Report:Alle lieben Europa

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Die meisten Unternehmer in Großbritannien hoffen vor dem Brexit-Referendum auf eine Mehrheit für den Verbleib in der EU. Doch sehnen auch erstaunlich viele Manager den Austritt herbei.

Von Björn Finke, Sandwich

Es sind nur fünfzig Kilometer von Sandwich nach Calais. Fünfzig Kilometer über den Ärmelkanal hinweg, jene Wasserstraße, die das Vereinigte Königreich vom Rest Europas trennt. Wobei es im Moment manchmal so wirkt, als trennten Welten Großbritannien und Europa.

Die Nähe zum Festland macht Sandwich im Mittelalter zu einem der bedeutendsten Häfen Englands. Später versandet der Hafen. Heute ist die Kleinstadt bei Dover ein verschlafenes Nest mit schönen mittelalterlichen Bauten. Bekannt ist der Ort vor allem für John Montagu, den vierten Earl of Sandwich, der im 18. Jahrhundert dem herzhaft belegten Brot seinen Namen gab.

Weniger bekannt ist, dass Sandwich einen Hovercraft-Hersteller beherbergt, also eines der wenigen Unternehmen auf der Welt, das Luftkissenboote baut. Chefin und Eignerin der British Hovercraft Company (BHC) ist Emma Pullen. Die 36-Jährige empfängt im Großraumbüro. Zu ihren Füßen sitzt Pebbles, ihre Staffordshire-Bullterrier-Dame, und nagt ausdauernd an einem Spielzeug-Kegel. Diese Rasse gilt als Kampfhund, doch Pebbles bleibt friedlich. Umso angriffslustiger ist ihre Besitzerin. "Die EU funktioniert einfach nicht", sagt Pullen. "Ich hoffe, dass ein Austritt Großbritanniens das Ende der EU einläutet. Aber ich meine das sehr freundlich."

Pullens Firma baut jedes Jahr 100 Hovercraft - den Plural "Hovercrafts" gibt es nicht. 80 davon gehen ins Ausland. Und dennoch: Pullen, die freundliche EU-Gegnerin aus jener Hafenstadt, die der Handel mit Europa einst reich machte, wird beim Referendum am 23. Juni für den Brexit stimmen. Für den Austritt aus der Union mit ihren offenen Grenzen und dem großen gemeinsamen Binnenmarkt.

So wie Pullen denken erstaunlich viele Manager und Unternehmer im Königreich.

"Die EU ist zu kompliziert. Ein großes, klebriges Biest, das keiner richtig führen kann."

Die Volksabstimmung in weniger als zwei Wochen ist eine Schicksalsfrage nicht nur für Großbritannien, sondern für ganz Europa. Meinungsforscher sagen ein enges Rennen voraus. Banken, Konzerne und Wirtschaftsverbände rufen dazu auf, für den Verbleib zu stimmen. Kein Wunder: Die Europäische Union ist der wichtigste Exportmarkt für britische Unternehmen. Allerdings gibt es auch eine lautstarke Minderheit im Wirtschaftslager, die für die Trennung trommelt. Besonders skeptisch gegenüber der EU sind die Chefs kleiner und mittelgroßer Firmen eingestellt. Umfragen unter diesen Managern zeigen bloß einen kleinen Vorsprung des Pro-EU-Lagers. Viele Mittelständler wollen also raus aus der Union. Wie Emma Pullen.

Insel-Mentalität: Die Kreideklippen von Dover können anziehend, aber auch schroff und abweisend wirken. (Foto: Ben Pruchnie/Getty Images)

In Deutschland wäre das unvorstellbar. Zwar finden sich in der Bundesrepublik sicher genug Chefs und Unternehmer, die Griechenland aus der Euro-Zone werfen wollen. So gut wie jeder Manager wird über die EU-Bürokratie klagen. Aber ein Austritt? Dank des gemeinsamen Binnenmarktes können Firmen problemlos Waren über Grenzen hinweg verkaufen, ohne sie in jedem Land zulassen zu müssen. Darauf werden die wenigsten deutschen Unternehmer verzichten wollen. Ganz abgesehen davon, dass die EU einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat, dass in Europa nach zwei Weltkriegen Frieden und vergleichsweise stabile Verhältnisse herrschen.

Doch im Vereinigten Königreich, einem der wichtigsten Handelspartner Deutschlands, sehen zahlreiche Manager vor allem die Nachteile der Mitgliedschaft.

