Interview mit dem Gewerkschaftsexperten Josef Esser:"Die anderen haben mehr erreicht als die GDL"

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Der Gewerkschaftsforscher Josef Esser erklärt, warum die GDL weniger erreicht hat, als sie behauptet - und warum es bei der Bahn weiter Streit geben wird.

Wolfgang Jaschensky

Professor Josef Esser lehrt seit 1981 Politikwissenschaft und Politische Soziologie an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Der 64-Jährige forscht seit rund drei Jahrzehnten zum Thema Gewerkschaften.

Die IG Metall ist noch stark genug, um einen Flächentarifvertrag auszuhandeln. (Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Zehn Monate haben Bahn und Lokführergewerkschaft um einen neuen Tarifvertrag gerungen. Jetzt steht die Einigung in groben Zügen. Wer darf sich mehr freuen: Bahn oder GDL?

Josef Esser: Die Einigung ist noch nicht komplett, aber das am Sonntag vorgestellte Ergebnis ist mit Sicherheit ein Erfolg der GDL. Die GDL hat relativ hohe Löhne abgeschlossen und sie hat einen eigenständigen Tarifvertrag - wenn auch in Grenzen.

sueddeutsche.de: Wie eigenständig wird die GDL denn künftig verhandeln dürfen?

Esser: Es soll künftig ein Gesamttarifwerk geben, in dem rund 80 Prozent aller Dinge geregelt werden. Und dann gibt es für die sechs dort definierten Berufssparten spezielle Tarifverträge, wo über die Arbeitszeiten und die Entgelte gesondert verhandelt wird. Eine dieser sechs Sparten sollen dann die Lokführer sein und die GDL soll dann allein für die Lokführer zuständig sein. Das heißt aber nicht, dass sie dann völlig unabhängig für ihre Mitglieder und deren Löhne kämpfen kann, sondern sie wird dann diszipliniert, eingebunden in dieses Gesamtsystem. Das ist ein Fortschritt für die GDL, aber es ist nicht die Maximalforderung "eigenständiger Tarifvertrag", wie die GDL das jetzt immer verkündet.

sueddeutsche.de: Wie werden die beiden anderen Bahngewerkschaften Transnet und GDBA reagieren?

Esser: Der Tarifvertrag von Transnet und GDBA enthält ja die berühmte Revisionsklausel. Die lautet: Wenn die GDL höher abschließt als Transnet und GDBA, dann muss neu verhandelt werden. Wenn klar ist, was die GDL prozentual herausgeschlagen hat, dann gehe ich mit Sicherheit davon aus, dass Transnet und GDBA von der Bahn Nachverhandlungen fordern. Transnet und GDBA befinden sich sonst in einem Dilemma, denn sie müssten ihren Mitgliedern erklären, warum die kleine GDL viel effektiver ist als sie selbst.

sueddeutsche.de: Wird es zu neuen Streiks kommen?

Esser: Wenn sich die Bahn resistent verhält, würden Transnet und GDBA sicher auch zu Streiks aufrufen, die GDL hat es ihnen ja vorgemacht. Nur glaube ich in diesem Fall an eine Lösung auf dem Verhandlungsweg. Die Bahn kann es sich nicht leisten, die Intererssen der Mehrzahl der Beschäftigten zu vernachlässigen - und die sind ja bei diesen Gewerkschaften organisiert.

sueddeutsche.de: Nach Ärzten, Piloten und Fluglotsen haben nun auch Lokführer einen eigenen Tarifvertrag...

Esser: ...na ja, die haben mehr erreicht als die GDL. Ärzte verhandeln für sich allein, ohne dass sie Rücksicht nehmen müssen auf die anderen Beschäftigten in den Krankenhäusern. Die Fluglotsen handeln für sich allein, ohne dass sie Rücksicht nehmen müssen auf die anderen Beschäftigten zum Beispiel bei der Lufthansa. Die GDL muss sich weiterhin abstimmen mit den anderen Gewerkschaften, wenn es um die Gesamtregelungen geht. Diesen feinen Unterschied sollte man nicht verkennen.

sueddeutsche.de: Werden nun weitere Berufsgruppen versuchen, für sich bessere Bedingungen zu erkämpfen?

Esser: Da muss man sich fragen: Welche Berufsgruppen könnten das überhaupt noch sein? Die Vorraussetzung ist ein eigenständiger Verband oder eine andere Organisationsform. Die GDL existiert seit über 100 Jahren. Den Marburger Bund haben die Ärzte auch nicht neu erfunden, ähnlich war es bei den Piloten. Außerdem muss man über Streikgeld verfügen. Da fallen mir ganz wenige Gruppen ein. Das könnten die Ingenieure und die Techniker in der Metall- und Elektroindustrie sein.

