Ex-Siemens-Chef von Pierer:Das Leben nach der Macht

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Im Schatten der Korruptionsaffäre: Der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer muss sich an eine Rolle gewöhnen, mit der er keine Erfahrung hat.

Karl-Heinz Büschemann

Er ist an diesem Vormittag früh dran. Schon um neun Uhr betritt Heinrich von Pierer den Saal im Hamburger Kongresszentrum, obwohl die VW-Hauptversammlung, an der der frühere Siemens-Chef als Aufsichtsrat teilnehmen will, erst um zehn beginnt. Er schüttelt Hände. Wenn man ihm sagt, "Sie sehen angespannt aus", dann merkt der 67-Jährige auf, gibt sich einen Ruck und winkt ab. Das habe nichts mit der Siemens-Korruptionsaffäre zu tun, auch nicht damit, wie sein Absturz in den Zeitungen ausgebreitet werde. "Gestern Abend an der Hotelbar hat es halt bis halb zwei gedauert", sagt er.

Der ehemalige Siemens-Konzernchef Heinrich von Pierer: "Ich werde von den Medien nicht gut behandelt." (Foto: Foto: dpa)

Kollegen sprechen von ihm mit Bedauern

Pierer, der von 1992 bis 2005 Siemens-Konzernchef war, will offensichtlich nicht nach außen zeigen, wie ihn die Korruptionsaffäre mitnimmt. Er geht zur VW-Hauptversammlung wie jedes Jahr, setzt sich auf das Podium, als habe er noch immer eine Rolle auf der großen Bühne der Wirtschaft, obwohl seine große Zeit als Mr. Siemens längst zu Ende ist. Am 19. April 2007 musste er als Aufsichtsrat des Weltkonzerns zurücktreten, und seine einstigen Managerkollegen sprechen von ihm nur noch mit Bedauern. Als einem Vertreter einer anderen Zeit. Warum kommt er also noch einmal in diese Halle mit dem Nussbaumholz- und Klinkercharme der siebziger Jahre, wo klar ist, dass nun auch sein Amt als VW-Aufsichtsrat endet, und jeder Verständnis für eine Krankmeldung gehabt hätte?

Im vergangenen Jahr hatte er die VW-Aktionärsversammlung überstürzt verlassen, um in München seinen Rücktritt als Aufsichtsratschef von Siemens bekanntzugeben. Das war der wohl schwärzeste Tag seines Lebens. Er hatte sich verzweifelt gewehrt. Am Ende war der Druck doch zu groß geworden. Zweifelhafte Zahlungen von 1,3 Milliarden Euro soll der Konzern getätigt haben, das ist so viel wie das Budget der Stadt Dortmund. Und er sagt, er habe davon nichts gewusst.

"Ich werde von den Medien nicht gut behandelt", sagt Heinrich von Pierer in Hamburg und zieht den Gesprächspartner an einen Tisch am Rande des Foyers. "Ich weiß gar nicht, was ich verbrochen habe, dass die Leute so über mich herfallen." Die Leute, damit meint er die Medien, auch die Süddeutsche Zeitung, die seit anderthalb Jahren die größte Korruptionsaffäre der deutschen Wirtschaft ausleuchten. Was für ihn aber noch schlimmer ist: Inzwischen rückt auch der Siemens-Konzern von dem Mann ab, der 13 Jahre lang der Vorstandsvorsitzende war und der bei den 400.000 Mitarbeitern eine enorme Popularität gewonnen hatte.

Längst laufen interne Untersuchungen. Die amerikanische Anwaltskanzlei Debevoise und Plimpton dreht im Auftrag des Konzerns seit mehr als einem Jahr jeden Beleg um und prüft auch, ob Pierer doch etwas von den fraglichen Zahlungen wusste. An diesem Dienstag tagt der Siemens-Aufsichtsrat, um sich ein Bild von der möglichen Verstrickung Pierers zu machen.

Die Konzernleitung vermittelt den Eindruck, als wolle sie Pierer wie eine alte Haut abstreifen. Die Angst vor Milliardenstrafen ist zu hoch. Das kann für Pierer gefährlich werden. Der neue Siemens-Vorstandschef Peter Löscher distanzierte sich bereits von der alten Unternehmensführung. Er nannte keinen Namen. Aber Pierer muss sich angesprochen fühlen. Es sei klar, so schrieb Löscher an die Mitarbeiter, dass "es aus der Mitte unseres Unternehmens über längere Zeit unverantwortliches und wohl auch kriminelles Handeln gab". Heinrich von Pierer droht nun ein Ermittlungsverfahren.

