtschaft zwischen Aufbruch und Niedergang.

Im früheren Industriegürtel im Norden treten die Gegensätze besonders scharf hervor. Hier lässt sich besichtigen, was passiert, wenn sich Strukturen jahrzehntelang nicht wandeln. Und wie auf den Ruinen der Vergangenheit doch Neues entsteht. Nirgendwo sonst ist die Spaltung zwischen einem angststarren und einem dynamischen Frankreich so deutlich wie in dieser Gegend. Bei der Wahl, soviel ist schon absehbar, wird sich diese Zerrissenheit landesweit im Ergebnis von FN-Chefin Marine Le Pen niederschlagen. Wer sich in der französischen Wirtschaft als Verlierer von Globalisierung und Digitalisierung fühlt, der wählt FN. Bei kleinen Selbständigen wie Krawczyk und unter Landwirten sind die Rechtsextremen stärkste Partei, bei Arbeitern und Arbeitslosen sowieso.

Das Land ist für Investoren gerade so attraktiv wie seit zehn Jahren nicht mehr

Dabei hat sich die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt unter dem scheidenden sozialistischen Präsidenten etwas erholt - was François Hollande nicht zuletzt einem günstigen Umfeld aus niedrigen Zinsen und billigem Erdöl verdankt. Das Staatsdefizit hat er von 4,8 auf 3,4 Prozent gedrückt, 2017 könnte Frankreich erstmals seit 2007 wieder die EU-Grenze von drei Prozent einhalten. Die Gewinnmargen der Unternehmen steigen - eine Grundvoraussetzung für spätere Investitionen. Die Zahl der Firmengründungen nimmt zu, die der Pleiten sinkt. In der Industrie macht sich bemerkbar, dass Hollande die Arbeitskosten mithilfe von Steuergutschriften unter deutsches Niveau gesenkt hat. So wird das Land auch für ausländische Investoren wieder attraktiver: 2016 fielen so viele Investitionsentscheidungen zugunsten des Standorts Frankreich wie seit zehn Jahren nicht. Das einschlägige Ranking der Agentur Thomson Reuters zur Innovationskraft von Firmen führt Frankreich konstant an dritter Stelle, hinter den USA und Japan.

SZ-Karte (Foto: wi_karte fra)

Doch all die positiven Trends reichen bisher nicht, um Frankreichs Verlierern wieder zum Anschluss zu verhelfen zu den Gewinnern, die sich in den betriebsamen Großstädten konzentrieren und die längst in der neuen Zeit angekommen sind. Denn den positiven Trends stehen alte, wirkmächtige Schwächen gegenüber, die den Aufschwung bremsen. Es sind dieselben Schwächen, die der Ökonom Jean Fourastié in seinem Werk "Les Trente Glorieuses" beschrieb. Das war 1979 - und dass die Analyse immer noch gilt, ist bezeichnend für die Fähigkeit der Entscheider in den Pariser Machtzentralen, den wirtschaftspolitischen Rahmen an äußere Bedingungen anzupassen. Auch Hollande hat in fünf Jahren wenig gegen die von Fourastié beschriebenen Probleme ausgerichtet: hohe Staatsausgaben, hohe Abgabenlast, hohe Komplexität im Arbeits- und Steuerrecht, hohes Außenhandelsdefizit. 2016 ist der Fehlbetrag wieder einmal angestiegen. Ein Grund dafür ist, dass selbst die Landwirtschaft - früher eine französische Domäne - mit Ausnahme des Weinbaus nicht mehr konkurrenzfähig ist. An jedem dritten Tag des vergangenen Jahres, behauptet Frankreichs Bauernverband, habe ein Landwirt Suizid begangen. So hoffnungslos sei die Lage.

Prekarität und Arbeitslosigkeit. Für die breite Masse der Franzosen ist dies das wahlentscheidende Thema, sagen die Demoskopen. Mehr noch als der Kampf gegen den islamistischen Terror, der das Land so erschüttert hat. Zwar wurden 2016 im privaten Sektor netto 190 000 Stellen geschaffen. Doch das genügt nur für einen Mini-Rückgang der Arbeitslosenquote - auf knapp unter zehn Prozent.

Fast 60 Prozent der Franzosen, hat das Institut Elabe ermittelt, empfinden ihre wirtschaftliche Lage schlechter als zu Hollandes Amtsantritt. Zugleich allerdings glauben fast 70 Prozent, dass der Wirtschaft in den kommenden Jahren ein Comeback gelingt. Da ist er wieder, der Zwiespalt.

"Ich würde sofort wieder in diesem Land gründen", sagt der IT-Unternehmer Octave Klaba. (Foto: oh)

OVH-Chef Octave Klaba zählt zu den Frankreich-Optimisten. "Ich würde sofort wieder in diesem Land gründen", sagt er. Mit den speziell französischen Widrigkeiten, die das Leben als Entrepreneur erschweren, kann er gut umgehen. Sie haben ihn auch nicht gehindert, den größten europäischen Cloud-Betreiber hochzuziehen, einen Anbieter von IT-Speicherplatz und Webhosting für Firmenkunden. "Wir sind an den Widrigkeiten gewachsen", sagt er.

