Die Zukunft Chinas:Das letzte Dorf des Kommunismus

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In Nanjie gibt es weder Internet noch Autos, aber mietfreie Einheitswohnungen und Nudeln gegen Gutschein - doch bald dürfte Chinas rotes Paradies pleite sein.

Janis Vougioukas

Der Gast aus Peking trägt einen dunklen Anzug, eine schwarze Herrenhandtasche, und er hat Fragen mitgebracht. Die Hauptstadt ist in Sorge. ,,Der Erhalt der sozialen Harmonie ist bei den Parteisitzungen in Peking inzwischen das wichtigste Thema'', berichtet der Besucher.

Leben auf dem Land in China: Seit auch die Dörfer boomen, hat der Kommunismus an Überzeugungskraft eingebüßt. (Foto: Foto: AFP)

Wang Hongbin hört still zu. Der Mann mit der penibel gescheitelten Frisur lehnt sich in den breiten Konferenzsessel zurück, weiße Schonbezüge, er ist klein, seine Füße berühren gerade eben den Boden.

Viele Leute aus dem ganzen Land kommen nach Nanjie, um Wang Hongbin um Rat zu fragen, den Parteisekretär. Selbst hohe Regierungsmitglieder aus Peking kreuzen in Nanjie auf, ohne hier bei Wang wirklich Antworten zu finden.

Nirgendwo funktionierte der Kommunismus besser

Es geht um die Zukunft Chinas. Das ganz Land ist im Umbruch. Ungezügelter Kapitalismus breitet sich aus. Unsicherheit. Doch das kleine Dorf Nanjie in der zentralchinesischen Provinz Henan blieb dem Kommunismus treu, bewahrte Planwirtschaft und Kollektivierung - und lebte damit lange gut: Nirgendwo sonst funktionierte der Kommunismus besser als in Nanjie.

Es gibt bis heute keinen relevanten Privatbesitz, keine Autos, keine Hochhäuser, keine Leuchtreklamen und keine privaten Firmen. Lebensmittel, Möbel, Gebrauchsgegenstände werden gegen Gutscheine an die Menschen verteilt.

Ausbildung und medizinische Versorgung sind kostenlos. Die 92 Quadratmeter großen Einheitswohnungen sind mietfrei. Dafür kontrolliert die Kommunistische Partei das ganze Leben.

Massenhochzeit am Nationalfeiertag

Sogar private Hochzeiten sind in Nanjie abgeschafft worden. Stattdessen veranstaltet die Partei zum Nationalfeiertag am 1. Oktober eine Massenhochzeit und spendiert den Paaren die Flitterwochen in Peking. Nanjie ist wie ein Gegenentwurf zu den Reformen der chinesischen Regierung.

Am Stadtrand neben den Fabriken liegt der Fernbusbahnhof. Eine Reisegruppe steigt aus, ältere Herren in dunklen Anzügen. An ihren Handgelenken baumeln Kamerataschen.

Eine bunt gekleidete Hostess führt die Besucher zu einem futuristischen Elektromobil und spricht kurze Kommandos in ein am Ohr befestigtes Mikrofon. So ungefähr muss es sein, wenn man am Besucherzentrum der Nasa eintrifft.

Die Planwirtschaft mit den sauberen Straßen

400.000 Menschen kamen allein 2006, um sich vor der Mao-Statue am Ortseingang zu fotografieren und mit eigenen Augen den Kommunismus zu sehen, die Planwirtschaft mit den sauberen breiten Straßen.

Damit die Touristen nicht nur Wohnblöcke und Fabrikfassaden besichtigen können, hat Parteisekretär Wang im Osten des Dorfes einen Freizeitpark errichten lassen. Dort steht ein Nachbau des Geburtshauses von Mao Zedong.

Bald soll ein Museum eröffnet werden: ein sechsstöckiger Rundbau im Stil einer chinesischen Pagode. Darin sollen die Werke des ,,Großen Vorsitzenden'' ausgestellt werden, handgemalt auf Seidentüchern.

Beweis für den Erfolg der Planwirtschaft

Man könnte ganz Nanjie für eine Touristenattraktion halten, ein kommunistisches Disneyland. Doch es geht um mehr. Nanjie galt in China lange als der Beweis für die Überlegenheit der Planwirtschaft, des Kommunismus, der auch im Feldversuch erfolgreich war.

Viele Chinesen vermissen das alte Gefühl der Ordnung und sozialen Sicherheit. Nanjie ist ihre letzte Hoffnung. Doch das Paradies geht unter.

Die Geschichte begann vor 23 Jahren. Nanjie war arm, ein gewöhnliches Bauerndorf in der zentralchinesischen Provinz Henan, wo das Land flach und grün ist.

