Italiens Musterlandschaft in Gefahr:Bauhölle Toskana

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Bella ciao: An der Etruskerküste in Campiglia verschandeln Geschäftemacher und skrupellose Lokalpolitiker Europas Bilderbuchlandschaft.

Ulrike Sauer

Mit 17 durchstreifte Coraldo Cavicchi die Hügel um Campiglia, im Rücken die Etruskerküste und die Insel Elba, vor sich den majestätischen Monte Calvi. Der Bauernsohn besorgte Gewehre und Munition für den Widerstand.

Bilderbuchlandschaft Toskana: Das Paradies ist bedroht. (Foto: Foto: Annette Leemann)

Manchmal schlich er ins Lager der Wehrmacht und ließ Waffen mitgehen. "Unser Leben zählte nichts. Wir fühlten nur die Pflicht, für die Freiheit einzutreten", sagt der alte Mann. Er kam mit heiler Haut davon.

Nun sitzt Cavicchi übel zugerichtet im Ledersessel in seinem Wohnzimmer. Unter den müden Augen blühen zwei Veilchen, die rechte Hand ist verbunden, die Rippen schmerzen bei jedem Atemzug. Schuld ist der Zusammenstoß mit einem Porsche.

Vier schlaflose Nächte halten den einstigen Partisanenkämpfer nicht davon ab, seine Stimme zu erheben. "Meine Wut richtet sich gegen die Mörder des Monte Calvi", platzt es aus ihm heraus. Mit dem Frieden ist es in diesem Sommer in Campiglia Marittima, acht Kilometer von der toskanischen Küste entfernt, vorbei. Rund um das mittelalterliche Bilderbuchdorf regt sich Widerstand. Nicht gegen Invasoren, wie vor 65 Jahren. Sondern gegen eine Machtclique, die im Rathaus von einer linken Bürgermeisterin vertreten wird.

Finanzielle Nöte

Wie auf vielen anderen Traumhügeln der Toskana feuern finanzielle Nöte und wirtschaftliche Interessen eine fragwürdige Politik an. "Sie zerstören jeden Tag ein Stück Berg", sagt Cavicchi. "Und sie betrügen sogar uns, die wir so großes Vertrauen in sie hatten", klagt der 82-Jährige. Den Angriff auf Campiglia führen heute seine politischen Erben.

Mit Sprengminen, Brechern und Bohrern rücken sie dem dichtbewaldeten Monte Calvi zu Leibe. Aus der Ferne gleißt im tiefen Grün von Steineichen, wilden Olivenbäumen, Myrte und Erdbeerbäumen auf breiter Front nackter Kalkstein im Sonnenlicht. Eigentlich war die Kalkgewinnung an den Bedarf des Stahlwerks unten im Hafenstädtchen Piombino gekoppelt. Eigentlich sollte im Jahr 2014 Schicht sein. Eigentlich verpflichteten sich die Betreiber zur "begleitenden Rekultivierung" ausgebeuteter Bergabschnitte. Ja, und eigentlich hatte man in Campiglia enorme Summen auch aus europäischen Töpfen für ein archäologisches Freilichtmuseum lockergemacht. Hier, wo Bergbau und Eisenhütten 1000 Jahre v. Chr. eines der ältestes Industriegebiete Europas begründeten.

So entstand oberhalb der Sandstrände am Golf von Baratti ein Zeugnis der Beziehung zwischen Mensch und Landschaft - von der Erzökonomie der Etrusker bis zum Bergbau im 20. Jahrhundert. Das Vordringen der Geröllwüste mitten in die 450 Hektar Ausgrabungsstätte mutet da als kolossale Torheit an.

Lesen Sie im zweiten Teil, wieso das "Pompei des Mittelalters" in Gefahr ist - und warum die Bürgermeisterin der Gemeinde nichts dagegen unternimmt.

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Einsame Landhäuser auf sanften Hügeln, Klöster und Zypressen - und hervorragender Wein. Die Toskana bietet all das, was sich Italien-Urlauber wünschen.

Doch seit einigen Jahren sieht man das im Rathaus von Campiglia anders. Der Gemeinderat liberalisierte den Verkauf des Bruchmaterials. Nur ein Viertel des Kalks aus Campiglia landet noch im Stahlwerk. Die Lizenz wurde zweimal verlängert, das Gesteinvolumen, das die privaten Betreiber aus dem Berg Calvi sprengen dürfen, um 75 Prozent erhöht.

