Glockengießerei:Wem die Stunde schlägt

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Der Nord-Turm des Parlaments in London. In ihm schlagen fünf Glocken. Die größte - Big Ben - wurde 1858 in Whitechapel gegossen. (Foto: Matt Cardy/Getty)

Der älteste Industriebetrieb Großbritanniens, Whitechapel Bell Foundry, hat einige berühmte Glocken gegossen, darunter Big Ben. Doch bald ist Schluss damit.

Von Björn Finke, London

Am Ende der Halle stehen zwei schmutzig-graue Öfen, in denen Bronze geschmolzen wird. An den Wänden hängen Ketten von Stahlträgern herab; rechts und links fällt der Blick auf Fässer, Eimer, Schubkarren, alle überzogen von dunklem Staub. Auf zwei Rollwägen sind stählerne Gehäuse montiert, in denen Arbeiter aus Lehm Gussformen für Kirchenglocken erschaffen. Auf dem dreckigen Boden liegt eine große Glocke neben Säcken voller Schutt und Steine. "2016 Whitechapel" ist auf der Seite der Glocke zu lesen.

Whitechapel ist ein Stadtteil im Londoner Osten, einst berüchtigt als Revier des Frauenmörders Jack the Ripper, lange heruntergekommen, aber inzwischen schwer angesagt. Zudem ist das Viertel Heimat der Whitechapel Bell Foundry, der Glockengießerei, und ihrer 23 Beschäftigten. Die Firma ist in einem denkmalgeschützten Fabrikgebäude aus verrußtem Backstein untergebracht. Seit 1738 hat das Unternehmen dort seinen Sitz. Gegründet wurde es sogar schon 1570, fertigte die Glocken allerdings zunächst woanders in der Nähe.

Schiller hätte sein "Lied von der Glocke" auch 2016 in London schreiben können

Damit ist die Whitechapel Bell Foundry der älteste noch bestehende Industriebetrieb Großbritanniens. Und neben ihm gibt es nur eine weitere Glockengießerei im Königreich. Doch im Frühjahr werden fast 450 Jahre Firmengeschichte zu Ende gehen. Alan Hughes, Chef und Besitzer des Familienunternehmens, verkündete am Wochenende, dass er sich im Mai zur Ruhe setzen werde. Das Gebäude im trendigen Whitechapel hat er bereits an Immobilienentwickler verkauft. Jetzt verhandelt der 68-Jährige mit Interessenten, die den Firmennamen und die Ausrüstung erwerben wollen. Sie könnten die Gießerei dann woanders neu aufbauen.

Die Entscheidung aufzuhören hätten seine Frau und er "schweren Herzens" getroffen, sagt Hughes. Sein Urgroßvater kaufte den Betrieb 1904, Hughes führt ihn in vierter Generation. Doch das Geschäft ist über die Jahrzehnte schwieriger geworden, die Nachfrage nach Kirchenglocken sinkt. Zudem sei der Unterhalt des historischen Fabrikbaus sehr teuer, klagt der Manager, der 1966 direkt nach Abschluss der Schule im Unternehmen anfing. Seine beiden Töchter folgten nicht dem Vorbild des Vaters: "Die eine ist erfolgreiche Pianistin, die andere macht Karriere bei Waitrose", sagt er. Waitrose ist eine Supermarktkette im Königreich.

Zu den ältesten Glocken der Gießerei gehören zwei, die 1583 und 1589 für die Westminster Abbey gegossen wurden, die bei Touristen beliebte Kirche neben dem Parlament in London. "Sie läuten jeden Tag, sie arbeiten immer noch einwandfrei", sagt Hughes. "Das ist aus Unternehmersicht sehr deprimierend." Die bekannteste - und größte - Glocke aus Whitechapel ist Big Ben, die schwerste der fünf Glocken im Nord-Turm des Parlamentsgebäudes. Sie wurde 1858 gefertigt.

Auch die Liberty Bell stammt aus der Gießerei: jene Glocke, die in Philadelphia erklang, als dort 1776 erstmals die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verlesen wurde.

