Kommentar:Anständig streiten

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(Foto: N/A)

Es ist heute unmöglich geworden, auf anständige Weise unterschiedlicher Meinung zu sein. Ökonomen sollten dies berücksichtigen.

Von Nikolaus Piper

Es ist immer wieder gut, Adair Turner zuzuhören. Der frühere Chef der britischen Finanzmarktaufsicht FSA ist in Deutschland nicht sonderlich bekannt. Zu Unrecht: Turner gehört zu den wenigen Prominenten aus dem Inneren von Politik, Wirtschaft und Finanz, die sich trauen, ungeschützt sehr unbequeme Themen anzupacken. So meinte er kürzlich, "Helikoptergeld" , also die direkte Finanzierung von Staatsprojekten durch die Notenbanken, sei eigentlich eine ganz vernünftige Sache. Für jemanden aus der City of London ein ungeheurer Tabubruch.

Jetzt äußerte sich Turner in einem Gespräch mit der Financial Times über die Zerbrechlichkeit der liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Anlass war die britische Debatte um den Brexit, tatsächlich jedoch gingen seine Bemerkungen viel weiter. Früher, so Turner, habe er geglaubt, man könne die Menschen durch rationale Argumente überzeugen. Zunehmend habe er aber realisieren müssen, dass Menschen "Mythologien, Nationalismen und Religionen" brauchten. "Wie Menschen zu Identitäten kommen, die sie emotional bereichern, ohne, dass man zu einer gefährlichen Form des Extremismus kommt, ist eine ziemlich problematische Sache."

Turner hat recht. Es ist die Sucht nach alten und neuen Identitäten, die in diesen Tagen dabei ist, die Ordnung des Westens, so wie man sie bisher gekannt hat, zu zerstören: Brexit, Donald Trump, Flüchtlings- und Euro-Krise. Was bei Trump und all den anderen Populisten auffällt, ist die völlige Abwesenheit ökonomischer Argumente. Es kommt nicht darauf an, ein Problem zu lösen, zum Beispiel das mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, sondern darauf, dass Amerika, England, Ungarn oder wer auch immer, "groß" sind. In anderem Zusammenhang geht es gegen "die" Reichen, das Finanzkapital, die Konzerne, aber nicht darum, dass Geringverdiener mehr Vermögen bilden können, um ein Beispiel zu nennen.

Es ist heute unmöglich geworden, auf anständige Weise unterschiedlicher Meinung zu sein, über den Euro, über TTIP, über die Kosten der Flüchtlingspolitik. Vielleicht noch über Fußball und, selbst da ist es nicht mehr so ganz sicher. Zwischen der Mehrheit der Ökonomen einerseits und der breiten Öffentlichkeit herrscht reines Unverständnis. Die Ökonomen haben, um ein Wort von Franz Josef Strauß zu verwenden, keine Lufthoheit über den Stammtischen. Globalisierung und europäische Integration haben dazu geführt, dass die Menschen viel mehr mit ökonomischen Kräften zu tun haben, die sie nicht durchschauen. Einwanderer und Flüchtlinge erinnern jeden daran, welche Wucht die Globalisierung hat. Die Experten reden abstrakt von Vorteilen, die Freihandel und TTIP bringen, sie können aber nicht mit den Emotionen umgehen, die die Globalisierung auslöst. Die Suche nach Identitäten schafft Feindbilder: Mario Draghi ist der Gottseibeiuns, der die deutschen Sparer enteignet, "die Reichen" zahlen keine Steuern, "die" Konzerne zerstören die Umwelt, der Neoliberalismus knechtet alle, das Finanzkapital versklavt die Nationen. Rechts und links gehen da oft durcheinander.

Die Globalisierung überfordert die Menschen emotional, sie setzt Gesellschaften unter Stress. Ökonomen müssen dies in Rechnung stellen. Aber sie dürfen sich nicht auf das Spiel mit den Identitäten einlassen. Wenn sie ihre Profession ernst nehmen, werden sie niemals die Lufthoheit über den Stammtischen erringen. Sie müssen kritische Fragen offen, hart, aber anständig argumentieren. Sie müssen zeigen, dass Empirie wichtiger ist als jede Parole. Und sie dürfen nicht kapitulieren vor dem grassierenden Irrationalismus.

© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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