In einer großen Halle mit wenig Tageslicht sitzen Dutzende Informatiker in Reih und Glied. Sie starren angestrengt auf ihre Bildschirme. Klaba schlurft im weißen Schlabber-T-Shirt durch die Halle, er könnte auch als der Hausmeister durchgehen. 1999 schaltete er in einer verlassenen Manufaktur in Roubaix die ersten Computer zusammen. Seither kauft er ringsherum eine alte Fabrik nach der anderen, um darin Zehntausende Rechner in Stapeln aufzubauen und so die digitale Welt am Laufen zu halten. Und jetzt expandiert er mit aller Macht, auch nach Deutschland und in die USA, steigert die Mitarbeiterzahl um die Hälfte, auf 2200, sucht händeringend nach qualifizierten Leuten. Mit Betonung auf qualifiziert. Klaba muss ja gegen Wettbewerber wie Google und Amazon bestehen.

Für Frankreichs Verlierer ist bei OVH daher nicht so viel Platz. Nur ein paar Jobs reserviert Klaba für ein Förderprogramm namens "Schule der zweiten Chance". Ansonsten sucht er Leute mit Studium, die etwas von IT verstehen. Das Durchschnittsalter bei OVH ist 32 Jahre. Wer den Anschluss verpasst hat, wird ihn hier kaum finden.

Im Ort Denain sind mehr als 30 Prozent der Menschen arbeitslos

Zur französischen Malaise hat Klaba so seine Meinung: "Der dominante Staat hat über Jahrhunderte die Erwartung gezüchtet, er löse alle Probleme. Das schafft er aber nicht mehr. Das sorgt für Enttäuschung." Gar nicht leiden kann er, wenn FN-Wähler an den Pranger gestellt werden. "Das sind keine Idioten. Sie sind auch nicht unbedingt rechtsextrem", sagt Klaba. "Die sind einfach nur verzweifelt."

Von Roubaix aus hat Octave Klaba OVH aufgebaut - einen heimlichen Digitalchampion, den größten europäischen Betreiber von Rechenzentren. (Foto: Elycia Husse/OVH)

Die Fahrt in die FN-Hochburg Denain führt an Rübenfeldern und rostigen Stahlwerken vorbei. Ein "Weltkulturerbe"-Schild zeugt von einer großen Vergangenheit, erst im Bergbau, dann in der Stahlindustrie. Aber Zukunft gibt es keine. In Denain, 20 000 Einwohner, hat das letzte Werk 1983 geschlossen. Wer konnte, heuerte bei einer der Autofabriken der Gegend an oder zog weg. Von den anderen sind mehr als 30 Prozent arbeitslos, bei den Jungen sind es 40 Prozent. Jeder zweite Laden in den eng gereihten Backsteinhäuschen des Ortskerns steht leer. Im Rathaus haben sie nachgerechnet, wie hoch die Lebenserwartung ist: angeblich nur 58 Jahre. In Denain hat Le Pen bei der letzten Regionalwahl 47 Prozent geholt.

Richard Krawczyk sitzt in der verrauchten Bar, die als inoffizieller Treffpunkt für FN-Anhänger dient. Die Zeit scheint hier in den Siebzigern stehen geblieben zu sein. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos von den alten Erfolgen des Fußballclubs Denain Athlétique. Am Holztresen klammern sich Gestalten an ihre Gläser.

Krawczyk gehört zu denen, die aus eigener Kraft zu überleben versuchen. Jeden Tag liefert er Expressgut aus, in ganz Europa, als Auftragnehmer großer Konzerne wie DHL. Er lebt vom internationalen Handel. "Aber was ist das für ein Leben?", fragt er. Dass er, ein Familienvater mit zwei Kindern, aus Geldnot sogar wieder bei seinen Eltern einziehen musste, hat er als besonders erniedrigend empfunden.

"Was ist das für ein Leben?", fragt Logistikunternehmer Richard Krawczyk. Er wohnt wieder bei den Eltern. (Foto: Leo Klimm)

Er sagt, die Konkurrenz aus Osteuropa sei schuld. Und die EU und der Euro. "Ich sehe, wie Fahrer mit rumänischen Kennzeichen vor den Toren französischer Betriebe tagelang warten, bis sie einen Auftrag abgreifen", sagt Krawczyk. Er könnte sich so einen Leerlauf nicht leisten, er muss französische Abgaben zahlen. "Dieses liberale Europa, das uns in einen Dumpingwettbewerb zwingt, das will ich nicht. Ich will Protektionismus." Er verweist auf das vermeintliche US-Vorbild, auf Donald Trump.

Dass Krawczyks eigener Großvater nie Franzose geworden wäre, wenn Le Pens Programm seinerzeit gegolten hätte, dass nach dem vom FN angestrebten Euro-Austritt massive Inflation droht, dass seine Firma erst recht in Not kommt, wenn neue Importzölle eingeführt werden - all das ficht Krawczyk nicht an. Frankreich unter Le Pen stellt er sich wie einen abgekapselten Kosmos vor, durch den er autark produzierte Waren hin- und herbefördert.

