Kommentar:Gefährliche Konfrontation

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(Foto: Bernd Schifferdecker)

Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle will seinen Plan notfalls gegen den Willen der Arbeitnehmer durchsetzen. Der Schaden könnte weit über das Unternehmen hinausgehen.

Von Karl-Heinz Büschemann

Wolfgang Reitzle ist ein Konzernchef, der für seinen Ehrgeiz bekannt ist. Der frühere BMW-Mann und heutige Aufsichtsratsvorsitzende des Gas-Konzerns Linde zählt zu den erfolgreichen Managern, aber oft überzog er, weil er eine Lage falsch einschätzte. Nicht selten geschah das zum eigenen Nachteil. Jetzt steht er wieder vor dieser Schwelle, aber dieses Mal läuft er Gefahr, einen Schaden anzurichten, der über das Unternehmen hinausgeht, das er ein Jahrzehnt lang als Chef prägte.

Reitzle will Linde mit einem US-Unternehmen zusammenschließen. Doch mit diesem Plan, der Linde zu einem amerikanischen Unternehmen machen wird, brachte er die Belegschaft gegen sich auf. Die fürchtet um ihre Arbeitsplätze. Reitzle aber stellt sich stur. Er sei entschlossen, den Schritt im Aufsichtsrat gegen die Arbeitnehmerbank durchzupeitschen, sagte er. Eine solche Konfrontation ist in deutschen Konzernen ungewöhnlich. Die Arbeitnehmer drohen Protest auf der Straße an.

Reitzles Erklärung war ein Fehler. Er vergeht sich mit seinem frühzeitigen Machtwort gegen die Konsenskultur, die typisch deutsch ist und die versucht, die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern miteinander in Einklang zu bringen. Dieses Harmoniebestreben ist in anderen Ländern nicht verbreitet. Aber es ist ein Grund, warum es Deutschland wirtschaftlich so viel besser geht als etwa den USA, Großbritannien oder Frankreich, wo es immer wieder destruktive Konflikte mit den Gewerkschaften gibt. Deutschland umarmt seine Arbeitnehmer, bezieht sie in die Entscheidungen mit ein und macht sie zu Partnern. Auch wenn dieses Verfahren mühsam und zeitraubend ist, klug ist es allemal.

Die Parität im Aufsichtsrat ist eine zentrale Errungenschaft der Gewerkschaften

Die von den Fusionsplänen aufgeschreckten Linde-Arbeitnehmervertreter brandmarken Reitzles Amerika-Idee sogleich als Attacke auf die Mitbestimmung, die eine der größten Errungenschaften der deutschen Gewerkschaften ist. Sie sehen ihre Interessen berührt, weil Linde demnächst von Amerika aus geführt wird, wo die Mitsprache der Arbeitnehmer wenig geschätzt wird. Sie sollten den Ball aber lieber flach halten. Wenn ein Unternehmen nach Amerika gehen will und sich dem Einfluss der deutschen Gewerkschaften entzieht, ist das kein Verbrechen. Es kann sogar richtig sein, selbst für die Arbeitnehmer, auch wenn es für deutsche Gewerkschaftsfunktionäre ärgerlich sein mag. Aber die positiven Seiten einer Management-Entscheidung müssen überzeugend erklärt werden.

Es geht um mehr als die Mitbestimmung. Das Bestreben nach Zusammenarbeit von Arbeit und Kapital geht in Deutschland auf die Zeit der industriellen Revolution zurück, als der Klassenkampf noch auf den Barrikaden stattfand. Schon im Jahr 1920 wurden Betriebsräte eingeführt, die zwischen Arbeit und Kapital vermitteln sollten. Die Mitbestimmung, die in Deutschland in ihrer heutigen Form in den Siebzigerjahren eingeführt wurde, ist mehr das Resultat dieser lang gewachsenen Konsenskultur als ihre Ursache, wie Gewerkschafter gerne behaupten.

Reitzle muss wissen, dass er mit seinem Affront gegen die Arbeitnehmer das soziale Klima, das Verhältnis von Arbeit und Kapital, verändern wird. Wenn der Boss eines Dax-Konzerns gegen seine eigene Belegschaft handelt, bricht er einen Stein aus dem Gesellschaftsmodell, das zum Vorteil aller lange den sozialen Frieden in Deutschland sicherte. Wer dieses Modell schroff aufkündigt, macht die heutige Entscheidung eines einzelnen Unternehmens zum Problem der gesamten Wirtschaft von morgen.

© SZ vom 08.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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