GDL beschäftigt Justiz:Der Sonderzug nach Chemnitz

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Die Entscheidung kommt zwar später, aber sie wird kommen: Das Landesarbeitsgericht in Chemnitz muss entscheiden, wie groß die Sonderrolle der kleinen Gewerkschaft der Lokomotivführer sein darf.

Michael Bauchmüller

Die Kieler Straßenbahner waren nicht zimperlich. Im Kampf um höhere Gehälter besetzten sie im Mai 1920 kurzerhand das betriebseigene Kraftwerk. Ohne Strom keine Straßenbahn, dachten sie. Doch die Effektivität ihres Streiks wurde den aufmüpfigen Straßenbahnern zum Verhängnis. Auf dem Umweg über die Gerichte zwang ihr Arbeitgeber sie in die Knie. Der Streik dauerte nur elf Tage. Die Löhne blieben bescheiden.

Deutschlands Lokführer versuchen seit einigen Wochen Ähnliches. 1600 von ihnen im Ausstand reichen, dem Anliegen ihrer Gewerkschaft GDL bundesweit Gehör zu verschaffen. "1600, die ein Unternehmen von knapp 200.000 Beschäftigten in Deutschland beeinträchtigen", ärgert sich Bahn-Verhandlungsführer Werner Bayreuther, selbst jahrelang Arbeitsrichter. "So etwas hat die Rechtsliteratur noch nicht gesehen, und die Rechtsprechung auch nicht."

Grundsatzentscheidung

Am Freitag kommender Woche wird sich das ändern. Im sächsischen Landesarbeitsgericht in Chemnitz werden Richter über eine einstweilige Verfügung beraten, mit der das dortige Arbeitsgericht die Streiks kürzlich eingeschränkt hatte. Demnach durften die Lokführer da nicht streiken, wo es der Bahn weh getan hätte: Im Fern- und Güterverkehr. Im Nahverkehr dagegen, wo viele Pendler ihre Monats- und Jahreskarten vorab längst gezahlt haben, ließ der Richter Streiks zu.

Es wird eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung. Darf es für eine Berufsgruppe, die Lokführer, im selben Konzern zweierlei Tarifverträge geben? Darf eine so kleine Gewerkschaft ein so großes Unternehmen lahmlegen? Gibt es also Grenzen für das deutsche Streikrecht? Vermehrt hatten sich in den vergangenen Jahren kleine Gewerkschaften gebildet, hatten Piloten, Fluglotsen, Ärzte höhere Gehälter erstritten. Was aber das deutsche Recht dazu sagt - fraglich.

Notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht

Zweierlei wird die Richter beschäftigen. Zum einen geht es um den Grundsatz der sogenannten Tarifeinheit. Danach soll es in einem Betrieb nicht zwei konkurrierende Tarifwerke geben. Lange Jahre war das auch die Haltung des Bundesarbeitsgerichts.

Doch mittlerweile, so heißt es unter Juristen, sehe der zuständige Vierte Senat dies anders. Nur: Eine entsprechende Grundsatzentscheidung gibt es noch nicht. Zum anderen streiten Lokführer und Bahn über die "Verhältnismäßigkeit". Streiks sollen zwar gerade dem Arbeitgeber weh tun. Was aber, wenn sie gleichzeitig eine Volkswirtschaft lahmlegen, wenn Kraftwerke keine Kohle und Fabriken keine Rohstoffe mehr bekommen?

GDL-Anwalt Ulrich Fischer wird schon bei dem Hinweis darauf ganz fuchsig. "Wenn das für Lokführer verboten wird, müssen wir es auch für Seeleute verbieten", sagt er. "Dann leben wir in einem Staat, in dem Streiks bestimmter Berufsgruppen verboten werden." Immerhin bewegen sich die Lokführer damit im Mainstream des Arbeitsrechts. "Wenn eine kleine Gewerkschaft in einem Berufsstand viele Mitglieder hat, warum soll sie dann nicht für deren Interessen streiken dürfen?", sagt Thomas Dieterich, bis 1999 Präsident des Bundesarbeitsgerichts.

Viel spricht dafür, dass in Chemnitz noch nicht das letzte Wort gesprochen wird. Sollte die GDL dort unterliegen, sagt Anwalt Fischer, sei das Bundesverfassungsgericht an der Reihe. Am Ende liefe alles auf eine grundlegende Entscheidung aus Karlsruhe hinaus. "Das werden unsere Kinder dann vielleicht noch erleben", sagt der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing - "wenn sie sehr alt werden."

© SZ vom 23.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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