Essay:Tod durch Schulden

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Griechenlands Lage ist so dramatisch wie die deutsche Anfang der 30er-Jahre. Die Sparpolitik ebnete damals den Weg für Hitler. Daraus sollte man lernen. Von Jeffrey Sachs.

Von Jeffrey Sachs 

Die Bundesregierung sagt, dass die Mitglieder der Euro-Zone nicht über ihre Verhältnisse leben sollten. Sie müssten ihre Schuldenlast senken und notfalls die bittere Reformmedizin nehmen. Wenn sie sich daran hielten, würden sie Erfolg haben, wie Irland, Spanien und Portugal zeigten. Griechenland sei selbst schuld an seiner Krise; das Land sei bis Ende 2014 auf dem Weg zur Besserung gewesen, aber dann vom Weg abgewichen.

Das Rezept ist sicher meistens richtig: Länder sollten ihre Schulden zurückzahlen und Reformen umsetzen, die dies möglich machen. Manchmal jedoch ist dieses Rezept falsch - nämlich dann, wenn der Schuldendienst zusammen mit anderen Wirtschaftsproblemen eine Gesellschaft an den Rand des Zusammenbruchs bringt.

Das Rezept war falsch im Falle der Weimarer Republik der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, als Deutschland erst in die Hyperinflation und dann in die Depression getrieben wurde. Deutschland bat die USA um langfristige Entlastung bei den Reparationen und beim Schuldendienst, allerdings vergeblich. Erst kam die Hyperinflation, dann die Massenarbeitslosigkeit, dann der Zusammenbruch von Banken und ein großer Run auf das Banksystem 1931, was zur Schließung der Banken führte (wie heute in Griechenland). US-Präsident Herbert Hoover gewährte schließlich ein Schulden-Moratorium, aber es war zu spät. Hitler kam 1933 an die Macht.

Das Rezept war ebenfalls falsch in Polen 1989. Damals hatte die Solidarnosc-Bewegung das kommunistische Regime in die Knie gezwungen, doch die Schulden aus der Sowjet-Ära erstickten alle Hoffnungen im Keim; sie führten zu hoher Inflation und bedrohten die noch junge Demokratie. Ich war damals als Wirtschaftsberater in Polen und habe darauf gedrungen, dass die G-7-Staaten Polen einen Schuldenerlass gewähren. Die USA haben schnell und klug gehandelt, und die anderen G-7-Staaten sind dem Beispiel schnell gefolgt, Deutschland als letztes. Danach florierten Wirtschaft und Demokratie.

Griechenland braucht einen Schuldenschnitt. Der muss einher gehen mit Strukturreformen

Es war hingegen ein Fehler, 1992 von Russland zu verlangen, seine Schulden weiter zu bedienen. Damals erbte der neue Präsident Boris Jelzin die bankrotte post-sowjetische Wirtschaft. Wie in Polen 1989 drang ich darauf, Russland einen Teil seiner Schulden zu erlassen. Aber die USA, Deutschland und andere lehnten dies ab.

Die Folge: Russland musste sich mehrere Jahre lang mit finanziellen Turbulenzen herumschlagen, was wiederum dazu führte, dass das öffentliche Vertrauen in die neuen, noch fragilen demokratischen Institutionen in Russland schwand. Die westliche Haltung gegenüber Russland beförderte letztlich eine nationalistische Gegenreaktion, ähnlich wie in Deutschland während der Weimarer Republik, als das Land unter den hohen Reparationszahlungen aus dem Ersten Weltkrieg litt und der Nationalismus aufblühte. Um es klarzumachen: In neun von zehn Fällen ist es richtig (und funktioniert auch), wenn man von verschuldeten Ländern verlangt, dass sie ihre Schulden bedienen; aber im zehnten Fall kann dies ins Verderben führen. Wir dürfen Gesellschaften nicht an den Rand des Zusammenbruchs bringen, auch wenn sie selbst für ihre hohen Schulden verantwortlich sind.

Verdiente Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshall-Plan, also das große Hilfsprogramm der USA? Nein. War der Marshall-Plan dennoch klug, um dem Land einen Neustart zu ermöglichen? Ja.

Verdient Griechenland einen Schuldenschnitt? Nein, denn die griechische Wirtschaft wurde sehr lange falsch geführt. Wäre es dennoch gut, Griechenland solch einen Schuldenschnitt anzubieten? Ja.

