Kommentar:Fette Jahre

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Um zwei Prozent soll die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr wachsen. Doch die guten Aussichten sollten nicht den Blick auf die Risiken trüben.

Von Cerstin Gammelin

Wer die Konjunkturprognosen für 2016 liest, kann leicht den Eindruck bekommen, es gebe zwei Welten, zumindest volkswirtschaftlich betrachtet. In der einen tuckert unvermindert stabil und gut geölt der deutsche Konjunkturmotor. In der anderen ruckeln und zuckeln die Motoren von großen Euro- und Schwellenländern vor sich hin.

Das Bemerkenswerte an den Voraussagen dieser Wochen ist, dass sie Deutschland für 2016 erneut ein fettes Jahr prophezeien: Um die zwei Prozent soll die Wirtschaft wachsen. Die Tendenz der vergangenen Jahre setzt sich also nahtlos fort: Egal, ob Finanzkrise, Schuldenkrise, Euro-Krise, Ukrainekrise oder jetzt das Flüchtlingschaos, die deutsche Konjunktur bleibt unbeeindruckt stabil. Und dennoch: die Frage, wie lange das so weitergehen kann, steht mit aller Deutlichkeit im Raum.

Dass die Antwort auf sich warten lässt, liegt auch an den positiven Folgen, die überall zu spüren sind. Die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr, die der Erwerbstätigen steigt. Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist ungebrochen. Unternehmensgewinne sprudeln, die Inflation ist niedrig, Auftragseingänge sind unverändert, die Zinsen für Finanzierungen am Markt sind historisch niedrig. Alles zusammen lässt die Konsumlaune der Bürger steigen, weswegen schon im zweiten Jahr die deutsche Konjunktur zunehmend von der Binnennachfrage und nicht allein vom Export getragen wird.

Die deutschen Unternehmen investieren viel zu wenig in neue Geschäftsmodelle

Deutschland geht es gut. Trotzdem haben diejenigen recht, die zu Besonnenheit und Vorsorge mahnen. Das schwächelnde Wachstum in der einen Welt lässt die Risiken für die andere, also die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft, wachsen. Sinkt die Nachfrage in traditionellen Absatzmärkten, ist die offene bundesdeutsche Volkswirtschaft davon stärker betroffen als andere Wirtschaftsnationen. Unternehmen schieben größere Investitionen auf. Zumal die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit lehrt, dass unvorhersehbare Ereignisse wie der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland milliardenschwere Investitionen in scheinbar sichere Zukunftsmärkte zu Fehlinvestitionen machen können. Hinzu kommt die Angst vor Terror, die Investitionen im Ausland lähmt. Beides zusammen befeuert einen Trend, den die Europäische Kommission seit Jahren kritisiert: Deutsche Unternehmen investieren einen viel zu geringen Anteil ihrer Gewinne in neue Geschäftsmodelle. Was verantwortungslos ist, weil die deutsche Wirtschaft von weltweiter Kundschaft lebt.

Das niedrige Niveau privater Investitionen wird dadurch verdeckt, dass der Staat viel Geld in die Hand nimmt. Die mit den Milliarden-Überschüssen im Bundeshaushalt finanzierten Flüchtlings- und Integrationspakete sind ein nationales Konjunkturprogramm erster Klasse. Tausende Lehrer, Übersetzer, Polizisten, Fahrer, Köche, Sozialarbeiter, Ärzte und Krankenpfleger müssen eine Million Flüchtlinge versorgen, über Asylanträge entscheiden und diejenigen, die hier bleiben dürfen, integrieren. Das schafft Jobs, das schafft Nachfrage, fördert öffentlichen Wohnungsbau - jedenfalls noch im kommenden Jahr. Mittelfristig, geben Ökonomen zu bedenken, wird die Zuwanderung nur dann kein finanzielles Zuschussgeschäft, wenn 60 Prozent der Flüchtlinge erwerbstätig werden und ungefähr 40 000 Euro jährlich verdienen - das ist mehr, als der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer bekommt.

Verdeckt werden die Risiken auch durch ungewöhnlich günstige äußere Umstände. Der Ölpreis fällt von einem Tiefpreis auf den nächsten, der Euro wird im Vergleich zum Dollar immer preiswerter, das billige Geld der Europäischen Zentralbank kommt vor allem den deutschen Unternehmen und dem Bundesfinanzminister zugute. Deutsche Produkte werden billiger auf dem Weltmarkt, die Kundschaft hat Geld zum Konsumieren, die Bundesrepublik spart Milliarden Euro beim Zinsdienst ein.

Alles in allem sind das beste Voraussetzungen, für die Zeit vorzusorgen, in der Zinsen steigen und Treibstoff respektive die Produktion von Gütern teurer werden. Doch ebenso wie deutsche Unternehmen zögern zu investieren, schiebt die Bundesregierung keine Reformen an. So wird Deutschland absehbar eine Dienstleistungswüste bleiben, weil sich die Bundesregierung beharrlich weigert, den Markt für Berufsgruppen wie Apotheker, Anwälte oder Architekten zu öffnen. Hier lohnte ein Blick in die andere Welt: In den Ländern, in denen Dienstleistungen liberalisiert sind, tragen diese erheblich zum Wachstum bei. Auch die Bundesrepublik könnte absehbar darauf angewiesen sein.

© SZ vom 09.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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