Toskanisches Dorf Campiglia Marittima: Der Friede ist weg. (Foto: Foto: Leemann)

Die Ausweitung der Produktion trifft den Archäologiepark San Silvestro hart. Eine weiße Staubschicht überzieht Baumkronen und Fundstücke. Der unbequeme Parkchef Massimo Zucconi wurde abserviert. Der Pächter der Jugendherberge gab zermürbt auf. Nach einer Minenexplosion fielen vor zwei Jahren Steine auf Besucher herab, zwei Parkabschnitte sind seither geschlossen. Ein anderes Mal kam ein Transportlaster von der Schotterstraße ab und kippte ins Gebüsch, wo er eingerüstet noch immer seine Gummireifen in den Himmel reckt. Der Fahrer starb bei dem Unfall.

In Gefahr ist nun das "Pompei des Mittelalters", wie der britische Archäologe Richard Hodges den freigelegten Burgfelsen San Silvestro nannte. Die restaurierte Dorfruine ist eine Rarität: Schon im 13. Jahrhundert hatten die Silbergräber die Siedlung verlassen, als die Seerepublik Pisa Sardinien eroberte und ihr Edelmetall nun von dort bezog.

Heute stehen am Monte Calvi Millioneninvestitionen und die Zukunft eines Erbes auf dem Spiel, das mit seiner touristischen Anziehungskraft auch wirtschaftlich bedeutsam ist. "Warum wollt ihr Selbstmord begehen?", fragt der italienische Kulturwissenschaftler Salvatore Settis entsetzt. Campiglia müsse sich entscheiden, meint Settis, der in Pisa die Elitehochschule Scuola Normale leitet. Entweder der Steinbruch oder der archäologische Park.

"Doppelte Läsion"

Bürgermeisterin Silvia Velo aber will beides. Sie regiert seit 1999 im Rathaus, das wie die ganze Toskana eine Hochburg der Linken ist. Die 41-Jährige möchte noch vieles mehr unter einen Hut bringen. Direkt unterhalb der Stadtmauer von Campiglia genehmigte der Kommunalrat am Weg zum Park San Silvestro die Errichtung von drei Neubaugürteln. In sanfter Hanglage, wo heute zwischen Korkeichen und Olivenbäumen der Blick auf die Burg von Campiglia frei ist, sollen 53 Ferienapartments hochgezogen werden. In den Artischockenfeldern unten in der Ebene ist eine Zementfabrik geplant. Sogar von einem Kraftwerk zum Betrieb von zehn Hektar Blumengewächshäusern ist die Rede.

Was kann auch die Toskana dafür, dass sie so schön ist? Einstweilen überlässt Campiglia seinen Kalkstein dem Betreiberkonsortium für 0,34 Euro pro Kubikmeter. Im Handel kostet ein Kubikmeter Kalk 21 Euro und mehr. Auf dem Chefsessel der Betreibergesellschaft Soc. Cave di Campiglia sitzt Velos Amtsvorgänger und Parteikollege Lorenzo Banti. Den alten Cavicchi erfüllen diese Verbandelungen mit Abscheu. "So ein Zufall", höhnt er.

Aufs Jahr gerechnet bringt der Steinbruch 15 Euro pro Einwohner, kalkuliert Rossano Pazzagli, Ex-Bürgermeister aus dem Nachbardorf Suvereto. Der Hochschulprofessor schloss sich einer Bürgerinitiative an, die gegen die Pläne zur Verschandlung von Campiglia aufbegehrt. Den Steinbruch empfindet Pazzagli als "doppelte Läsion". Denn was aus der Wunde im Berg gehauen wird, landet als Baustoff an den Küsten und auf den Hügeln der Toskana im Zement. Eine heftige Debatte in Italien löste vor zwei Jahren das Vorhaben aus, eine Ferienhaussiedlung in Montecchiello bei Pienza in eine unverdorbene Zauberlandschaft zu setzen. "Der irreversible Verbrauch der Landschaftsressourcen liegt nicht im Interesse der Allgemeinheit", sagt der Historiker.

Lesen Sie im dritten Teil, wie die Gemeinderäte der toskanischen Ortschaften die verhassten Investoren anlocken.

