Griechisches Staatsvermögen:Ausverkauf

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: Stefan Dimitrov / SZ; Stefan Dimitrov)

In Griechenland sollen Teile der Infrastruktur privatisiert werden. Großbritannien zeigt, warum davon abzuraten ist: Wo das Profitdenken regiert, geht der Zusammenhalt verloren.

Von Franziska Augstein

Piräus ist nicht nur Athens Hafen seit dem fünften Jahrhundert vor der Zeitrechnung, es ist auch eine Halbinsel. Dorthin, so erzählte Platon, sei Sokrates gewandert und unversehens in eine Diskussion über Gerechtigkeit und Staatsführung geraten. Der betagte Unternehmer Kephalos hielt es für unabdingbar, "die Wahrheit zu sagen und seine Schulden zu bezahlen". Das war eine klare Ansage, und doch spielt Kephalos in Platons "Politeia" eine eher belanglose Rolle. Zu der Frage, wie man ein Gemeinwesen aufrechterhält, fiel dem reichen Zugereisten im übrigen nämlich wenig ein. Vermutlich würde Kephalos, lebte er heute, die Griechenland-Politik der EU und des Internationalen Währungsfonds gutheißen. Die Wahrheit sagen, seine Schulden bezahlen: Kephalos wäre möglicherweise ein Berater der "Troika" geworden.

Gewiss berühmter als Sokrates' Ausflug nach Piräus ist die Schlagerzeile "Ich bin ein Mädchen von Piräus". Weh muss vielen Griechen dabei zumute sein, ihren alten Hafen zu verlieren. Zusammen mit vielem anderen soll er im Rahmen des Privatisierungsprogramms verkauft werden. In diesem Sommer wurde die Rhetorik angeheizt: Die Privatisierungen sollen nun "beschleunigt" vonstattengehen, als ob die bisherigen Erlöse von vier Milliarden Euro nicht schon hektisch genug zusammengebracht worden wären. Der Privatisierungsfonds erinnert an die Treuhandanstalt, die seinerzeit DDR-Unternehmen im Stundentakt verschleuderte. Wohlstand ist in Ostdeutschland damit nicht eingekehrt, wohl aber der Umstand, dass die Abwanderung mangels Arbeitsplätzen bis heute anhält.

Wer die ostdeutsche Wirtschaft für so marode hält, dass ihr nicht zu helfen gewesen sei, mag sich das Mutterland der Privatisierungen in Europa anschauen: Großbritannien. Auskunft gibt da das unlängst mit dem Orwell-Preis ausgezeichnete Buch des Schriftstellers und Journalisten James Meek: "Private Island" (Verso, London, 8,99 Pfund).

In Moskau und in der Ukraine hat der Engländer in den Neunzigerjahren gesehen, was Privatisierung dort bedeutete: "Die wichtigste regulierende Instanz (. . .), zumindest am Anfang, war: Mord." Zurück zu Haus, warf er sich in eine jahrelange Recherche: Wie waren die Privatisierungen in Großbritannien abgegangen?

10 Downing Street ausgenommen, wollte Margaret Thatcher am liebsten allen Staatsbesitz verkaufen. In einer Zeit, da Britannien unter Stagflation litt und unter dem Gefühl "nationalen Versagens", konnte die 1979 gewählte Premierministerin, ohne sich selbst zu schaden, Gewerkschaften als "Linksfaschisten" bezeichnen.

Margaret Thatcher glaubte, Privatisierungen würden Manager zu Patrioten machen

Hinzu kam bei ihr aber noch ein Motiv, Meek fand es in ihrer Autobiografie und war durchaus verblüfft: Thatcher machte ihre Politik im Andenken an ihren Vater; der führte ein kleines Geschäft, war Methodist und Bürgermeister des Städtchens Grantham. "Sie glaubte", schreibt Meek, "der Transformationseffekt von Privatisierungen werde aus Managern aufrecht-moralische, patriotische, dem Gemeinwohl verpflichtete Unternehmer wie ihren Vater machen - als ob das Monopol für die Wasserversorgung von etlichen Millionen dasselbe wäre wie die Führung eines Kolonialwarenladens in einer kleinen englischen Stadt in den Vierzigerjahren."

Meeks Beobachtung erinnert daran, wie Angela Merkel sich immer wieder auf "die schwäbische Hausfrau" beruft. Der Kanzlerin sollte man zugute halten, dass sie so simpel nicht wirklich denkt. Margaret Thatcher aber meinte, was sie sagte. In der Folge wurde, was zum öffentlichen Leben der Briten gehört, privatisiert: darunter die Versorgung mit Wasser und Strom, die Post, die Eisenbahn.