Wie Emma Pullen bei dieser Schicksalsfrage denkt, erkennen Besucher schon von Weitem. Ihre Firma sitzt am Rande von Sandwich in einem Gewerbegebiet, das selbst nach Maßstäben von Gewerbegebieten ausgesprochen trostlos wirkt. Am Zaun neben der Einfahrt zur flachen Fabrikhalle hängt ein Banner der Brexit-Kampagne mit der Aufforderung "Vote Leave": Stimme für den Austritt. An der Eingangstür klebt ein Schild mit der gleichen Parole, an der Bürotür noch einmal.

Pullen redet schnell und viel und gerade heraus, unterbrochen von Lachen. Sie wiederholt nicht bloß Slogans der Brexit-Kampagne, sondern argumentiert differenziert. "Die EU zu verlassen, ist riskant", sagt sie. "Niemand kann dir genau sagen, was danach passieren wird." Doch sie will dieses Risiko gerne eingehen.

Ohne Mut zum Risiko hätte die Mutter einer Tochter auch nicht die Firma übernommen. Ihr Schwiegervater hatte den Hovercraft-Hersteller 1998 gegründet, wollte aber 2011 in Ruhestand gehen. Pullen hatte als Hochzeitsplanerin und Stewardess gearbeitet - "als Saftschubse", wie sie sagt. Ihr Mann habe "mit der Scheidung gedroht", als sie ihm offenbarte, in das Hovercraft-Geschäft einsteigen zu wollen. "Und tatsächlich ist es sehr stressig."

Die Firma mit 15 Angestellten baut keine großen Luftkissenboote, wie sie früher als Fähren Calais und Dover verbanden und heute noch zur Isle of Wight verkehren. Dafür ist BHC der weltweit wichtigste Anbieter von kleinen Hovercraft für bis zu vier Passagiere. In diesem Jahr soll ein Modell für sechs Personen auf den Markt kommen. Die Preise beginnen bei 10 000 Euro; Käufer sind Wassersport-Fans, denen Jetskis zu langweilig sind. Rettungsdienste ordern ebenfalls Luftkissenboote. Deren Vorteil ist, dass sie nicht nur auf Wasser, sondern auch auf Eis, in Sümpfen oder am Strand umher rasen können, denn dank des Luftkissens unter dem Rumpf schweben sie über der Oberfläche.

(Foto: SZ)

Die Fabrikhalle wirkt wie eine große zugestellte Garage. An den Wänden Kisten und Regale; in der Mitte stehen halb fertige Hovercraft, bei denen die Arbeiter noch Hand anlegen müssen. Es riecht nach Lack, ein Radio dudelt. Ein Monteur kniet in einem feuerroten Hovercraft und befestigt Kabel am Motor. "Das geht nach Schweden", sagt Pullen.

Also in einen EU-Staat. Doch insgesamt spielen Exporte in andere europäische Staaten keine große Rolle: Die eine Hälfte der Hovercraft verkauft Pullen in Großbritannien und den USA, die andere Hälfte verteilt sich auf viele Länder weltweit.

Und Pullen glaubt, dass die EU-Mitgliedschaft ihr Geschäft auf anderen Kontinenten erschwert. So wollte ein reicher Brasilianer fünf kleine Hovercraft kaufen, für 50 000 Pfund. Dafür wären allerdings 42 000 Pfund Zoll fällig geworden, ein Zollsatz von mehr als 80 Prozent, klagt Pullen. Natürlich scheiterte der Deal. Zölle für Exporte nach China lägen sogar bei 100 Prozent, sagt sie. Das Problem: Die EU hat mit diesen aufstrebenden Staaten bisher keine Freihandelsabkommen abgeschlossen, um Zölle abzuschaffen. Brüssel verhandelt zwar mit Brasilien und anderen südamerikanischen Ländern über so einen Vertrag, das aber schon seit 1999.

Nach einem Austritt dürfte London selbst solche Abkommen abschließen. "Ich bin mir sicher, dass unsere Regierung alleine schneller Abschlüsse erzielen würde", sagt Pullen. Denn die EU müsse auf 28 Mitgliedsstaaten Rücksicht nehmen, die alle bestimmte Branchen schützen wollten. "Verhandlungen über Handelsabkommen mögen immer kompliziert sein", sagt die Managerin. "Doch man muss sie ja nicht noch 28-mal komplizierter machen."

Für Staaten wie China ist die EU mit ihrer halben Milliarde Einwohner allerdings viel interessanter als Großbritannien. Deswegen würde es London nach einem Brexit an Verhandlungsmacht für attraktive Verträge mangeln, warnen Fachleute - ein Einwand, den Pullen in ihrem risikofreudigen Optimismus nicht gelten lassen will.

