Rating-Agenturen:Die Meister der Andeutung

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Die Analysten von Standard & Poor's lehren mit Bonitätsnoten Konzerne und Regierungen das Fürchten - doch mit ihren Zeugnissen liegen sie manchmal daneben.

Gerd Zitzelsberger

(SZ vom 10.05.2003) — Ihren Arbeitsplatz mag Barbara Ridpath uns nicht zeigen. "Auf dem Schreibtisch liegen vertrauliche Unterlagen, Sie verstehen...", sagt sie. Die Analystin, deren Visitenkarte sie als Managing Direktor und Chief Credit Officer für Europa ausweist, ist sehr diskret. Aber vielleicht ist es der Mittvierzigerin ("über 40 und unter 50") auch ein bisschen peinlich, ihr karges Domizil, hier mitten im Finanzzentrum der Londoner City, vorzuführen.

Die meisten ihrer Mitarbeiter sitzen in einem Großraum-Büro. Es sind kleine Kojen, und neben der Computer-Tastatur bleibt nicht mehr viel Fläche. Aktenordner, dickleibige Branchenhandbücher, Gesetzeskommentare, Bilanzierungshandbücher? Nichts von alledem hat hier Platz.

Das Gedächtnis der Analysten scheint so groß zu sein wie die Festplatte in ihrem PC. Und bei Barbara Ridpath, die wir in einer kleinen Besprechungsecke im Londoner Europa-Hauptquartier ihres Arbeitgebers Standard & Poor's treffen, dürfte es kaum anders aussehen.

Der Olymp der grauen Götter

Wahrscheinlich darf sie als Chefin in einem kleinen Glaskäfig am Rande eines Großraumbüros sitzen - mit ein bisschen mehr Platz als ein normaler Analyst ihn hat, aber ansonsten genauso schmucklos und kahl. Doch die Kargheit täuscht.

Barbara Ridpath thront ziemlich weit oben in diesem Olymp der grauen Götter. Standard & Poor's Corp. gehört zu den wirklich mächtigen Unternehmen auf dem Globus. Neben ihr haben nur noch die etwas kleinere Moody's Investor Service und die erheblich kleinere Fitch Ratings Ltd. auf internationalem Parkett Rang, Namen - und vor allem Glaubwürdigkeit.

Die drei Firmen sind die führenden Kredit-Rating-Agenturen der Welt. Die E-Mails, mit denen das Triumvirat seine Noten aller Welt kund tut, haben den japanischen Finanzminister schon genauso in Rage versetzt wie den Chef der Deutschen Bank.

Das Dreigestirn hat dafür gesorgt, dass die Deutsche Telekom Schulden zurückzahlt, anstatt das Geld zu investieren, oder dass die Münchener Rück Unternehmensbeteiligungen verkauft, obwohl die Preise dafür niedrig liegen. Und wenn die Bundesregierung in nächster Zeit unpopuläre Gesetzesänderungen durchdrückt, dann tut sie das auch mit einem verstohlenen Seitenblick auf das Triumvirat.

Standard & Poor's hat vergangenen Dienstag schon wissen lassen, in welche Richtung die Reformen gehen sollten: "Die wichtigste Einzelmaßnahme ist, die Arbeitslosenhilfe zeitlich stärker zu befristen."

Die Macht liegt in der Reaktion der anderen

Manche Politiker und Finanzvorstände bringen die E-Mails von Ridpath und Co. zum Schäumen. Aber das lässt die Analystin kalt. Selbstzweifel lässt sie sich jedenfalls nicht anmerken. Sie glaubt an ihre Bonitätsnoten. Seit 140 Jahren beurteilt Standard & Poor's, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Staat oder Unternehmen seine Schulden zurückzahlen beziehungsweise seine Anleihen tilgen kann.

Wirklich überprüfen lassen sich diese Urteile nur im unerfreulichsten Fall - wenn eines der bewerteten Unternehmen tatsächlich pleite geht oder ein Staat plötzlich seine Zinsen nicht mehr zahlen kann. Solche Fälle sind selten - in der letzten Zeit aber häufiger, als es der Glaubwürdigkeit von Standard & Poor's zuträglich ist.