Das Kalkül war, unternehmerischer Geist werde an Stelle bürokratischen Schlendrians treten. Konkurrenz werde die Verbrauchskosten für die Briten senken. Meek zeigt, dass Letzteres nicht eintrat. Und unternehmerische Fantasie entfaltete sich vornehmlich im Hinblick auf Irreführung des Publikums.

Der global agierende, privatisierte Wasserversorger Severn Trent hat ein Monopol in den englischen Midlands. Das börsennotierte Unternehmen kaprizierte sich auf seinen Profit und vernachlässigte darüber die Instandhaltung der Anlagen. Die Folge war, so Meek, dass 2007 bei einer großen Regenflut sämtliche Tanklaster des Landes benötigt wurden, um die Anwohner mit Trinkwasser zu versorgen.

Was in Meeks Buch nicht vorkommt: Später wurden dem Konzern von der staatlichen Regulierungsbehörde Ofwat Bußzahlungen auferlegt, unter anderem dafür, dass er seine Umfragen zur "Kundenzufriedenheit" gefälscht hatte. Und als Severn Trent 2013 eine feindliche Übernahme vermeiden wollte - dafür waren laut dem Londoner Guardian 19 Millionen Pfund nötig - stiegen die Wasserpreise prompt um zwei Prozent. Das Unternehmen erklärte: Mit seinem Börsenkampf habe das nichts zu tun. Schande über den, der denkt, für die Abwehr der feindlichen Übernahme, die für einen weltweit operierenden Konzern nicht allzu teuer war, hätten die Kunden aufkommen müssen.

Railtrack oder Royal Mail: Überall gab es nach dem Einstieg der Investoren große Probleme

An die Machenschaften der Betrüger, die sich von der deutschen Treuhand Unternehmen erschlichen, erinnert das Vorgehen der Unternehmensgruppe Railtrack, zuständig für britische Geleise, Instandhaltung, Tunnel, Brücken und Signale: In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre wollte Railtrack ganz groß einsteigen, mit Hilfe von Investoren. Der Knackpunkt bei der Bewerbung war das Zentrum des britischen Zugsystems: die Strecke zwischen London und Glasgow und alles, was dazwischen liegt. Die Stellanlagen sind alt, viel älter als die deutschen, deren meiste auch überholt werden müssten.

Railtrack behauptete, mittels eines neuen Signalsystems könne man sich die Renovierung der Signalsysteme ersparen: Alles werde elektronisch laufen, viel billiger. Ein paar Funkmasten hier und da, Empfangskästen in den Loks - fertig. Dieses System (ERMTS) wird von der EU in der Tat seit Jahren protegiert, aber selbst heute wird es lediglich im Nahverkehr und auf einzelnen Schnellstrecken angewendet, auch Schweizer Eisenbahngesellschaften können damit arbeiten. Vor rund zwanzig Jahren tat Railtrack so, als wäre das System fast ausgereift. So erhielt das Konsortium die Möglichkeit, das britische Eisenbahnnetz herunterzuwirtschaften.

James Meek schildert wütend-detailliert, wie Railtrack die Investoren hinters Licht führte und die Reisenden als nebensächlich erachtete. Das ging so lange nicht gut, bis drei desaströse Zugunfälle die Regierung völlig überzeugt hatten, dass sie sich denn doch wieder kümmern müsse. 2002 wurde das britische Schienennetz "Network Rail" übergeben, einer Organisation, die von öffentlichen Körperschaften getragen und nicht auf Profit orientiert ist.

Irreführung des Publikums betrieb auch die britische Regierung: Als die Royal Mail 2013 privatisiert wurde, waren die begebenen Anteile viel zu billig. Aus Sicht der Politiker, schreibt Meek, sei es vor allem wichtig gewesen, das Geschäft erfolgreich abzuwickeln. Man beließ die Verantwortlichkeit für die Pensionen in Höhe von acht Milliarden Pfund beim Staat, erhöhte die Kosten für Briefmarken - und schon war man die Anteile los. Seit der etwa gleichzeitig verfügten Deregulierung des britischen Postwesens, so Meek, hat die Royal Mail größte Mühe, sich gegen Billiganbieter wie etwa die Deutsche Post zu behaupten - auf Kosten der Beschäftigten und der Kunden.