Die verfügen mit dem Verband Deutscher Ingenieure über einen eigenen Verband. Längerfristig könnte das also eine Gruppe sein. Was einem auch einfallen könnte: Hochschullehrer. Es gibt einen Verband der Hochschullehrer, dort wird seit langem darüber geklagt, dass ihre Arbeitsbedingungen nicht berücksichtigt werden bei dem was im öffentlichen Dienst generell verhandelt wird. Wenn die Tarifsolidarität im öffentlichen Dienst weiter so bröckelt, könnte man sich auch die Müllfahrer vorstellen.

sueddeutsche.de: Sehen Sie die Tarifsolidarität in Gefahr?

Professor Josef Esser (Foto: Foto: Privat)

Esser: Die Tariflandschaft hat sich in den vergangenen zehn bis 15 Jahren in Deutschland dramatisch verändert. Der Erfolg kleiner monopolartiger Berufsverbände wie der Ärzte oder nun der Lokführer ist dabei aber nur ein Aspekt. Mit der IG Metall, der IG Chemie, mit der Bauarbeitergewerkschaft und in Teilen mit Verdi gibt es zwar noch immer Gewerkschaften, die in der Lage sind, Flächentarifverträge auszuhandeln. Gleichzeitig finden wir aber immer mehr tariffreie Zonen. Es gibt eine Menge Branchen, wo überhaupt keine gewerkschaftliche Organisation mehr existiert, wo das "Gesetz des Dschungels" herrscht. Eine weitere Veränderung ist die starke Zunahme von Leiharbeit. Mit den großen Zeitarbeitsfirmen wie Manpower und Randstad konnte der Deutsche Gewerkschaftsbund zwar inzwischen Tarifverträge abschließen, aber auch auf diesem Gebiet gibt es noch eine große Menge kleiner Firmen, bei denen unklar ist, ob jemals Tarifverträge abgeschlossen werden können. Diese Entwicklungen laufen parallel und das wird längerfristig das gesamte System verändern.

sueddeutsche.de: Politiker streiten sich da ja gerade, ob man über Mindestlöhne gegensteuern kann...

Esser: In bestimmten Arbeitsmärkten ohne gewerktschaftliche Organisation kann man natürlich über gesetzliche Mindeststandards nachdenken, ja. Ich gehe auch davon aus, dass der gesetzliche Mindestlohn kommen wird. Die derzeitige Koalition einigt sich zwar sicher nicht. Aber 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen den Mindestlohn und bei künftigen Wahlkämpfen wird das ein wichtiges Thema sein. Eine neue Regierungskoalition könnte 2009 mit diesem Thema punkten.

sueddeutsche.de: DGB-Chef Michael Sommer hat den Durchbruch in den Bahn-Tarifverhandlungen als einen "beachtenswerten Startschuss für die Tarifrunde 2008" bezeichnet. Beratungsinstitute rechnen damit, dass die Unternehmen in Deutschland ihre Personaletats 2008 stärker anheben, als in den Jahren zuvor. Dürfen sich die Arbeitnehmer auf 2008 freuen?

Esser: Das, was die Arbeitnehmer in allen Branchen in den vergangen zehn Jahren an Reallohnverlusten haben hinnehmen müssen, kann man nicht durch eine einmalige Lohnerhöhung kompensieren. Ich gehe aber davon aus, dass 2008 für die Arbeitnehmer in gewerkschaftlich organisierten Bereichen insgesamt vier bis fünf Prozent mehr Lohn drin ist. Die Erfolgschancen sind natürlich von Branche zu Branche unterschiedlich. Damit wäre seit langem wieder das erfüllt, was oft als gerechte Lohnsteigerung bezeichnet wird, nämlich Produktivitätsfortschritt plus Inflationsausgleich plus ein kleiner Aufschlag. Voraussetzung dafür ist allerdings die Möglichkeit, glaubhaft mit Streik zu drohen.

sueddeutsche.de: Heißt das, dass 2008 ein Jahr der Streiks wird?

Esser: Die Bereitschaft unter den Beschäftigten, sich für bessere Löhne zu engagieren, ist zweifellos gestiegen, ihre Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, hat abgenommen. Ein wichtiger Indikator dafür ist auch, dass das Image der deutschen Gewerkschaften besser geworden ist.

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