Digitalbranche:Seltsames Austin

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Warum nicht mal verkleidet: Ein SXSW-Messebesucher, der Star Wars mag, führt seinen Hund aus. (Foto: Jack Plunkett/Invision/AP)

In der texanischen Hauptstadt steht Technologie nicht mehr nur beim Digital-Festival SXSW im Mittelpunkt. Der Boom der Branche bringt die Stadt an ihre Grenzen, der Widerstand wächst.

Von Johannes Kuhn und Beate Wild, Austin

Wenn am Freitag das Technologie-Festival "South by Southwest" (SXSW) in Austin beginnt, können regelmäßige Besucher wieder ein Ratespiel veranstalten: Erkennen sie die Skyline am Rande des Colorado River wieder? Welche neuen Hochhäuser sind entstanden? Lässt sich die Zahl an Baukränen in der Stadt überhaupt noch feststellen, ohne dabei durcheinander zu kommen? Austin boomt, und das nicht nur zur SXSW, die mit ihrer Mischung aus Digitaldebatten, Film und Musik eine Woche lang mehr als 70 000 Besucher anziehen wird. Aus einer verschlafenen Universitätsstadt mit Hippie-Flair ist innerhalb weniger Jahrzehnte eine Wirtschaftsmetropole geworden.

Gut 930 000 Menschen leben inzwischen in der texanischen Hauptstadt, zwischen Houston und Dallas gelegen, die eine liberale Enklave im konservativen Bundesstaat ist. Die Bevölkerungszahl hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdoppelt, zuletzt wuchs der Großraum durchschnittlich um 158 Bewohner pro Tag. Die Technologie-Branche hat daran ihren Anteil, der Internet- und Computersektor beschäftigt inzwischen 60 000 Mitarbeiter, die Zahl der Jobs wächst im Moment jährlich um zehn Prozent.

Die Stadt gilt inzwischen als "bester amerikanischer Ort, um ein Start-up zu gründen"

Dell hat seine Zentrale hier und gilt als Wegbereiter, Apple beschäftigt 6000 Mitarbeiter, Oracle hat eine große Filiale. Einheimische Firmen wie Silicon Labs existieren neben ständig voller werdenden Büros von Software-Großkonzernen wie Facebook oder Google. Durch die Forschung der University of Texas haben sich auch Solar-, Biotech- oder Medizintechnologie-Firmen angesiedelt.

Von dieser Infrastruktur profitieren auch Start-ups. Der gut vernetzte Junggründer Joshua Baer wollte um die Jahrtausendwende die Start-up-Fabriken im Silicon Valley überzeugen, auch in Austin aktiv zu werden. Als er abblitzte, fand er eine typisch texanische Lösung: "Okay, wenn es niemand macht, dann kümmere ich mich eben darum", erzählt er gerne von der Geburt seines Start-up-Inkubators Capital Factory.

Inzwischen ist daraus ein dichtgeknüpftes Netz aus Investoren, Gründern und gut ausgebildeten IT-Spezialisten geworden, das der Stadt regelmäßig Auszeichnungen wie "bester amerikanischer Ort, um ein Start-up zu gründen" einbringt. Unter Berücksichtigung von Lebenshaltungskosten und niedrigen Steuern ist Austin der Jobseite Hired.com zufolge sogar der derzeit lukrativste Wohnort für amerikanische Programmierer.

Austin könnte also als Paradebeispiel für jenen "Aufstieg des Rests" gelten, den der Investor und ehemalige AOL-Chef Steve Case beschwört und dafür auch Politiker begeistert hat: Erfolgreiche amerikanische Digitalstandorte außerhalb des Silicon Valley, die sich über den Zufluss von Gutverdienern und Kapital neu erfinden. In der Realität hat das Wachstum in Austin zu einigen Verwerfungen geführt. Am deutlichsten sichtbar wird das auf den fast durchgängig verstopften Straßen, die in Abwesenheit eines funktionierenden öffentlichen Nahverkehrs das ständig steigende Verkehrsaufkommen kaum noch bewältigen können. "Anwesenheit im Büro wird erwartet", heißt es inzwischen in manchen Stellenanzeigen ausdrücklich, nachdem immer mehr entnervte Pendler Firmen um die Möglichkeit anflehen, häufiger vom daheim arbeiten zu dürfen.

Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur hingegen ist im Osten der Stadt zu besichtigen. Dort verwandelt sich das ehemaligen Viertel der Arbeiter, Afroamerikaner und Latinos immer mehr in ein Ausgehviertel, und dort werden optisch die Gegensätze deutlich: Mondäne Apartment-Gebäude für Bestverdiener auf der einen, unsanierte Sozialwohnungen auf der anderen Straßenseite; bescheidende Einfamilienhäuser im Schatten von abenteuerlich konstruierten Protz-Villen.

Der Exodus der Normalverdiener, Künstler und Minderheiten ins Umland vollzieht sich jedoch weitgehend unsichtbar. Dabei müssen nicht nur Mieter angesichts hoher Preise kapitulieren, sondern auch Eigenheim-Besitzer die Stadt verlassen. Weil das konservative Texas keine Einkommenssteuer erhebt, zahlen sie hohe Grundsteuern, die sich zudem am Marktwert orientieren - im Schnitt inzwischen 7600 Dollar pro Jahr. Zu viel für all diejenigen, die nicht zu den Gutverdienern zählen. "Wir mussten uns entscheiden: Entweder ein Baby oder ein Haus", erzählte jüngst eine Universitätsmitarbeiterin mit Master-Abschluss. Sie und ihr Partner werden die Stadt verlassen - so wie derzeit hochgerechnet 50 Bewohner jeden Tag.

Auch wenn es neulich bei einer spontanen Gentrifizierungsdiskussion - passenderweise vor einem Hipstercafé mit Streichelkatzen - zu einer Schlägerei kam: Ein offener Kulturkampf wie in der Tech-Hauptstadt San Francisco ist bislang in Austin nicht ausgebrochen. Allerdings werden langsam jene Brachflächen knapp, durch deren Bebauung die Stadt das Bevölkerungswachstum bislang etwas abfedern konnte. Gegen den neuen Bebauungsplan, der eine dichtere Besiedlung einiger Stadtteile erlauben soll, gibt es bereits heftigen Widerstand. Der Bau eines Stadions, um ein Team aus der amerikanischen Fußball-Profiliga MLS in die Stadt zu holen, stößt auf Ablehnung: die umwelt- wie freizeitbewussten Austinites wollen dafür keine öffentlichen Grünflächen opfern. Hinter all den Debatten steckt auch die Frage, ob die Stadt ihre Kultur beibehalten kann, die von alternativen Lebensstilen, Umwelt- und Tierschutz, Kunst und Musik, Genuss und Weltoffenheit geprägt wurde (weshalb konservative Texaner oft abfällig von einer "Volksrepublik" reden).

Dass nun auch noch der Online-Konzern Amazon aus Seattle überlegt, seine zweite Zentrale in der Stadt zu errichten, weckt große Befürchtungen: Bereits Amazons Übernahme der ebenfalls im Stadtzentrum beheimateten Bioladen-Kette Whole Foods galt in einigen Kreisen als weiterer Ausverkauf der Ideale und Verstoß gegen das Stadtmotto "Keep Austin Weird" - "Austin, bleib' seltsam".

Andererseits können sich Bewohner jetzt innerhalb von zwei Stunden ihre Whole-Foods-Bestellungen an die Haustür bringen lassen und damit den lästigen Stau vermeiden. Veränderungen haben auch in Austin zwei Seiten.

© SZ vom 09.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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