"Vorfahrt für Frankreich!", ruft Krawczyk. Jetzt klingt er nicht mehr traurig und leise. Le Pen, die er nur vertraut "Marine" nennt, als sei sie eine Mutter, gibt ihm Hoffnung. Andere Präsidentschaftsanwärter wie Emmanuel Macron oder François Fillon, die als unternehmensfreundlich gelten, können ihm gestohlen bleiben. "Die verkaufen uns nur wieder an Brüssel."

Einer, der wissen muss, wie wichtig Europa und offene Grenzen sind, ist Luciano Biondo. Er hat beides gesehen: Krise und Erfolg. Als Kind erlebte er, wie sein aus Italien eingewanderter Vater in die Frührente abgeschoben wurde, weil ein Stahlwerk schloss. Biondo selbst hat es dann vom Lackierer bei Peugeot zum Chef einer Toyota-Fabrik mit 3900 Mitarbeitern gebracht. Das Werk, in dem der Kleinwagen Yaris gebaut wird, produziert zu 86 Prozent für den Export. Die Fabrik steht in Onnaing, 20 Kilometer nördlich von Denain, kurz vor Belgien. "Aber in Frankreich!" Das ist Biondo wichtig. "Toyota hat sich bewusst für Frankreich entschieden. Nicht nur, weil es zur EU gehört. Auch, weil es seine Stärken hat."

Biondo, 47, sieht sich und seine Fabrik als einen Beweis, was in Frankreich eben doch möglich ist: "Es gibt keinen Grund für Fatalismus." Mag sein, dass ein Sohn italienischer Einwanderer und ein japanischer Weltkonzern nötig sind, um den Franzosen zu zeigen, wie ihre gebeutelte Industrie aufgerichtet werden kann. Wie Arbeiter-Jobs geschaffen und internationale Märkte erobert werden. Und das genau in diesem verheerten Landstrich. Andere Massenhersteller lassen Kleinautos nur noch in Billiglohnländern bauen. Toyota fertigt den Yaris sehr profitabel in Onnaing. 238 000 Wagen sind 2016 vom Band gelaufen, alle 72 Sekunden einer. 2020 will Biondo sogar 300 000 Stück schaffen: "Das geht, weil wir einen klaren Plan haben und eine flexible Belegschaft."

Seit Jahren gelten in dem Werk Betriebsvereinbarungen, die kurzfristig gut entlohnte Mehrarbeit ermöglichen, um die Produktivität zu steigern. Die Gewerkschaften tragen das mit, sie haben im Gegenzug eine ordentliche Gewinnbeteiligung verhandelt. Auch die gesetzliche 35-Stunden-Woche, die so oft als französischer Standortnachteil dargestellt wird, handhabt man in Onnaing schon lange dehnbar; im Einvernehmen mit den Betriebsräten. "Französische Arbeitnehmer sind kritische Geister", sagt der Werkschef. "Sie wollen verstehen, warum sie anders oder mehr arbeiten sollen." Wenn sie aber einen Sinn erkennen, so Biondo, dann arbeiten sie besonders gut.

Die Politiker, die Manager, sie haben Eliteschulen besucht und gelten als arrogant

Dem Fabrikleiter kommt zugute, dass er seinen Mitarbeitern mit seinem Lebenslauf und dem stolz zur Schau getragenen Blaumann ähnelt. Was in Frankreich am meisten fehle, meint Biondo, seien gute Manager. Er kennt viele Spitzenkräfte bei Renault oder Peugeot. "Die denken, sie sind die besten, weil sie von Pariser Eliteunis kommen. Ich empfehle ihnen immer: mehr Demut." Von den Eliteschulen kommen auch die Spitzenpolitiker, die Frankreich seit Jahrzehnten regieren.

Mehr Demut. Und einen Plan, wie bei Toyota. Das wünscht sich Biondo von denen da in Paris. "Frankreich hat keine wirtschaftspolitische Strategie", sagt er. Vielleicht wäre es mit einer Strategie gar nicht so weit mit der Zerrissenheit des Landes gekommen - und allem, was das jetzt politisch bedeutet. Zu Le Pen will Biondo lieber nichts sagen. Aber er versteht die Wut, die sich im Land aufgestaut hat.

Ob beim gut bezahlten Toyota-Manager Biondo, beim notleidenden Logistikunternehmer Krawczyk, beim Selfmade-Man Klaba - die Diagnose lautet immer: Elitenversagen. Zumindest Klaba stört sich daran aber wenig. Wenn er ehrlich ist, fürchtet er nicht einmal einen Sieg Le Pens. Er wird jedenfalls nicht zur Wahl gehen. "Ich glaube nicht an Politik", sagt Klaba. Er glaubt an sich. Und, ja, an Frankreich. Trotzdem.

© SZ vom 01.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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