Zudem klagt die Chefin, Regeln aus Brüssel verursachten unnötige Kosten. So fährt das Unternehmen bei Messen und Veranstaltungen mit einem Anhänger vor, der sich zu einem kleinen Werbestand ausklappen lässt. Auf diesem Anhänger transportiert Pullen auch ein Hovercraft. Den Anhänger zieht ein Mitsubishi-Geländewagen. "Wenn wir aber mehr als 100 Kilometer zu einer Veranstaltung unterwegs sind, verlangen EU-Regeln einen Fahrtenschreiber", sagt Pullen. Weil der Anhänger eine so große Nutzlast hat, gelten für das Gespann die gleichen Vorschriften wie für Laster einer Spedition. "Doch für einen Mitsubishi-Geländewagen können sie keinen Fahrtenschreiber kaufen", sagt die Managerin. Darum muss sie für weite Reisen einen Laster mit so einem Gerät mieten.

Die Sportbootrichtlinie der EU bereitet ebenfalls Ärger. Ironischerweise deshalb, weil dieses Gesetz eben nicht für Hovercraft gilt. Brüssel gibt daher keine Standards für die Flitzer vor. Klingt angenehm für die Hersteller, bedeutet jedoch, dass sie nicht das "CE"-Logo bekommen können, jenen Aufkleber, der auf Geräten prangt, die EU-Vorgaben genügen. "Wollen Kunden Hovercraft bei Behörden anmelden, verweigern das manche Beamte in Mitgliedsstaaten, weil das CE-Logo fehlt", sagt Pullen. "Die wissen nicht, dass Hovercraft das gar nicht erhalten können."

Deswegen setzt ihre Firma nur wenige Hovercraft in anderen EU-Staaten ab. Pullen hat versucht, Vertreter in Brüssel zu überzeugen, Hovercraft in die Sportbootrichtlinie aufzunehmen - ohne Erfolg. "Wenn ich ein Problem habe mit Regeln in Großbritannien, gehe ich zu meinem Stadtrat oder Parlamentsabgeordneten in London, und die können sich für mich einsetzen", sagt sie. Aber mit der EU funktioniere das nicht, weil die Abgeordneten im Europaparlament zu weit weg von ihr und zu weit weg von den eigentlichen Entscheidern in Brüssel seien, klagt sie. "Die EU ist zu kompliziert. Ein großes, klebriges Biest, das keiner mehr richtig führen kann."

Stimmen die Briten für den Austritt, hat die Regierung in London zwei Jahre, um mit Brüssel Regeln für die zukünftigen Beziehungen auszuhandeln. Da wird geklärt, welchen Bedingungen Geschäfte über den Ärmelkanal und Investitionen unterliegen werden. Bis diese schwierigen Gespräche abgeschlossen sind, wissen Manager nicht, woran sie sind. Darum erwarten Volkswirte, dass Firmen nach einem Sieg des Brexit-Lagers Investitionen aufschieben. Die Konjunktur wird leiden, das Pfund wird an Wert verlieren.

"Dass zahlreiche Manager den Austritt unterstützen, hat viel mit Ideologie zu tun."

Pullen schreckt das nicht: "Wenn das Pfund schwächer wird, macht das meine Hovercraft im Ausland billiger und ich verkaufe mehr", sagt sie. Außerdem sei es genauso ein Risiko, in der angeschlagenen EU zu bleiben. Die Krise in Griechenland, Angela Merkels "sehr dumme" Einladung an Flüchtlinge, nach Europa zu kommen, der Aufstieg rechtsradikaler Parteien - "ich mache mir Sorgen, in welcher Welt meine Tochter aufwachsen wird", sagt sie.

Brexit-Gegner Will Butler-Adams produziert in London Klappräder. Der Chef der Firma Brompton sagt, die Mitgliedschaft in der EU vereinfache seine Geschäfte. (Foto: Leon Neal/AFP)

Der Tanker Europa ist in Schwierigkeiten, also alle Mann von Bord: Das ist die Logik hinter solchen Argumenten.

Pullen ist es auch wichtig, dass Großbritannien nach einem Brexit nicht mehr alle EU-Einwanderer akzeptieren müsste, etwa aus Osteuropa. In der Debatte vor dem Referendum ist Einwanderung eins der bedeutendsten Themen. Die Managerin beschäftigt selbst einen Polen und sagt, Einwanderung nutze dem Land - "aber sie muss kontrolliert werden, weil sie zugleich Nachteile hat". Sie kenne einen britischen Handwerker, der wegen der vielen billigen polnischen Konkurrenten in der Gegend kaum noch Aufträge bekomme. Arztpraxen seien wegen der Migranten überfüllt.