Das Tourismusprojekt, das nun Campiglia aufschreckt, heißt "Borgo Novo". Auf einem Areal von 25.000 Quadratmetern - das ist die Hälfte des alten Dorfs - will die römische Baugesellschaft Cogero bis zu 150 Meter lange Reihenhäuser errichten. Der Bruch mit der Vergangenheit ist total. Das Retortendorf Borgo Novo löscht sogar den Namen des idyllischen Fleckchens aus, das bei den Campigliesen seit Generationen "Untere Quelle" heißt. Was die Gründer der Bürgerinitiative Comitato per Campiglia entrüstet, ist der Anachronismus des Laissez-faire.

Da wurden der alte Ort und Kilometer herrlicher Strände in der Nähe so lange bewahrt, seufzt Simona Lecchini Giovannoni. "Und nun gibt man alles der Spekulation anheim." Die Kunstgeschichtlerin aus Florenz bestreitet, dass es in der Gegend Bedarf an zusätzlichen Betten gibt. Nach dem Boom der Unterkünfte in umgebauten Bauernhäusern und Landgütern klagen Privatvermieter vielmehr über Gästemangel. Die Rathauspolitik wird die Attraktivität ihres Angebots nicht steigern.

Die Bauherren des Borgo Novo erwirkten die Genehmigung für ein Projekt, das in der toskanischen Amtssprache "Residenza Turistica Alberghiera" heißt. Es ist offenbar nicht der erste Komplex dieser Art, den die Cogero in der Gegend errichtet. "Dabei ist inzwischen allen klar, dass diese Strukturen ein Betrug sind", sagt Pazzagli. Statt einer hotelähnlichen Unterkunft, für die eine Bauerlaubnis erteilt wird, entpuppen sich die fertigen Anlagen als Ansammlung von Eigentumsapartments. Mehrfach ließ die Justiz solche Siedlungen schon beschlagnahmen. Die Bürgerinitiative in Campiglia wies die Staatsanwaltschaft auf das Projekt hin. "Aber es ist schwer, gegen Geld anzukämpfen", sagt Alberto Primi, ein pensionierter Architekt.

Das erleben auch die Anrainer eines neuen Industriegebiets unterhalb von Campiglia, in Sichtweite der Reste der etruskischen Hafenstadt Populonia. Im Jahr 2003 widmete der Gemeinderat acht Hektar landwirtschaftlicher Fläche stillschweigend um. Dabei klaffen in der nahe gelegenen alten Industriezone Lücken, sagen sie. Der Wert der fruchtbaren Ländereien kletterte über Nacht von 400.000 auf 7,5 Millionen Euro, überschlägt Pazzagli. Sie gehören der Firma Agricola Fraschiera der Familie Corsi, die auch Eigentümerin des Fußballklubs F.C. Empoli ist.

Als sei ein Damm gebrochen

Vor einem Jahr wuchsen urplötzlich Zementsilos aus dem Feld. Auf einem Schild werden nun die Nachbargrundstücke zum Kauf feilgeboten. Als Nächstes soll eine Zement- und Klinkerfabrik neben die eisenreichen Artischockenfelder von Domenico Barletta kommen. Für Barlettas Gemüse sieht es dann übel aus. Seine Blütenköpfe mit dem DOP-Siegel geschützter Herkunftsbezeichnung erzielen über die Toskana hinaus gute Preise. "Wenn hier Zementstaub herunterfällt, lohnt sich der Anbau nicht mehr", sagt er.

Den Leuten aus dem Comitato kommt es vor, als sei auf einmal ein Damm gebrochen. Die Angriffe auf die Landschaft erfolgten stets nach demselben Muster, klagen sie. Im Rathaus warte man auf Bauvorschläge, modifiziere den Flächennutzungsplan und gebe so eine den Interessen der Allgemeinheit verpflichtete Raumplanung auf. "Hier liegt der Ursprung der modernen Wunden der Toskana", sagt Pazzagli.

Cavicchi brechen sie das Herz. Nach dem Kriegsende hatte sich der Partisanenkämpfer selbständig gemacht. 124 Leute beschäftigte seine Baufirma in ihren besten Zeiten. Ein halbes Jahrhundert arbeitete er mit dem Rathaus zusammen. Baute Brücken, Schulen, Häuser. Cavicchi ist einer vom alten Schlag, der nach Wohlstand trachtete, ohne sein Land dafür zu zerstören. "Jetzt sind in Campiglia Verbrecher am Werk", sagt er bitter.

© SZ vom 13.09.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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