"Das geht mir nahe"

Pierer sagt, wer seiner Meinung nach schuld ist, dass er jetzt abstürzt wie wohl kein Manager zuvor. "Die Medien schaffen Fakten", sagt er gallig und beklagt, dass eine Zeitung von der anderen abschreibt. Alle Blätter wollten sich überbieten: "Das geht bis zur Fälschung". Sein Blick wandert ziellos durch das Foyer, als warte dort einer, der ihm helfen könnte. Man sieht ihm an, dass für ihn eine Welt zusammenfällt. Der Mann, der einst im größten deutschen Technologiekonzern alle Fäden in der Hand hatte, stemmt sich gegen seine eigene Machtlosigkeit.

Lesen Sie weiter, warum von Pierer nicht bereit war, die Verantwortung für den Siemens-Skandal zu übernehmen.

Früher gelang ihm alles. Zum Beispiel im Sommer 1998. Heinrich von Pierer war nach sechs Jahren als Konzernchef praktisch am Ende. Er stand vor dem Rausschmiss. Das Unternehmen machte zu wenig Gewinn. Auf einer Pressekonferenz im Steigenberger Kurhotel von Scheveningen an der holländischen Nordseeküste legte er damals neben schlechten Zahlen einen Zettel auf den Tisch.

Dieser simple Politikertrick wird später als das berühmte Zehn-Punkte-Programm die Legende des Heinrich von Pierer begründen. Wie einst Helmut Kohl die deutsche Wiedervereinigung angeblich mit einem Zehn-Punkte-Programm deichselte, hatte sich Pierer von seinem Pressechef Rezepte aufschreiben lassen, die Siemens erneuern sollten. Seitdem galt er bei Siemens als Held. Ehrenring der Stadt Erlangen, Großes Bundesverdienstkreuz, Ehrenbürgerschaft von Singapur, Bayerischer Verdienstorden. Die IG Metall ernannte den Konzernchef zum Betriebsrat ehrenhalber.

Abstieg tut weh

Und der redete mit allen Großen der Welt. Pierer beriet den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, und in Angela Merkels Technologierat war er der Chef. Das CSU-Mitglied Pierer galt 2004 eine Zeitlang sogar als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, und er durfte als erster deutscher Manager vor dem UN-Sicherheitsrat reden. "In 157 Jahren Geschäften in der ganzen Welt haben wir eine Menge Erfahrung, mit schwierigen Situationen umzugehen", sagte er 2005 in New York.

Die eigene Krise bekommt er jetzt nicht in den Griff. Der Abstieg tut ihm weh, das können die ovalen Brillengläser nicht verheimlichen. "Das geht mir nahe", sagt er. Er wägt die Worte ab. Kein Blick in seine Seele soll möglich sein. Die Frage, ob durch die Affäre sein Lebenswerk zerstört wurde, wehrt er noch ab. "Lebenswerke gibt es bei Künstlern", sagt er. Doch an Pierer nagt die Sorge um sein Image.

Aber nicht nur innerhalb des Konzerns. Auch was die Menschen in seiner Heimatstadt Erlangen denken, ist ihm wichtig. Dort hat er auch als Münchner Siemens-Chef immer gelebt. In jungen Jahren war er CSU-Kommunalpolitiker und Sportreporter beim Tagblatt. In Erlangen gibt es mehr Siemens-Mitarbeiter als in München. "In einer kleinen Stadt kommen mir die Menschen nahe", sagt er.

"Brauche keinen Zwölf-Stunden-Tag mehr"

Jetzt muss er zuschauen, wie er jeden Tag kleiner gemacht wird. Vor einigen Wochen verlor Pierer bei Siemens sein Büro mit Sekretärin und das Dienstauto mitsamt dem Fahrer. Zuletzt hat ihn auch noch die Kanzlerin beim Innovationsrat kaltgestellt: Sie hat einfach ein neues Beratergremium geschaffen - ohne Pierer. Noch sitzt er im Aufsichtsrat von Deutscher Bank, Hochtief und Thyssen-Krupp. Doch diese angesehenen Mandate werden weniger. Umso dankbarer hat der Ex-Siemens-Chef das Angebot des türkischen Mischkonzerns Koc angenommen, in dessen Aufsichtsrat zu kommen. "Das sind nette Leute", erzählt er über seine neuen Freunde. Für sie hat er extra ein paar Brocken türkisch gelernt.