Glocken halten ewig, zugleich baut der wichtigste Kunde von Hughes, die anglikanische Kirche, immer weniger neue Gotteshäuser und ordert daher nur selten Geläut. "Deswegen schrumpft der Markt seit etwa hundert Jahren", sagt der Chef. "Damals gab es allein in London vier Glockengießereien, heute sind es zwei in ganz Großbritannien." Seit seine Familie den Betrieb besitze, habe noch jede Generation gedacht, die Firma werde bald dichtmachen.

"Meinen Urgroßvater, der das Unternehmen gekauft hatte, trieb diese Furcht in den Selbstmord", sagt Hughes. Zwei seiner Söhne wollten die Firma nicht, der dritte schon. Das war Hughes' Großvater. Der habe ebenfalls mit dem Aus gerechnet, sagt der Glockengießer. "Das Unternehmen hat nur wegen des Zweiten Weltkriegs überlebt. In gewisser Weise sind wir also Hitler zu Dank verpflichtet", sagt der Manager scherzhaft. Während des Krieges produzierte die Gießerei statt Glocken Rüstungsgüter: Aluminiumteile für U-Boote. "Und nach dem Krieg hatten mein Vater und mein Onkel wieder genug Aufträge für Glocken, weil die Bomber so viele Kirchen zerstört hatten." Im Jahr 1997 ging das Unternehmen an Hughes über.

Der Manager machte die Gießerei weniger abhängig vom schrumpfenden Kirchengeschäft. Die Firma eröffnete einen Internetshop, in dem Kunden Türglocken oder kleine Glocken zum Musizieren kaufen können. Zudem bietet Hughes Touristen Führungen durch die geschichtsträchtige Gießerei an. Umgerechnet 18 Euro pro Person kosten die; sie sind lange im Voraus ausgebucht und enden im Souvenirladen des Betriebs. "Die Besucher kommen aus der ganzen Welt - aus Gründen, die mir selbst nicht ganz klar sind", sagt der Brite.

Die Gäste sehen eine Fabrik, die mit dem Dreck und Staub, den Schubkarren und Schaufeln so ganz und gar nicht einem modernen durchautomatisierten und -optimierten Produktionsstandort ähnelt: herrlich altmodisch. Das Handwerk des Glockengießens hat sich aber über die Jahrhunderte auch nicht großartig verändert. Friedrich von Schiller hätte sein berühmtes "Lied von der Glocke" problemlos 2016 in Whitechapel verfassen können.

Am Anfang fertigen die Arbeiter eine Gussform. Die innere Form wird gemauert und mit Lehm überzogen. Die äußere wird mit Lehm in Stahlgehäusen erschaffen. Der Lehm ist eine Mischung aus Sand und Ton, verfeinert mit Ziegenhaar und Pferdedung. Die beiden Formen werden getrocknet und dann zusammengesetzt. In den Zwischenraum gießen die Arbeiter die Bronze, ein 1170 Grad heißes Gemisch, das aus 77 Prozent Kupfer und 23 Prozent Zinn besteht. Nach dem Erkalten werden die Lehmformen aufgebrochen und geben die Glocke frei.

"Kupfer und Zinn werden in Dollar gehandelt", sagt Hughes. "Der Absturz des Pfundkurses seit dem EU-Referendum macht diese Metalle nun teurer für uns", klagt er.

Die Glocken müssen nach dem Gießen gestimmt werden. Dafür stellen die Arbeiter sie kopfüber auf eine Drehscheibe. Der Stimmer schlägt sie an, misst die Tonhöhe und schneidet dann mit einer Spezialmaschine auf der Innenseite Metall weg. Nimmt er zu viel weg, ist die Glocke verstimmt und unbrauchbar. "Das ist aber erst zweimal vorgekommen, seit ich 1966 im Betrieb angefangen habe", sagt Hughes. "Alles eine Frage der Erfahrung." In der Nebenhalle, die etwas höher ist, montieren die Beschäftigten danach die Aufhängung und die Klöppel. An der Wand liegen schwere, beinlange Klöppel auf dem Boden.

Insgesamt dauere die Produktion einer Kirchenglocke mindestens viereinhalb Wochen, sagt Hughes. Bis im Mai Schluss ist, wird die Whitechapel Bell Foundry also nur noch wenige Glocken gießen können. Nach fast 450 Jahren bereitet sich das Unternehmen auf sein letztes Geläut vor.

© SZ vom 05.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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