In China herrschte Aufbruchsstimmung. Deng Xiaoping öffnete die Wirtschaft, gab den Bauern das Land zurück. Doch in Nanjie funktionierten die Reformen nicht. Immer mehr Bauern verließen ihre Felder, um in den Städten nach Arbeit zu suchen. Die Ernte wurde schlechter. Da beschloss Nanjie, den Rückwärtsgang einzulegen.

Der Geruchssinn der Schweine

Es war Wangs Idee. Wang, geboren 1951, wuchs auf in einer Lehmhütte neben den Feldern. Als er ein Junge war, reichte die Ernte oft gerade für zehn Monate im Jahr. Zwei Monate hungerten die Menschen. Nach der Schule rannte er hinter den Schweineherden über die Matschfelder. Wenn die Tiere begannen, mit ihren Stummelnasen im Dreck zu scharren, schubste Wang sie beiseite und grub mit seinen Händen die Erde um. Er hoffte, dass die Schweine mit ihrem feinen Geruchssinn vielleicht eine Süßkartoffel entdeckt hatten. So überlebte Wang.

Vor dem Mittagessen inspiziert er die Fabriken. Er schreitet über das Gelände der Druckerei, seine schwarz glänzenden Lederschuhe wirbeln kleine Staubwolken auf.

Die Geschäfte laufen gut

Die Geschäfte würden gut laufen, berichtet ein Manager während des Rundgangs. Am Rand des Geländes wird gerade eine neue Fabrikhalle gebaut, es dröhnen Maschinen. Das Stahlgerippe steht bereits, in zwei Wochen sollen Wände und Türen eingesetzt werden.

Wang ist zufrieden. 1981 gründete er eine Ziegelei, die erste Fabrik des Dorfes. Heute ist er Chef eines Wirtschaftsimperiums aus 26 Staatsbetrieben, darunter auch eine Arzneimittelfirma und eine Instantnudelfabrik, die im ganzen Land bekannt ist.

Durch die Stadt laufen gitterförmig gerade Straßen, vorbei an rechtwinkligen Häusern mit gekachelten Fassaden und großflächigen Propagandaplakaten. Es sieht aus, als sei das ganze Dorf mit einem großen Lineal geplant worden.

Frauengruppen üben Fächertanz

In der Nacht hatte es geregnet, milchiger Dunst zieht am Morgen durch das Dorf, die feuchten Gebäude und Straßen sehen aus wie frisch lackiert. Am Dorfplatz neben dem Stadttor treffen sich die Alten zur Gymnastik. Frauengruppen üben Fächertanz. Etwas abseits steht ein älterer Herr mit blauer Arbeitermütze und schreit aus voller Lunge ein Gedicht in den Himmel.

Für einen Moment wird die Seele des Dorfes Nanjie sichtbar: einfache Menschen, die Bauern waren und den Hunger fürchteten. Seit der Parteisekretär den Kommunismus zurückgeholt hat, geht es Nanjie zum ersten Mal gut. Warum sollten sie sich beklagen?

Überlaute Marschmusik

Ein Brummton dröhnt über den Platz. Die Sonne schickt gerade ihre ersten Strahlen über das Dach des Schulgebäudes, es ist 6.15 Uhr, überlaute Marschmusik. An den Bäumen und Straßenlaternen von Nanjie hängen Lautsprecher, mehrmals am Tag dröhnen Fanfaren und Verlautbarungen auf die Menschen herab. Der Tag beginnt.

Die Lehmhütten aus Wangs Jugend sind verschwunden. Heute wohnen die Menschen in 26 Plattenbauten am Ende der Straße ,,800 Meter Glücklichkeit''.

Vor einer Wohnung im Erdgeschoss eines Gebäudes beugt sich ein älterer Herr über ein Fahrrad und wechselt einen Schlauch aus. Eine Frau schaut ihm zu. Er helfe den Nachbarn oft, wenn sie Probleme mit ihren Fahrrädern haben, sagt der Mann. ,,Ich mache das gerne und verlange kein Geld, schließlich ist in Nanjie jede private Arbeit verboten'', sagt er.

Dorfsender

Er lacht. ,,Ich heiße übrigens Zhou Jinchang.'' Man kann sehen, dass er gerne hier wohnt. In der Wohnung läuft der Fernseher. Der Dorfsender überträgt eine Diskussionsrunde.

Die Gesprächsteilnehmer tragen Militäruniformen. Zhou arbeitet als Hausmeister einer Wohnanlage und verdient 220 Yuan im Monat, umgerechnet etwa 22 Euro. Das Einheitsgehalt in Nanjie ist niedrig. Doch Zhou sagt, das Geld reiche für alle seine Bedürfnisse. Farbfernseher, Klimaanlage, eine Wanduhr, eine Sitzecke, Esstisch, selbst die Mao-Statue für den Couchtisch gab es kostenlos von der Regierung.

