Kommentar:Abwärts

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Geld in Brasilien zu verleihen - in der siebtgrößten Wirtschaft der Welt -, müsste eigentlich ein lukratives Geschäftsfeld sein. Doch Europa ist an Lateinamerika nicht sonderlich interessiert - das könnte sich rächen.

Von Boris Herrmann

Geld in Brasilien zu verleihen, müsste eigentlich ein lukratives Geschäftsfeld sein. Das Land hat seinen Leitzins gerade auf sagenhafte 13,75 Prozent erhöht, Tendenz steigend. Die größte europäische Bank HSBC hat trotzdem keine Lust mehr auf Brasilien. Sie schließt ihre Filialen und will künftig lieber in Asien investieren. Es heißt, dort seien die Märkte interessanter.

Wenn nicht einmal mehr die Banken im Bankenparadies am Zuckerhut bleiben, dann weiß man, dass die Trendwende vollzogen ist. Noch vor wenigen Jahren galten Lateinamerika und vor allem Brasilien als Hoffnungsträger der Weltwirtschaft. Inzwischen darf man wieder vom Kontinent der Sorgenkinder sprechen.

Brasilien, siebtgrößte Volkswirtschaft der Erde, ist 2015 in die Rezession abgerutscht und zieht die gesamte Region mit nach unten, vor allem die linkslastigen Bruderstaaten des Mercosur-Bundes. Das Ölreich Venezuela wandelt seit Monaten an der Grenze zum Staatsbankrott. Die von internationalen Finanzmärkten abgekapselte argentinische Wirtschaft schlägt sich zwar erstaunlich tapfer, steht aber wegen eines unendlichen Rechtsstreits mit US-amerikanischen Hedgefonds weiter vor der technischen Zahlungsunfähigkeit. Den eher zum Freihandel tendierenden Volkswirtschaften der Pazifik-Allianz (Mexiko, Kolumbien, Peru, Chile) geht es noch verhältnismäßig gut, aber auch dort trübte sich die Stimmung zuletzt ein. Die Weltbank prophezeit Lateinamerika für 2015 ein Wachstum von 0,4 Prozent. In keiner Region der Welt geht es derzeit langsamer voran.

Europa ist an Lateinamerika nicht sonderlich interessiert - das könnte sich rächen

Zu den wenigen Ausnahmen vom Trend gehören neben dem kleinen, wehrhaften Uruguay ausgerechnet die beiden ehemaligen Armenrepubliken Bolivien und Paraguay. Deren Bruttoinlandsprodukte haben noch einiges aufzuholen, auch deshalb können sie 2015 um vier bis fünf Prozent wachsen. Bolivien und Paraguay liefern gegenwärtig aber auch den Beweis, dass es sich bei der lateinamerikanischen Wirtschaftskrise keineswegs nur um Schikane von außen handelt, wie etwa die Präsidenten Venezuelas und Ecuadors behaupten. Der liberal-konservative Horacio Cartes in Paraguay und der Sozialist Evo Morales in Bolivien zeigen, dass sich der Negativtrend durchaus politisch abfedern lässt - und zwar unabhängig von der jeweiligen Staatsdoktrin.

Das rohstoffreiche Bolivien hat seine lukrativsten Industriezweige verstaatlicht und auf diesen Weise 15 Milliarden Dollar an Reserven angehäuft. Morales kann es sich heute leisten, mit großzügigen Sozialausgaben die Kaufkraft zu stärken. Der Sojagroßlieferant Paraguay wiederum hat sich in besseren Zeiten eine streberhafte Haushaltsdisziplin verordnet, die sich nun auszahlt. Das haben vor allem Brasilien, Argentinien und Venezuela versäumt, die gemeinsam für gut die Hälfte der Wirtschaftskraft der Region verantwortlich sind. Sie geben die Grundrichtung vor: Im Moment geht es abwärts. Das 21. Jahrhundert hat in Lateinamerika mit einem stetigen Rückgang der Armut begonnen. Nun stockt die Entwicklung, die extreme Armut steigt sogar wieder.

Die Probleme sind fast überall ähnlich: die gesunkenen Rohstoffpreise, der starke Dollar, die schwächelnde Binnennachfrage, das Gefühl, dass die altbekannte Korruption immer schlimmer wird. Auch deshalb scheint ein großer Teil der globalen Investoren den Glauben an die Region verloren zu haben. Bei ihrem Wirtschaftsgipfel in der vergangenen Woche in Brüssel versicherten sich europäische und lateinamerikanische Regierungschefs gegenseitig ihr herzlichstes Desinteresse.

Klar, beide Seiten haben gerade andere Sorgen, die Europäer mit ihren Griechen, die Latinos mit ihren Straßenprotestlern. Am Ende gab es eine vage Absichtserklärung zur Intensivierung der Handelsbeziehungen. Was denn auch sonst? Die Importe der EU aus Lateinamerika waren zuletzt rückläufig, europäische Firmen exportieren mehr als doppelt so viel in die Schweiz wie in alle 33 Staaten Lateinamerikas und der Karibik zusammen.

Es sind Geschäfte mit Russland und China, die Lateinamerikas Volkswirtschaften derzeit über Wasser halten. Als Staatschef Xi Jinping neulich seine lateinamerikanischen Kollegen traf, kündigte er formlos Investitionen von 250 Milliarden Dollar an. China baut eine Eisenbahnlinie über die Anden von Brasilien nach Peru oder einen Kanal durch Nicaragua vom Atlantik zum Pazifik. Nebenbei entwickelt sich das Land mehr und mehr zur größten Kreditanstalt lateinamerikanischer Krisenstaaten und sichert sich langfristig politischen Einfluss. Irgendwann wird die nächste Euphoriewelle über den Kontinent schwappen. Die Europäer werden dann vermutlich zuschauen müssen.

© SZ vom 18.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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