Die Macht der Rating-Agenturen, deren Rückgrat die jeweils 700 bis 1300 Analysten bilden, manifestiert sich nicht selten im Kleingedruckten: Wenn die Bonitäts-Note eines Schuldners unter eine bestimmte Stufe sinkt, dann steigt bei manchen Anleihen schon ganz automatisch der Zinssatz, den das Unternehmen seinen Anleihen-Gläubigern bezahlen muss.

Doch auch ohne solche Klauseln reagieren die Finanzmärkte, sprich die Kurse von Anleihen und neuerdings auch manchmal von Aktien, oft hyperempfindlich auf die Urteile der Rating-Agenturen - und das macht letztlich ihre Bedeutung aus.

Selbst unter Bankern galt dieser Job bis vor drei, vier Jahren noch als ziemlich trist und öde. Auch für Barbara Ridpath war Standard & Poor's nicht die erste Wahl: Sie hatte ein so gutes Examen hingelegt, dass sie eine Stelle als Länderreferentin bei der Federal Reserve Bank of New York, der angesehensten amerikanischen Landeszentralbank, bekam.

"Schließlich wollte ich doch etwas für Afrika tun", erzählt sie. Nach fünf Jahren hatte sie aber festgestellt, dass aus den niederen Rängen der Hierarchie ihre Einflussnahme auf die Geschicke Afrikas eher begrenzt blieb, und auf die Pensionierung ihres Vorgesetzten wollte sie auch nicht warten.

Die Kritik wird verklausuliert

Bei den Rating-Agenturen, sagt sie, "geht es viel weniger hierarchisch zu als bei Banken". Ihre Arbeit jetzt sei genauso gesellschaftlich nützlich, weil die Rating-Agenturen den Kapitalmarkt durchschaubarer und damit effizienter machen.

"Und anders als in den Analyse-Teams der großen Investmentbanken sind unangenehme Fragen und eine abweichende Meinung in unseren Teams nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht." Ridpath muss es wissen, schließlich war sie zwischendurch fünf Jahre lang bei einer führenden Investmentbank.

Zur Kultur der Rating-Agenturen gehört jedoch auch, dass hausinterner Widerspruch nur in sehr gesitteter Form vorgebracht wird, etwa nach dem Motto, "und wie haben Sie berücksichtigt, dass ...?" Nur andeuten, aber nie etwas behaupten, was man nicht beweisen kann, heißt die Devise, alles andere wäre Kreditschädigung und käme teuer.

Dieser Stil der ganz vorsichtigen, verklausulierten Formulierung an den kritischen Stellen hat sich tief in die Gehirne der Angestellten von Rating-Agenturen eingefressen. Es ist wie bei den Wirtschaftsprüfern, die eine Bilanz "anmerkungsbedürftig" nennen, wenn sie sagen wollen "Lug und Betrug".

So kommt es, dass viele Veröffentlichungen der Rating-Agenturen lange Zeit schlichtweg unverständlich waren. "Wir haben schon vor der hohen Schuldenaufnahme für die neuen Mobilfunk-Lizenzen gewarnt", sagt Ridpath, und es stimmt. Aber von den Firmen-Tragödien, die folgten, ließen diese Warnungen kaum etwas ahnen.

Erlösung bringt nur der Konkurs

Der Einfluss des Triumvirats hat inzwischen eine regelrechte Revolte gegen die grauen Götter ausgelöst: "Sie haben zu viel Macht, sie werden überschätzt, und sie sind überall", zürnt Barry Riley von den FinancialNews, dem Zentralorgan der Londoner Finanzmeile.

Das deutsche Finanzministerium hat ein Treffen platzen lassen, der amerikanische Kongress veranstaltet eine Anhörung. Politiker in den USA und Schuldner-Firmen rund um die Welt fordern mehr graue Götter, um die Macht von Moody's und Standard & Poor's durch mehr Wettbewerb zu beschneiden.

Und der Vorstand von ThyssenKrupp tobte, als Standard & Poor's den Stahlkonzern unlängst zum "gefallenen Engel" machte - so heißt die Herabstufung auf "spekulatives Investment" im Branchenjargon: "Die Fakten haben sich nicht geändert, lediglich die Meinung von S&P hat sich geändert."

