Kommentar:Es geht auch anders

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Frankreich ist mit der Arbeitsmarktreform gescheitert. Das fördert die Widersprüche der Franzosen zutage: Hoffnung und Angst.

Von Leo Klimm

Kann man Frankreich reformieren? Die Regierung in Paris wollte es wissen. Sie hat im Winter eine Modernisierung des Arbeitsrechts begonnen. Jetzt im Frühling ist klar: Das Vorhaben ist, gemessen am Anspruch, gescheitert. Die von Gewerkschafts- und Studentenfunktionären organisierten Proteste mögen im Vergleich zu früheren Demonstrationen nur wenige Franzosen auf die Straße bringen - sie reichen aber, um die Reform zu verwässern.

Die Reformgegner wollen keinen flexibleren Umgang mit der 35-Stunden-Woche. Sie wollen auch nicht, dass Arbeitsbedingungen auf betrieblicher Ebene verhandelt werden. Was in anderen westlichen Ländern funktioniert, die besser mit der Globalisierung zurechtkommen und weniger Arbeitslose haben, interessiert sie nicht. Sie klammern sich an den Status quo. Und verlangen, dass der Staat in hergebrachter Manier jedes Detail regelt.

Hinter der starren Fassade verändert sich das Land, ohne auf Reformen zu warten

Dies ist das alte Frankreich, das sich Reformen noch immer erfolgreich verweigert. Doch es gibt ein neues Frankreich.

Hinter der Fassade eines erstarrten Systems, in dem Politik und Lobbys Stillstand produzieren, verändern sich Wirtschaft und Gesellschaft des Landes, ohne auf offizielle Reformakte zu warten. Dieses dynamische Frankreich nutzt die Globalisierung und die Umbrüche des digitalen Zeitalters, um sich freizumachen von tradierten Strukturen.

Das Land ist also zerrissen: zwischen, einerseits, dem vormodernen, selbstreferenziellen Frankreich mit den vermeintlichen und tatsächlichen Modernisierungsverlierern. Es offenbart sich auch - nicht nur - im Wahlerfolg des Front National. Auf der anderen Seite ist das offene, moderne, wettbewerbsfähige Frankreich.

Dieses Frankreich findet man nicht unbedingt dort, wo man es vermutet. Sondern zum Beispiel in der Umgebung der Provinzmetropolen Nantes und Rennes, wo sich ein bisher untypischer und exportstarker Mittelstand herausgebildet hat. Er sorgt dort für Vollbeschäftigung und kennt keine Klassenkampfrituale. Und überall im Land wurden fernab Pariser Prinzipienkämpfe in den vergangenen Jahren schon völlig geräuschlos Tausende Betriebsvereinbarungen geschlossen, um die Arbeit in den Firmen besser zu organisieren. Im neuen Frankreich geben auch weniger Jugendliche als früher einen Beamtenjob als ihren größten Traum an. Fast 40 Prozent rechnen dagegen damit, in zehn Jahren ihr eigenes Unternehmen zu führen. Auch das ist eine Antwort auf die seit Jahrzehnten währende Unfähigkeit des Staates, Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ganz nebenbei führt es zu einer sehr lebendigen Start-up-Szene, die der deutschen in nichts nachsteht. Eine französische Stärke ist die gute Ausbildung von IT-Spezialisten - was zunehmend Investoren anzieht.

Ein eklatanter Modernisierungsmangel findet sich hingegen dort, wo der Staat - und damit die Politisierung - nah ist. Der Widerstand gegen Reformen wird fast ausschließlich in Staatsunternehmen, im öffentlichen Dienst und an Universitäten orchestriert. Die politischen Institutionen und die eingeübte Art, Interessen zu verhandeln, erschweren zusätzlich die Anpassung an die Realitäten weltweiten Wettbewerbs: Das System befördert Polarisierung, nicht reformfreundliche Koalitionen. Auch die genormte Elitenausbildung, die sich an den Bedürfnissen des Staates orientiert, bremst den Wandel. Sie bringt Politiker und mächtige Spitzenbeamte hervor, die unabhängig der Farbe der Regierung ähnliche Rezepte empfehlen. Der Kern der Reform-Malaise ist also die Frage, ob und wie Frankreichs Staat zur Veränderung fähig ist. Und wie sich die Erwartungen der Franzosen an ihn verändern. Mit dieser Frage ringt ein Land verständlicherweise länger, wenn es auf Jahrhunderte etatistischer Tradition zurückblickt und der Staat für 57 Prozent der Wirtschaftsleistung steht.

Viele Franzosen erwarten den Wandel. Sie wissen, dass in einer vernetzten, globalisierten Welt nicht dem alten Frankreich die Zukunft gehört, sondern dem neuen. In Umfragen sprechen sie sich für liberale Strukturreformen aus. Das hindert sie natürlich nicht, zurückzuschrecken, wenn es ernst wird: Die Mehrheit ist auch gegen die Arbeitsreform. Nein, es ist nicht leicht, Frankreich zu modernisieren.

Nur ist die - von der sozialistischen Regierung zudem stümperhaft angegangene - Arbeitsreform sicher nicht der Beweis, dass es unmöglich ist. Im Gegenteil, das Vorhaben fördert die Widersprüche der Franzosen zutage: Hoffnung und Angst. Die Zerrissenheit zwischen einem Frankreich, das den Wandel annimmt, und einem, das ihn ignorieren will. Den Veränderungskräften, die auf das Land wirken, wird das nichts anhaben.

© SZ vom 09.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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