Niemand konnte sich in Nanjie früher einen solchen Luxus leisten. ,,Sogar das Telefon ist umsonst'', sagt Zhou. ,,Allerdings funktioniert es nur im Ort. Die Regierung fürchtet, dass wir nach draußen telefonieren.''

Er sagt ,,draußen'', als spreche er von einer anderen Welt. Ob er dies nicht als Einschränkung empfinde? ,,Nein'', sagt Zhou. ,,Wer will schon Ferngespräche führen?'' So denkt in China heute nur noch die Rentnergeneration.

Funktionärsbankett

In einem flachen Zweckbau am Ortseingang befindet sich das Restaurant für die Funktionäre der Kommunistischen Partei. Man speist in Separees. Die Teilnehmer des Banketts prosten mit kleinen Schnapsgläsern über den Tisch.

Als die uniformierte Kellnerin irgendwann die dritte Flasche öffnet, sagt Wang: ,,Wenn ich Präsident von China wäre, würde ich als erstes den Privatbesitz wieder abschaffen. Mein Dorf hat bewiesen, dass es der richtige Weg ist.''

Immer größenwahnsinniger

Die Gäste schweigen betreten. Mit den Jahren wurden die Ideen des Parteisekretärs immer größenwahnsinniger. Er plante ein gigantisches Stahlwerk. Experten von außerhalb konnten ihm dem Plan gerade noch ausreden. Er investierte Millionen in die Erfindung eines Perpetuum mobile - und scheiterte. Hinter der Parteizentrale ließ er ein Hochhaus für talentierte Forscher von außerhalb bauen. Das Gebäude steht seit Jahren leer.

Es hat lange gedauert, bis den Chinesen klar wurde, dass etwas in Nanjie nicht stimmen kann. ,,Die Fabriken sind ineffizient und haben die Modernisierung verpasst'', schrieb ein staatlicher Inspekteur an die Regierung und löste eine Diskussion über das Modelldorf aus.

Milliardenkredite

Langsam setzt sich in China die Erkenntnis durch, dass es auch in Nanjie kein kommunistisches Wirtschaftswunder gegeben hat. Wang sagt, seine Staatsbetriebe hätten vergangenes Jahr 56 Millionen Yuan Gewinn erwirtschaftet. Doch der Dorfbuchhalter spricht nur von 25 Millionen und erwähnt auch die Kredite über 1,6 Milliarden Yuan, die Nanjie binnen zehn Jahren aufnehmen musste. Zurückgezahlt ist davon noch nichts.

Nanjies vermeintlicher Wohlstand ist auf Pump finanziert. Wenn die Banken ihre Kredite zurückfordern, droht dem Dorf der Zusammenbruch. 4000 Arbeiter musste Wang bereits entlassen. Doch einen Plan für die Zukunft hat er nicht.

Klagen der Einwohner

Auch viele Einwohner beklagen sich inzwischen. Li Xiaorui, die einmal Empfangsdame des Dorfhotels war, wohnt nun in einer Bauerngemeinde auf der anderen Seite der Bundesstraße 107.

Sie mochte ihre Arbeit, und ihr Vorgesetzter lobte ihren Fleiß. Doch weil sie in der Freizeit gerne ins Nachbardorf fuhr, um im Internet zu surfen, verlor sie ihren Job. In Nanjie ist das Internet verboten. Die Partei stemmt sich mit aller Kraft gegen die ,,schädlichen Einflüsse'' der Außenwelt. Doch die dringen durch alle Öffnungen ins Dorf.

,,Nur durch den Kampf, können wir die Übel ausrotten'', sagt Wang. Er kann nicht zugeben, dass Nanjie gescheitert ist, der gute Kommunismus, das Modelldorf, sein Dorf.

Es wäre das symbolische Ende

Es wäre das symbolische Ende des chinesischen Kommunismus. Viele Jugendliche haben Nanjie bereits verlassen. Seit auch die Nachbardörfer boomen, hat der Kommunismus an Überzeugungskraft eingebüßt.

Irgendwann werden auch die letzten Einwohner die nummerierten Wohnblöcke verlassen und auf der anderen Seite der Stadtmauer ein neues Glück suchen. Und Wang wird alleine an seinem Schreibtisch der Parteizentrale sitzen, ringsherum Stille. Vielleicht wird er dann die Lautsprecheranlage anschalten: Marschmusik, ganz laut, im ganzen Dorf.

© SZ vom 10.03.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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