Solche Zornesausbrüche bei Geprüften sind nicht selten. Die Unternehmen sind mittlerweile Gefangene der beiden führenden Rating-Agenturen geworden: Ohne Bonitäts-Einstufung brauchen sie sich auf den internationalen Kapitalmärkten gar nicht mehr sehen zu lassen, und wer einmal die Rating-Agenturen ins Haus geholt hat, den erlöst nur der Konkurs von ihren Prüfungen. Denn wenn Moody's oder Standard & Poor's ihren Job beenden, dann mailen sie es aller Welt. Dies wiederum würde als Signal gelten, dass ein Schuldner etwas zu verstecken hat.

Star-Kult ist unangebracht

Nichts von dieser Macht spiegelt sich im Londoner Hauptquartier von Standard & Poor's wider. Barbara Ridpath passt perfekt zu dieser Kultur des Understatements: Keine Schrullen, keine Allüren, kein Schmuck, und selbst bei ihrem anthrazitfarbenen Kostüm sieht man erst auf den zweiten Blick, dass es teuer war. "Bei den Rating-Agenturen gibt es keinen Star-Kult wie bei Aktien-Analysten", sagt sie, "bei uns entscheiden Gremien die Bonitäts-Einstufungen."

Es ist nicht nur ein Werbe-Märchen von Ridpath, dass bei Rating-Agenturen ein anderes Arbeits-Ethos herrscht als bei den so genannten Sell-Side-Analysten mancher Investmentbanken, die in Wirklichkeit als Verkäufer mit Tarnkappe gearbeitet haben. Jedenfalls blieben den Rating-Agenturen solche Skandale erspart, wie sie die Citigroup, Merrill Lynch und die CSFB am Halse haben.

"Die finanziellen Anreize für die Analysten sind bei den Rating-Agenturen lange nicht so groß", sagt Barbara Ridpath. Präziser mag sie bei diesem Punkt noch weniger werden als bei ihrem Alter. Doch bekannt ist, dass Rating-Agenturen erheblich weniger zahlen als Investmentbanken. Bei Personalberatern ist die Rede von etwa 130.000 Euro Grundgehalt pro Jahr und einem Bonus in der Größenordnung von 80.000 Euro für einen erfahrenen Rating-Analysten.

Enron war der Super-Gau

Trotz ihres Arbeitsethos sind Bewertungs-Katastrophen nicht zu verhindern. Das liegt auch daran, dass sich eine Bonitäts-Note nicht einfach aus harten Zahlen ergibt, sondern es fließen viel subjektiver Eindruck, Prognosen und Einschätzungen mit ein.

"Wir müssen zum Beispiel die voraussichtliche Entwicklung des jeweiligen Marktes abschätzen, denn es kommt ja nicht darauf an, was ein Unternehmen in der Vergangenheit erlöst hat, sondern in der Zukunft einnehmen wird, um seinen Schulden bedienen zu können. Wir schauen uns speziell das Management sehr genau an und welchen Risiko-Appetit es hat", sagt Ridpath.

Eine der schlimmsten Fehleinschätzungen passierte bei der Asien-Krise, als Thailand und andere Staaten zahlungsunfähig wurden. Während der Großinvestor George Soros bereits auf den Währungssturz spekulierte, ahnten Standard & Poor's und Moody's nichts von der sich anbahnenden Finanz-Katastrophe.

Zum Super-Gau für die Rating-Agenturen kam es dann beim Enron-Skandal: Bis vier Tage vor der Pleite hatten sie die Enron-Schulden als "Investment-Grade" eingestuft. Auch bei anderen Mega-Pleiten wie WorldCom oder Global Crossing entdeckten die Rating-Agenturen die Risiken erst spät.

Die Verteidigung von Barbara Ridpath kommt ein bisschen zu schnell und zu stereotyp: "Wenn ein Unternehmen uns irreführend informiert, können wir nichts dagegen machen", sagt sie. Doch zum Betrügen gehören immer zwei: Einer, der's tut, und einer der sich betrügen lässt.

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