John Springford hat sich mit den Argumenten der Brexit-Fans im Unternehmerlager lange beschäftigt. Der Ökonom arbeitet beim Centre for European Reform, einem Forschungsinstitut aus London, das auf Europa-Themen spezialisiert ist. Jetzt sitzt er im Besprechungszimmer mit Blick auf einen der Türme des benachbarten Palace of Westminster, des Parlaments. "Dass zahlreiche Manager den Austritt unterstützen, hat viel mit Ideologie zu tun", sagt er. Wirtschaftsführer seien traditionell eher Anhänger der Konservativen Partei, der regierenden Tories. Und die Mehrheit der Tory-Basis sei eben für den Brexit.

Da ist es nur logisch, dass auch viele Manager für den Austritt trommeln.

Springford sagt, die konservativen Europagegner sähen die EU als reformunfähige, teure, bürokratische Organisation an, die sich zu einer politischen Union entwickele - was sie von Herzen ablehnen.

"In den USA ist es ein Albtraum, Elektroräder zu verkaufen, jeder Bundesstaat hat Vorschriften."

Dass die EU-Skepsis bei kleinen Firmen am größten ist, dafür hat er eine einfache Erklärung: "Kleine Unternehmen sind meist weniger von Exporten abhängig als große." Darum seien die Vorteile des EU- Binnenmarktes nicht so wichtig. Chefs kleiner Betriebe nähmen in erster Linie die Nachteile wahr, beschwerten sich über die - oft überschätzten - Kosten der Regulierung oder Konkurrenz vom Festland. Leidet nach einem Sieg des Brexit-Lagers die Konjunktur, hätte der Austritt allerdings auch unangenehme Folgen für all die kleinen Firmen, die nicht exportieren, sagt der Fachmann. "Doch dessen sind sich einige der Manager, die für den Brexit werben, offenbar nicht bewusst."

Im Westen von London, in einer modernen, großen Fabrik, sitzt ein Manager mit zerschlissenen Leder-Stiefeln und kurzen Hosen am Tisch und verteidigt die EU: "Klar, die EU ist bürokratisch. Die EU muss effizienter werden. Für unsere Firma hat die Mitgliedschaft dennoch riesige Vorteile", sagt Will Butler-Adams, der eher praktisch gekleidete Chef. Der 42-Jährige leitet Brompton Bicycle, den Hersteller teurer, aber schwer angesagter Klapp-Fahrräder. Im vergangenen Jahr produzierte das Unternehmen mit 250 Beschäftigten 44 000 Räder. 80 Prozent gehen in den Export, für ein Drittel steht Europa.

Im Februar zog Brompton innerhalb Londons um, in ein größeres Werk. In der Halle klappert und brummt und zischt es. In der einen Ecke löten Mitarbeiter Teile für den Rahmen, in der anderen schrauben Monteure auf der Fertigungsstraße die Räder Stück für Stück zusammen. Nur dreieinhalb Minuten dauert es, bis ein Rad alle zwölf Stationen durchlaufen hat. Im kommenden Jahr bringt Brompton Klappräder mit Elektromotor auf den Markt; demnächst soll in der Halle die Produktionsstraße dafür entstehen.

Die EU-Vorgaben für Fahrräder mit Motor-Unterstützung seien "ziemlich kompliziert", sagt Firmenchef Butler-Adams. Es habe 30 000 Euro gekostet, für das neue Elektro-Klapprad die EU-Zulassung zu erhalten: "Aber damit haben wir nun auf einen Schlag Zugang zu den Märkten aller Mitgliedsstaaten." EU-Regeln mögen also ein bisschen bürokratischer sein, doch dafür sparten es sich Unternehmen, die Zulassung in 28 einzelnen Ländern zu beantragen. "In den USA hingegen ist es ein völliger Albtraum, Elektroräder zu verkaufen, weil jeder Bundesstaat eigene Vorschriften erlässt", klagt der Ingenieur.

Butler-Adams sagt, er sei "stolzer Brite, aber zugleich liebe ich Europa".

Interessanterweise sagt Brexit-Fan Pullen in Sandwich etwas ganz Ähnliches: Sie sei gegen die EU, "doch ich liebe Europa".

Manche Menschen haben eine recht eigentümliche Art, ihre Liebe zu zeigen.

© SZ vom 11.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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