Kommentar:Wir brauchen Brüssel

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Die Parlamente sollen über TTIP entscheiden? Klingt erst mal gut. Aber es gibt auch ein paar gewichtige Gründe, warum die Entscheidung anderswo fallen sollte.

Von Marc Beise

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", bestimmt Artikel 20 des Grundgesetzes, und weil das so ist, geht es natürlich gar nicht, dass die geplanten Wirtschaftsabkommen mit den Vereinigten Staaten (TTIP) und Kanada (Ceta) ohne Zustimmung nationaler Parlamente in Kraft treten können, so sehen es die Kritiker dieser Projekte. Schon dass die EU die Abkommen überhaupt verhandelt, sogar noch hinter verschlossenen Türen, macht sie zornig. Aktuelle Hinweise darauf, dass die Abkommen womöglich den nationalen Parlamenten gar nicht vorgelegt werden sollen, entfachen erneut einen Sturm der Entrüstung.

Nun kann man durchaus der Meinung sein, dass Ceta und TTIP sogenannte "gemischte Abkommen" sind, die auch nationale Kompetenzen betreffen und deshalb beispielsweise vom Deutschen Bundestag abgesegnet werden müssen; das kommt am Ende aber auf die konkreten Themen und die genauen Formulierungen an: eine juristische Frage und kein Thema für einen Glaubenskrieg. Selbst wenn man sich für den gemischten Weg entscheiden sollte, dann würden nach bisheriger Übung die unzweifelhaft europäischen Themen sofort vorab in Kraft gesetzt - das gäbe allerdings garantiert den nächsten Sturm der Entrüstung.

Nur Europa als Ganzes kann zwischen Washington und Peking bestehen

Die Debatte ist emotional, weil der Hintergrund emotional ist: Wollen wir TTIP, das geplante europäisch-amerikanische Wirtschaftsabkommen, oder wollen wir es lieber nicht? Viele Menschen in vielen Ländern Europas wollen TTIP nicht, weil sie fürchten, dass "die Amerikaner" unsere Umwelt- und Sozialstandards auf den Opferstein der Verhandlungen legen, und die bösen EU-Bürokraten dagegen nicht ausreichend Widerstand leisten. Und weil das so sei, muss "Brüssel" am Ende national gestoppt werden; so ungefähr geht eine Argumentation.

Abgesehen davon, dass es viele gute Argumente für diese Abkommen gibt (die ebenfalls von vielen Bürgern geteilt werden), ist die Debatte aus grundsätzlichen Gründen ärgerlich und gefährlich. Man streitet über TTIP, und schleift Grundfeste der europäischen Integration insgesamt - und das ausgerechnet in einer Zeit, da Europa ohnehin auf dem Rückzug ist, in der die Briten ernsthaft über einen Ausstieg aus dem großen Friedensprojekt nachdenken ("Brexit") und die Zukunft der Gemeinschaft ungewiss ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Man muss vielleicht einmal daran erinnern, dass die Macht, die vom Volke ausgeht, weder exklusiv bei den Kritikern der Handelsverträge liegt noch bei den Kritikern der EU insgesamt. Volksmacht manifestiert sich auch nicht exklusiv innerhalb nationaler Grenzen. Sondern sie ist vielschichtig geregelt, in Deutschland und in Europa, sogar in völkerrechtlichen Verträgen. Leider jedoch ist die früher weithin akzeptierte Vorstellung, dass mehr Integration und mehr Vergemeinschaftung Wachstum und Wohlstand in Europa erhöhen, ziemlich out. Stattdessen haben jene Oberwasser, die glauben, dass die Welt eine bessere werde, wenn nur jeder Staat seinen eigenen Weg geht. Wie kann man das nur glauben ausgerechnet in einer Zeit, die immer unruhiger und herausfordernder wird?

Manche Kritiker von TTIP fegen alle Vorstellungen von Gewaltenteilung im europäischen System weg, fabulieren über undemokratische Verhältnisse, sprechen selbst dem Europäischen Parlament ihr Misstrauen aus, weil es zwar demokratisch gewählt ist (immerhin das wird anerkannt), aber machtlos sei - obwohl es doch im Laufe der Zeit immer mehr Kompetenzen erhalten hat und öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Nur: Mit solchen einfachen Wahrheiten wird man weder Europa gerecht noch der Komplexität der internationalen Beziehungen.

Ja, das Macht- und Entscheidungsgefüge in Europa ist kompliziert, es ist langwierig, manchmal auch widersprüchlich - aber es ist gewachsen, und es funktioniert. Dass die Handelspolitik vergemeinschaftet worden ist, hat seine guten Gründe: Handel ist international. Von der Bedrohung durch Krieg, Terror und autokratische Regime ganz abgesehen: Nicht TTIP sollte uns Angst machen, sondern die weiterhin gewaltige Handelsmacht der Vereinigten Staaten und der immer weiter wachsende Einfluss der Volksrepublik China, beides vor dem Hintergrund wachsender internationaler Verflechtung und einer dramatisch schnellen Digitalisierung.

Wer zwischen Washington und Peking bestehen will, der muss sich zwingend zusammentun. Und muss die mächtigen anderen durch (Handels-)Verträge an sich binden. Das sollten all diejenigen bedenken, die Europa und Brüssel gerade das Grab schaufeln.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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