Keine Frage: Griechenland hat sich zu hoch verschuldet; es hat darin versagt, die Vetternwirtschaft und Korruption zu bekämpfen; und es hat darin versagt, eine neue, wettbewerbsfähige Industrie zu entwickeln. Das Ergebnis ist, dass Griechenland seine Schulden nicht bedienen kann. Die Wirtschaft ist kaputt und die Exportindustrie zu schwach, als dass sie dem Land - wie in Irland und anderswo - einen vom Export getragenen Aufschwung bescheren kann. Die Banken funktionieren nicht mehr, sodass die Unternehmen nicht an Geld für neue Maschinen kommen können. Griechenland befindet sich in einer tödlichen Spirale aus Austerität, Kapitalvernichtung, brain drain, Kapitalflucht und wachsenden sozialen Unruhen.

Ich verfolge die Entwicklung nun seit sechs Jahren jeden Tag, und ich habe verschiedenen griechischen Regierungen - linken, rechten und aus der Mitte - zu helfen versucht, um gemeinsam mit Deutschland und dem Rest von Europa eine intelligente Lösung zu finden, die das Wachstum voranbringt. Aber ich musste die Erfahrung machen, dass das deutsche Finanzministerium während aller dieser Jahre nicht wirklich nach einer Lösung gesucht hat.

Griechenland durchlebt eine ökonomische Krise, die nicht weniger dramatisch ist als die Krise, die Deutschland zwischen 1930 und 1932 unter dem damaligen Reichskanzler Heinrich Brüning erlebt hat. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent, unter den jungen Menschen sogar annähernd bei 50 Prozent; die Wirtschaftsleistung ist um 30 Prozent eingebrochen; den Banken droht der Kollaps.

SZ-Illustration: Lisa Bucher (Foto: d)

Deutschland kann Griechenland eine Lektion erteilen und verlangen, all das umzusetzen, was Deutschland fordert; aber Griechenland wird zusammenbrechen, wenn es gezwungen wird, seine Schulden weiter in voller Höhe zu bedienen und seine Staatsausgaben zu kürzen. Solch eine Politik wird unmöglich funktionieren - so wie die eiserne Sparpolitik in Deutschland unter Brüning nicht funktioniert hat.

Die deutschen Steuerzahler glauben, dass sie außerordentlich großzügig gegenüber Griechenland gewesen sind, indem sie dem Land immer neue Kredite gewährt haben. Doch sie unterliegen dabei teilweise einer Illusion. Denn tatsächlich haben sich die deutschen Steuerzahler nicht gegenüber Griechenland großzügig gezeigt, sondern gegenüber ihren eigenen Banken.

So ist Griechenland gezwungen worden, das erste Hilfspaket von 100 Milliarden Euro im Jahr 2010 nicht für sich selber zu verwenden, sondern damit seine Schulden gegenüber den Banken abzulösen, vor allem gegenüber deutschen und französischen Banken. Auf ähnliche Weise wurde Griechenland gezwungen, das zweite Hilfspaket dafür zu verwenden, seine ausländischen Gläubiger zu bedienen. So gut wie nichts aus den Hilfspaketen wurde dazu verwendet, die Investitionen anzukurbeln.

Jetzt erhält Griechenland ein drittes Hilfspaket, aber erneut wird es verwendet, um die Gläubiger zu bedienen - und es in notleidende Banken zu stecken.

Der Schuldendienst wird dadurch zu einem Hütchenspiel: Man gibt Griechenland alle paar Jahre einen zweistelligen Milliardenbetrag, damit es seine Schulden an andere zurückzahlen kann. Experten nennen diese Politik: "Pretend and extend" - vortäuschen und verlängern. Das Problem dabei ist: Die Schulden steigen immer weiter; die griechischen Banken sterben; und die kleinen und mittleren Unternehmen in Griechenland brechen zusammen. Auch die Abwanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte aus Griechenland, wird weitergehen. Es ist der Tod durch Schulden.

Kurzum: Wenn eine Krise so einschneidend ist wie in Griechenland, hat der mächtigste Gläubiger eine historische Verantwortung. Deutschland muss Griechenland helfen, einen neuen Anfang zu machen, anstatt zusammenzubrechen. Deutschland muss handeln und dafür sorgen, dass Griechenland ein Teil seiner Schulden erlassen wird - das wäre im Sinne des europäischen Wohlstands, der europäischen Demokratie und der europäischen Einheit.

Natürlich muss ein Schuldenschnitt einhergehen mit größeren Strukturreformen. Aber gerade Deutschland weiß aufgrund der Erfahrungen mit der Agenda 2010: Es braucht Zeit, bis Reformen zu einem höheren Wirtschaftswachstum führen. Damals hat Deutschland, als es die Reformen umgesetzt hat, das Maastricht-Schuldenkriterium gebrochen. Heute braucht Griechenland, das sich in einem wesentlich schlechteren Zustand befindet, einen Schuldenschnitt, damit es mit seinen Reformen Erfolg haben kann.

© SZ vom 02.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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