Doch an diesem Donnerstagvormittag im Hamburger Messefoyer will er zeigen, dass er keineswegs abhängig ist von seinen Posten. Er spüre inzwischen auch das Alter, sagt er. "Beim Sport bin ich heute viel verletzungsanfälliger", gesteht der begeisterte Tennisspieler und Skifahrer. Von den Verletzungen durch die Korruptionsaffäre spricht er nicht. Er wolle die Verpflichtungen langsam ausklingen lassen. "Ich brauche keinen Zwölf-Stunden-Tag mehr." Jetzt wünsche er sich, mal wieder ein gutes Buch zu lesen und sich um die Familie zu kümmern, sagt er, und wirkt bewegt. "Ich war ja so viel weg."

So etwas sagen fast alle Manager, wenn sie mit dem Rentenalter nicht klarkommen und damit, dass sie nicht mehr gefragt sind. Und trotz der Demontage geht Pierer weiter bei Siemens ein und aus. Ohne Siemens kann der Mann ja gar nicht sein, der 39 Jahre lang im Unternehmen war und vom kleinen Angestellten in der Rechtsabteilung zum Konzernchef aufstieg. Er hat sein ganzes Leben in den Konzern gesteckt. Siemens und Familie, das ist bei Pierer kaum zu trennen. Nicht zufällig arbeitet einer seiner Söhne auch in Vaters Elektrokonzern.

"Sehe nicht, was ich noch machen kann"

Pierer handelte gern wie ein Familienvater, auch bei Siemens. Für Schmiergeldzahlungen will er bisher keine Verantwortung übernehmen, aber als er noch Aufsichtsratschef war, warf er sich in die Bresche, wenn es um seine alten Kollegen aus dem Vorstand ging. So war es auch vor gut einem Jahr, als das Vorstandsmitglied Josef Feldmeyer in Untersuchungshaft genommen worden war. "Wegen Fluchtgefahr". Pierer griff zum Telefon, so wie er es als Konzernchef immer tat, wenn ihm etwas missfiel. Er rief bei der bayerischen Justizministerin Beate Merk an. Doch diesmal geschah nicht sein Wille. Die Ministerin handelte nach Gesetz und Recht. Sie ließ Pierer abblitzen.

Wäre es nicht besser gewesen, wenigstens die moralische Verantwortung für die Vorkommnisse bei Siemens zu übernehmen, egal, ob er selbst an den Machenschaften beteiligt war? Heinrich von Pierer schaut ins Leere. "Ich bin doch vom Aufsichtsratvorsitz zurückgetreten", sagt er. "Ich sehe nicht, was ich noch machen kann.'' Es dauert, bis er schließlich selbst eine Antwort gibt: "Von dieser politischen Verantwortung habe ich nie viel gehalten. Aber vielleicht hätte ich es mal sagen sollen."

Pierer demonstriert Pflichtgefühl

Vor einem Jahr war er noch anderer Meinung. "Das wäre das Eingeständnis von Schuld gewesen - ein Riesenfehler." Pierer sitzt in der Falle. Waren ihm anstößige Zahlungen bekannt, hat er gegen Gesetze verstoßen. Waren sie es nicht, schützt ihn auch die Unwissenheit nicht, denn einem AG-Vorstand dürfen so gravierende Vorgänge nicht entgehen.

Punkt zehn Uhr setzt sich Heinrich von Pierer auf das Hauptversammlungs-Podium der VW-Aufsichtsräte. Leutselig plaudert er mit Porsche-Chef Wendelin Wiedeking zu seiner Rechten. Später sitzt er lange reglos da, die Stirn auf eine Hand gestützt. Nach zehn Stunden sind die meisten Aktionäre längst gegangen. Pierer demonstriert aber noch immer auf dem Podium sein Pflichtgefühl.

Gegen Abend setzt er von seinem Platz noch eine SMS ab, und diese Kurznachricht erlaubt einen kleinen Blick hinter Pierers mühsam erhaltene Fassade. Er habe inzwischen die Gelegenheit gehabt, in den Spiegel zu sehen, schreibt er: "Habe festgestellt, dass ich tatsächlich angespannt ausgeschaut habe."

© SZ vom 29.4.2008/jkf/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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