Pipers Welt:Gerechtigkeit für Ricardo

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Er ist seit fast 200 Jahren tot, und gehört doch zu den Opfern der Kampagne gegen TTIP und Ceta. David Ricardo gilt als der geistige Vater der offenen Grenzen für Waren und Dienstleistungen. Er begründete die Freihandelstheorie.

Zu den Opfern der Kampagne gegen die Freihandelsabkommen TTIP und Ceta gehört auch ein Mann, der seit fast 200 Jahren tot ist: David Ricardo (1772 - 1823). Vielen, die in diesen Tagen gegen den Freihandel auf die Straße gehen, gilt Ricardo als der geistige Vater all dessen, was sie ablehnen: offene Grenzen für Waren und Dienstleistungen, Abbau von Handelshemmnissen. Oder, wie es bei www.economics-reloaded.de heißt: "Ricardo ist der durchgeknallteste Spinner unter den Ökonomen."

Höchste Zeit für eine Ehrenrettung.

Es war Ricardo, der die klassische Freihandelstheorie begründete. Im siebten Kapitel seines 1817 erschienenen Hauptwerkes, den "Grundsätzen der Politischen Ökonomie und der Besteuerung", legte er dar, dass sich Außenhandel für zwei Länder selbst dann lohnt, wenn ein Land alle Produkte günstiger liefern kann als das andere. England und Portugal, so Ricardos berühmtes Beispiel, sind in der Lage Textilien ("Tuch") und Wein zu produzieren. Bei beiden Produkten ist Portugal billiger als England, der Kostenvorteil fällt jedoch bei Textilien etwas kleiner aus als bei Wein. Daher sollte sich England auf Tuch spezialisieren, denn dort hat es, so der Fachausdruck, einen "komparativen" Kostenvorteil. Das Prinzip gilt nicht nur für Staaten, sondern auch für Individuen. Ricardo schreibt: "Zwei Menschen können sowohl Schuhe wie Hüte herstellen, dabei ist der eine dem anderen in beiden Beschäftigungen überlegen. Aber in der Herstellung von Hüten kann er seinen Konkurrenten nur um ein Fünftel oder um 20 Prozent übertreffen, und in der von Schuhen um ein Drittel oder 33 Prozent. Wird es dann nicht im Interesse beider liegen, dass der Überlegene sich ausschließlich auf die Schuhmacherei und der weniger geschickte auf die Hutmacherei legen sollte?"

(Foto: N/A)

Kritiker wenden nun ein: Ricardos Modell sei für Portugal ein schlechtes Geschäft, es lege das Land auf Agrarprodukte fest, also auf Armut. Doch so hat Ricardo das auch nie gemeint. Er wollte keine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung schreiben, er wollte auch Portugal nicht zwingen, seine Textilindustrie aufzugeben (die gab es 1817 sowieso noch nicht). Er suchte nach den Verheerungen, die Napoleons Wirtschaftsblockade angerichtet hatte, nach allgemeingültigen Argumenten für den Freihandel. Besonders bekämpfte er dabei die Korngesetze, die den Import von Getreide nach England verhinderten und so die Pfründe des Landadels schützten. Dabei machte er eine der wichtigsten Entdeckungen der Nationalökonomie: Dass man die echten Kosten einer Produktion erst dann kennt, wenn man weiß, was man stattdessen hätte produzieren können; oder, in heutiger Sprache, wenn man die "Opportunitätskosten" kennt.

In Deutschland hat das Unverständnis für Ricardo eine lange Tradition. Nach anfänglicher Begeisterung fielen die Deutschen im Zeitalter der Romantik regelrecht über Ricardo her. Er galt als kalt und krämerhaft. Der Sozialreformer Anton Bernhardi beschimpfte ihn als Vertreter einer "jüdisch-kaledonischen Theorie", und selbst der gemäßigte Ökonom Wilhelm Röscher bemängelte "die kaptalistische Farbe seiner Schriften, die bei vielen seiner Nachfolger geradezu mammonistisch geworden ist".

Natürlich hat sich die Außenwirtschaftstheorie seit Ricardo weiterentwickelt. Mit ihm kann man zum Beispiel nicht TTIP begründen. Aber noch viel weniger ist TTIP ein Grund, das Erbe eines der größten Ökonomen des 19. Jahrhunderts zu missachten.

An dieser Stelle schreiben jeden Freitag Franziska Augstein und Nikolaus Piper im Wechsel.

© SZ vom 30.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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