Die Deutsche Post kümmert sich ordentlich um die Angestellten des Mutterbetriebs. Bei outgesourcten oder hinzugekauften Unternehmen operiert der Konzern nach dem Motto: So billig wie möglich; das gilt auch für die Akquisitionen im Vereinigten Königreich. Vom Lohn-Dumping abgesehen, schreibt Meek, bringe das Sparregiment es mit sich, dass auch bei der Royal Mail gefragt werde, ob Briefe tatsächlich an sechs Tagen pro Woche zugestellt werden müssen. Genügen in abgelegenen Regionen nicht drei oder vier Tage?

Bürger können beschließen, sich vom Preis für Fleisch unabhängig zu machen, indem sie zum Beispiel mehr Tofu essen. Sofern sie keine echten Waldschrate sind - und sogar im für seine Exzentriker berühmten Britannien sind Letztere sehr rar -, können sie aber nicht ohne Wasseranschluss und Strom auskommen, nicht ohne Post und Eisenbahn. Wenn Unternehmen privatisiert werden, deren Leistungen für die Zivilgesellschaft notwendig sind und organisatorisch nur großflächig erbracht werden können, erlangen sie sehr oft ein Monopol. Das geht auf Kosten der Kunden und auch der Demokratie.

Wie der solidarische Zusammenhalt eines Gemeinwesens durch Privatisierung aufgelöst wird, zeigt eine Unterhaltung zwischen Meek und einem Wasserfachmann von Severn Trent. Der sagte dem Journalisten: Vor der Privatisierung habe man bei Trockenheit über das lokale Radio einen Aufruf an die Bürger ausgegeben, Wasser zu sparen, also den Rasen weniger oft zu sprengen und dergleichen mehr. Die meisten hätten das beherzigt. Nach der Privatisierung hätten die Leute sich um dergleichen Aufrufe nicht mehr geschert: Sie dachten, das diene nur zur Steigerung des Unternehmensprofits.

Anders als die Griechen wissen die Schweizer, was mit ihrem Steuergeld gemacht wird

Was sind die Folgerungen für die in Griechenland geplanten Privatisierungen? Der Hamburger Großunternehmer Michael Otto - er überführte den Otto-Versand ins Internetzeitalter - sagte anlässlich eines Gesprächs mit der SZ im Jahr 2012: Für Privatisierungen griechischer Unternehmen sei es zu früh. Es bringe nichts, meinte Otto, Staatsbesitz zum Billigpreis loszuschlagen. Eine "Beschleunigung" der Privatisierungen wird daran sicher nichts ändern.

Längst schon wurde klar, dass die Idee, auf diese Weise 50 Milliarden Euro zu erwirtschaften, eine Chimäre ist. Der Internationale Währungsfonds rechnet mit Einkünften von nur 1,5 Milliarden. So soll etwa die Wasserversorgung privatisiert werden. Die staatliche Österreichische Bundesbahn (ÖBB) mag die griechische Staatsbahn gern für einen Euro übernehmen.

Großbritanniens Beispiel belegt indes, dass es dem Gemeinwesen schadet, wenn notwendige Infrastruktur in private Hände gerät.

Von Griechenland heißt es, die Klientelwirtschaft sei unausrottbar. In der Tat haben bisher wenige Familien das Land dominiert - und wer immer konnte, hat seiner Klientel überflüssige Posten verschafft. Der Premier Tsipras tut sich mit Neuerungen auch deshalb schwer, weil er von der eingesessenen Bürokratie ausgebremst wird. Warum nur ist die Korruption in Griechenland so vorzüglich und die Steuermoral so schlecht entwickelt?

Die Angewandte Ökonomie weiß eine Antwort. Der bei der Europäischen Kommission beschäftigte Benedikt Herrmann erklärt das Dilemma so: Alle kommunalen Steuereinnahmen müssen nach Athen abgeführt werden, von wo aus sie rückverteilt werden. Folglich würden Lokalpolitiker ihre Zeit vor allem in Athen mit Antichambrieren verbringen, um möglichst viel Geld für ihre Kommunen herauszuschlagen. Die Bürger bekämen ihre Politiker selten zu sehen, hätten keine Ahnung, was mit ihrem Geld gemacht wird, und sähen folglich keinen Anlass, Steuern zu zahlen. Ganz anders, so Herrmann, sei es in der Schweiz: Dort könnten die Lokalpolitiker einen großen Teil des Steuergelds selbst ausgeben, sie seien den Bürgern verpflichtet, müssten ihnen Rede und Antwort stehen. Die Schweizer, sagt Herrmann, hätten nicht das Gefühl, es werde über ihren Kopf hinweg regiert.

Griechenland braucht etliche ordnungspolitische und fiskalpolitische Reformen. Ebenso wichtig wäre aber wohl, den Bürgern das Gefühl zu geben, dass sie mitreden können.

© SZ vom 18.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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